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FORTBILDUNG
Akute bakterielle Sinusitis bei Kindern
Erregerspektrum und Resistenzlage berücksichtigen!
Einer akuten bakteriellen Sinusitis im Kindesalter geht meist ein Virusinfekt der oberen Atemwege voraus. Der Einsatz von Antibiotika wird kontrovers diskutiert, doch stützen die vorliegenden Studienergebnisse im Allgemeinen eine entsprechende Behandlung.
NEW ENGLAND JOURNAL OF MEDICINE
Virale Infekte der oberen Atemwege sind bei Kindern sehr häufig, und in 6 bis 8 Prozent der Fälle entwickelt sich auf der Basis einer solchen Virusinfektion eine akute bakterielle Sinusitis. Kinder, die eine Kindertagesstätte oder eine ähnliche Einrichtung besuchen, erkranken nach einem Atemwegsinfekt doppelt so häufig an einer Sinusitis wie Kinder, die keine entsprechende Einrichtung besuchen. Die akute bakterielle Sinusitis im Kindesalter kann sich auf verschiedene Weise manifestieren. Meist stellen sich die betroffenen Patienten mit Symptomen eines oberen Atemwegsinfekts (verlegte Nasenatmung/Schnupfen, Husten oder beides) vor, die seit mehr als 10 Tagen persistieren, ohne abzuklingen. Das Nasensekret kann dünn- oder dickflüssig, klar, schleimig oder eitrig sein. Der Husten kann trocken oder produktiv sein; er tritt tagsüber auf und ist häufig nachts verstärkt. Da ein unkomplizierter Virusinfekt der oberen Atemwege im Allgemeinen innerhalb von 10 Tagen abklingt, muss die Persistenz der Symptome bei dieser Manifestationsform den Verdacht auf eine akute bakterielle Sinusitis lenken.
Merksätze
❖ Haemophilus influenzae wird heute häufiger, Streptococcus pneumoniae dagegen seltener als Auslöser einer akuten bakteriellen Sinusitis bei Kindern beobachtet.
❖ In vielen geographischen Regionen werden vermehrt betalaktamasebildende H.-influenzae-Stämme gefunden.
❖ Obwohl Studien zu unterschiedlichen Ergebnissen kamen, stützen die Befunde im Allgemeinen eine antibiotische Behandlung.
❖ Amoxicillin-Clavulansäure gilt als Erstlinientherapie der Sinusitis bei Kindern.
Bei der körperlichen Untersuchung erscheint das Kind oft nicht schwer krank. Es hat – wenn überhaupt – nur leichtes Fieber. Die Nasenschleimhaut ist gerötet, und an den Nasenmuscheln kann Sekret sichtbar sein. Die zweite Manifestationsform der akuten bakteriellen Sinusitis ist durch schwere Symptome zu Beginn der Erkrankung gekennzeichnet. Die Kinder weisen hohe Temperaturen (38,5 °C oder mehr) auf, die über mindestens 3 bis 4 Tage anhalten – also länger als 1 bis 2 Tage, wie es bei Virusinfekten der oberen Atemwege typisch ist. Das Fieber wird von eitrigem Schnupfen begleitet. Typisch für die dritte Manifestationsform ist ein biphasischer Verlauf: Nach anfänglicher Besserung kommt es etwa eine Woche nach Beginn der Erkrankung erneut zu Fieber, der Schnupfen nimmt zu, und das Kind hustet tagsüber.
Pathogenese der Sinusitis An der Pathogenese der Sinusitis sind 3 Komponenten beteiligt: ❖ Obstruktion der Nebenhöhlenostien ❖ verminderte mukoziliäre Clearance ❖ Entwicklung visköser Sekrete.
Da die Schleimhaut der Nebenhöhlen direkt in die Schleimhaut der Nasenhöhle übergeht, kommt es während eines Virusinfekts der oberen Atemwege häufig auch zu einer Entzündung der Sinusschleimhaut. Bei den meisten Patienten bildet sich diese Entzündungsreaktion spontan zurück, doch gelegentlich kommt es zu einer Obstruktion der Sinusostien, zu zähflüssigen Sekreten oder zu einer Störung des mukoziliären Apparats, was optimale Bedingungen für ein Bakterienwachstum schafft.
Mögliche Komplikationen Aufgrund der anatomischen Nähe zwischen Nasennebenhöhlen und Gehirn beziehungsweise Orbita kann es in seltenen Fällen zu ernsten Komplikationen kommen. Zu den extrakraniellen Komplikationen zählen unter anderem Orbitalabszess, entzündliches periorbitales Ödem und Subperiostalabszess, an intrakraniellen Komplikationen werden Meningitis, Sinusvenenthrombosen, subdurales Empyem sowie epidurale oder Hirnabszesse beobachtet.
