Transkript
STUDIE REFERIERT
Blutdruckziele bei Diabetes nicht zu ehrgeizig wählen
Systematischer Review und Metaanalyse
Diabetiker haben ein hohes kardiovaskuläres Risiko. Die Bekämpfung der weiteren Risikofaktoren, etwa eines erhöhten Blutdrucks, erscheint bei ihnen als besonders lohnend. Wie weit soll man bei der antihypertensiven Therapie gehen?
ARCHIVES OF INTERNAL MEDICINE
Im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung haben Typ-2-Diabetikerinnen und -Diabetiker ein 2- bis 4-fach erhöhtes Risiko für kardiovaskuläre Erkrankungen. Eine Hypertonie ist der wichtigste und therapeutisch beeinflussbare Risikofaktor bei Zuckerkranken, Schätzungen gehen von einem Anteil der Hypertonie am Herzkreislaufrisiko von 35 bis 75 Prozent aus. Richtlinien diesseits und jenseits des Atlantiks haben in den letzten Jahren für Diabetiker strengere Zielblutdruck-
Merksätze
❖ Ein systematischer Review fand nur wenige Studien zum prospektiven, randomisierten Vergleich intensiver BD-Ziele (≤ 130/80 mmHg) mit Standard-BD-Zielen bei antihypertensiv behandelten Typ-2-Diabetikern.
❖ Eine Therapie mit intensiven BD-Zielen führt zwar zu einer geringen zusätzlichen Senkung des Strokerisikos, vermag aber weder die Mortalität noch die Herzinfarkthäufigkeit zu senken und geht mit signifikant höheren Nebenwirkungen einher.
❖ Die speziell tiefen BD-Ziele für Typ-2-Diabetiker sollten daher überdacht werden.
werte empfohlen als für «gewöhnliche» Hypertoniker. So seien Werte von 130/80 mmHg oder darunter anzustreben. Als Standard-BD-Ziele gelten demgegenüber 140–160 mmHg systolisch und 85–100 mgHg diastolisch. Allerdings beruht diese Empfehlung weitgehend auf Daten aus Beobachtungsstudien. Das diastolische BD-Ziel ≤ 80 mmHg stützt sich auf eine Subgruppenanalyse bei Diabetikern innerhalb einer Studie zu diastolischen BD-Zielen. Die Ergebnisse des Blutdruckarms der ACCORD-Studie (ACCORD-BP) setzten jedoch ein Fragezeichen hinter allzu ehrgeizige Behandlungsziele beim Blutdruck diabetischer Patienten, denn sie fand nach intensiver BD-Senkung keinen signifikanten Unterschied in der kardiovaskulären Morbidität und Mortalität, aber wesentlich häufigere Therapienebenwirkungen. Das Risiko für Stroke, ein sekundärer Endpunkt, wurde hingegen signifikant gesenkt. Um das ehrgeizige Ziel einer BD-Senkung auf 130/80 mmHg oder tiefer zu erreichen, bedarf es oft einer Therapie mit 3 oder mehr Antihypertensiva und engmaschigerer Kontrollen. Dieser Aufwand sollte nur erfolgen, wenn einwandfrei feststeht, dass klinische Outcomes zu vernünftigen Kosten günstig beeinflusst werden.
Methodik Die Studienautoren suchten für ihren Review systematisch in den gängigen Quellen und berücksichtigten nur randomisierte kontrollierte Studien mit Diabetikern als primäre Behandlungsgruppe oder -untergruppe und mit Therapievergleichen zur Erreichung vorgegebener BD-Ziele sowie Angaben zu mindestens einem harten klinischen Endpunkt (Mortalität, Myokardinfarkt, Stroke) (1).
Resultate Die Autoren fanden 5 prospektive randomisierte Studien an 7312 Patientinnen und Patienten mit Typ-2-Diabetes. Intensive BD-Ziele waren weder mit einer signifikanten Abnahme des Mortalitätsrisikos (relative Risikodifferenz 0,76; 95%-Konfidenzintervall [KI] 0,55– 1,05) noch des Risikos für Myokardinfarkte (relative Risikodifferenz 0,93; 95%-KI 0,80–1,08) assoziiert. Eine Therapie mit intensiven BD-Zielen zeigt jedoch eine Assoziation mit einem tieferen Risiko für Stroke (relatives Risiko 0,65; 95%-KI 0,48–0,86). Die gepoolte Analyse der Risikodifferenzen ergab für den Einsatz intensiver BD-Zielwerte eine kleine absolute Abnahme des Hirnschlagrisikos (absolute Risikodifferenz −0,01; 95%-KI −0,02 bis −0,00), aber ebenfalls keinen signifikanten Unterschied beim Mortalitäts- oder Myokardinfarktrisiko. Nur die ACCORD-Studie rapportierte Details zu den Nebenwirkungen beim Vergleich von Patientengruppen mit intensiven gegenüber Standard-BD-Zielen. Die intensiv behandelte Gruppe hatte signifikant höhere Raten (3,3% vs. 1,7%, p < 0,001) schwerwiegender Nebenwirkungen, die lebensbedrohlich waren, bleibende Schäden zurückliessen oder eine Hospitalisation erforderten. Gewichtige Nebenwirkungen beruhten auf Hypotonien, Bradykardien und Hyperkaliämien. Unter den intensiv behandelten Patienten waren Hypokaliämien, Anstiege des SerumKreatinins sowie stark reduzierte glomeruläre Filtrationsraten signifikant häufiger. Diskussion «Unsere systematische Übersicht fand wenige, heterogene Studien, welche den Effekt intensiver BD-Ziele bei Patienten mit Typ-2-Diabetikern untersuchten. Im Vergleich zu einer Behandlung mit Standard-BD-Zielen beobachteten wir mit intensiven BD-Zielen keine signifikante Reduktion bei Mortalität und Myokardinfarkten. Wir fanden, dass die intensive BD-Kontrolle mit einem reduzierten Risiko für Stroke assoziiert war», resümieren die kanadischen Autoren ihre Ergebnisse. Dies stehe in Kontrast zu Vergleichen von Standard-BD-Zielen mit historischen (also ebenfalls weniger strengen) ARS MEDICI 21 ■ 2012 1167 STUDIE REFERIERT antihypertensiven Therapien, die durchwegs signifikante Risikoreduktionen sowohl bei Mortalität, Myokardinfarkten als auch Stroke ergeben hatten. Selbst der Vergleich der Risikodifferenzen für Stroke zwischen standard- und intensiven BD-Zielen in der vorliegenden Metaanalyse ergab einen gegenüber dem Vergleich der Standard-BDZiele mit historischer Therapie 4-fach geringeren absoluten Nutzen. Zudem überschritt das Prädiktionsintervall für alle Outcomes, also auch für Stroke, den Nullwert, woraus die Autoren schliessen, dass eine Durchsetzung intensiver BD-Ziele für gewisse Patientengruppen nicht nur keinen Nutzen bringen, sondern sogar schädlich sein kann. Der inkrementelle Nutzen ehrgeiziger BD-Ziele ist «ungewiss», wie die Autoren schreiben, und er könnte sich auf eine kleine absolute Risikoreduktion hinsichtlich Stroke beschränken. Die hier vorgestellte überwiegend negative Einschätzung der besonders tiefen BDZiele für Typ-2-Diabetiker sollte auch Eingang finden in die Neuformulierung derzeitiger Guidelines. Revision der Guidelines absehbar In einem «invited commentary» versuchen Pantelis A. Sarafidis (Aristotle University, Thessaloniki) und George L. Bakris (University of Chicago) den derzeitigen Kenntnisstand zu den BDZielen bei Typ-2-Diabetes zusammenzufassen (2). Sie erinnern daran, dass während der letzten gut 15 Jahre alle grossen Guidelines für Typ-2-Diabetiker ein BD-Ziel ≤ 130/80 mmHg forderten, diese Empfehlung aber auschliesslich auf den Ergebnissen retrospektiver Analysen klinischer Studien beruhte. Die erste prospektive Studie war UKPDS 38 (publiziert 1998), in welcher die zu einer rigoroseren BD-Kontrolle randomisierte Gruppe einen mittleren BD von 144/82 mmHg erreichte und im Vergleich zu Typ-2-Diabetikern unter antihypertensiver Standardbehandlung signifikant weniger diabetesbezügliche Todesfälle und Komplikationen aufwies. Mit ≤ 120 mmHg noch ehrgeiziger war das systolische BD-Ziel in der randomisierten ACCORD-BP-Studie bei 4733 Typ-2-Diabetikern mit hohem kardiovaskulärem Risiko. Nach 4,7 Jah- ren ergaben sich zwischen den Randomisierungsgruppen bei den primären Outcomes nicht tödlicher Stroke, nichttödlicher Herzinfarkt, kardiovaskuläre Mortalität sowie Gesamtmortalität keine Unterschiede. Das tiefere BD-Ziel war zwar mit weniger Schlaganfällen, aber auch mit mehr schweren Therapienebenwirkungen assoziiert. Die ACCORD-BP-Studie kam somit zum Schluss, das ein rigoroseres systolisches BD-Ziel von 120 mmHg gegenüber 140 mmHg keinen besseren kardiovaskulären Schutz bietet. Welches das optimale BD-Ziel bei Diabetikern ist, blieb aber offen. Retrospektive Analysen von Behandlungsstudien fanden eine J-förmige Kurve für Blutdruck und Myokardinfarktreduktion, aber eine lineare Beziehung zwischen Blutdruck und Strokereduktion. Eine Subgruppenanalyse der INVESTStudie sah günstigere Outcomes bei systolischem BD ≤ 130 mmHg gegenüber 130 bis 139mmHg, aber einen Trend zur Erhöhung des kardiovaskulären Risikos bei systolischen BD-Werten ≤ 115 mmHg. Die ADVANCE-Studie, welche jedoch primär nicht verschiedene BD-Ziele, sondern eine antihypertensive Kombinationstherapie mit Plazebo verglich, ergab in einer Post-hocAnalyse, dass Patienten mit tieferen BD-Werten bis ≤ 130 mmHg weniger kardiovaskuläre Ereignisse erlitten. Im Vergleich zur vorliegenden hatte eine frühere Metaanalyse weniger enge Einschlusskriterien gehabt und daher 13 randomisierte Studien mit 37 736 Patienten mit Typ-2-Diabetes oder gestörter Glukosetoleranz berücksichtigt. Ihre Ergebnisse liessen auf eine kontinuierliche Risikoreduktion für Stroke hinab bis zu systolischen BD-Werten ≤ 120 mmHg, aber auf keinen gesamthaften kardiovaskulären Risikovorteil ≤ 130 mmHg schliessen. Die hier besprochene neue Studie ist von besonderer Qualität, hat aber auch Schwächen. Dazu zählt, dass wegen der strengen Einschlusskriterien nur gerade 5 Studien berücksichtigt wurden und dass eine einzige Studie (ACCORD-BP) rund zwei Drittel der Metaanalysenpopulation beisteuert. Zudem waren in ACCORD-BP mit 134/70 mmHg auch im weniger intensiv behandelten Standardtherapiearm schon sehr tiefe Werte erzielt worden. Die vorliegende Untersuchung stützt, zusammen mit vorangegangenen Studien, die Forderung nach tieferen, aggressiveren BD-Zielen zur kardiovaskulären Risikoreduktion also nicht. Es ist zu erwarten, dass neue respektive überarbeitete Guidelines künftig bei Patienten mit Diabetes ein BD-Ziel von unter 140/90 mmHg empfehlen werden. Ärztinnen und Ärzte sollten dies auch mit ihren Patienten besprechen. ❖ Halid Bas 1. McBrien Kerry et al.: Intensive and standard blood pressure targets in patients with type 2 diabetes mellitus. Systematic review and meta-analysis. Arch Intern Med. Published online August 6, 2012. doi:10.1001/archinternmed.2012.3147 2. Sarafidis Pantelis A., Bakris George L.: Use of a single target blood pressure level in type 2 diabetes mellitus for all cardiovascular risk reduction. Arch Intern Med 2012; 172 (No. 17): 1304–1305. Interessenkonflikte: Für die Studie keine. Die Autoren des Kommentars deklarieren Beziehungen zu mehreren Pharmafirmen mit Interessen auf dem Gebiet der antihypertensiven Therapie. 1168 ARS MEDICI 21 ■ 2012