Diagnostik Die akute bakterielle Sinusitis bei Kindern wird mithilfe der Anamnese und der in der Tabelle aufgelisteten Kriterien diagnostiziert. Bildgebende Verfahren (Röntgen, Computer-
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Tabelle:
Klinische Kriterien für die Diagnose einer akuten bakteriellen Sinusitis
Persistierende Symptome ❖ verlegte Nasenatmung, Rhinorrhö oder Husten ❖ Dauer ≥ 10 Tage ohne Besserung der Symptomatik
Schwere Symptome ❖ Temperatur ≥ 38,5 °C über 3–4 Tage ❖ Eitrige Rhinorrhö über 3–4 Tage
Symptomverschlechterung ❖ nach anfänglicher Besserung erneutes Auftreten von Symptomen ❖ neu aufgetretenes oder rezidivierendes Fieber, Zunahme der
Rhinorrhö oder Zunahme des Hustens
men und Moraxella catarrhalis (je etwa 20%). Andere Erreger wurden deutlich seltener nachgewiesen (Streptokokken der Gruppe A und C, Eikenella corrodens etc.). Aktuelle Studien, in denen Sinusaspirate mikrobiologisch untersucht wurden, liegen nicht vor. Doch ist aus Studien zur Otitis media bekannt, dass S. pneumoniae als Erreger der Otitis media an Bedeutung verloren hat, was auf die Einführung des 7-valenten und des 13-valenten PneumokokkenKonjugatimpfstoffs zurückgeführt wird. Dagegen haben nichttypisierbare H.-influenzae-Stämme als Erreger der Otitis media an Bedeutung gewonnen, und die Autoren gehen davon aus, dass sich das Erregerspektrum der akuten bakteriellen Sinusitis in ähnlicher Weise verschoben hat. Für die Wahl des geeigneten Antibiotikums muss darüber hinaus auch das Resistenzmuster der verursachenden Erreger bekannt sein. Es verändert sich im Lauf der Zeit und weist zudem regionale Unterschiede auf.
tomografie [CT], Magnetresonanztomografie [MRT] und Ultraschall) zeigen Zeichen einer Nebenhöhlenentzündung, werden aber bei Patienten mit unkomplizierter Infektion aufgrund ihrer geringen Spezifität nicht empfohlen. Anhand bildgebender Verfahren kann nicht zwischen einer viralen und einer bakteriellen Entzündung unterschieden werden. Eine CT- oder MRT-Untersuchung ist jedoch bei Patienten mit Symptomen einer komplizierten Sinusitis gerechtfertigt (z.B. bei starken Kopfschmerzen, Krampfanfällen, fokalen neurologischen Ausfällen oder periorbitalem Ödem).
Antibiotische Therapie: uneinheitliche Studienergebnisse Die Rolle der Antibiose bei der akuten bakteriellen Sinusitis wird kontrovers diskutiert. Von 4 randomisierten, plazebokontrollierten Studien, in denen Kinder mit Sinusitis antibiotisch behandelt wurden, ergaben zwei keinen Nutzen der antibiotischen Therapie. Jedoch weisen diese beiden negativen Studien methodische Mängel auf – beispielsweise erhielten die Patienten in einer dieser Studien subtherapeutische Dosen Cefuroximaxetil, und die meisten Patienten wiesen eine Symptomdauer von weniger als 10 Tagen auf. In der anderen Studie hatten viele Kinder Allergien oder Asthma bronchiale, was möglicherweise dazu führte, dass die Diagnose nicht immer korrekt gestellt werden konnte und das Ansprechen auf die Therapie beeinträchtigt war. Zudem reichten die applizierten Dosen an Amoxicillin und Amoxicillin-Clavulansäure eventuell für eine Eradikation von Streptococcus pneumoniae nicht aus. Die beiden Studien mit positiven Resultaten verglichen Amoxicillin-Clavulansäure beziehungsweise Amoxicillin mit Plazebo. In diesen Studien wurde gezeigt, dass die antibiotische Behandlung die Krankheitsdauer verkürzen und die Heilungsraten erhöhen kann.
Wahl des Antibiotikums Um das für die Behandlung der Sinusitis am besten geeignete Antibiotikum auswählen zu können, muss bekannt sein, welche Erreger die Erkrankung wahrscheinlich verursacht haben und welches Resistenzmuster sie aufweisen. Vor rund 30 Jahren konnte aus Kieferhöhlenaspiraten von Kindern mit Sinusitis am häufigsten S. pneumoniae isoliert werden (40%), gefolgt von nichttypisierbaren Haemophilus-influenzae-Stäm-
Amoxicillin-Clavulansäure zur First-line-Therapie Amoxicillin-Clavulansäure, die typischerweise in einer Tagesdosis von 90 mg pro kg Körpergewicht verabreicht wird, sollte bei der akuten bakteriellen Sinusitis als Erstlinientherapie angesehen werden. Sie deckt das für die Sinusitis verantwortliche Bakterienspektrum am besten ab und ist insbesondere auch gegen betalaktamasebildende H.-influenzaeStämme wirksam, die in vielen Regionen deutlich zunehmen. Alternativ kann eine Amoxicillin-Monotherapie erfolgen, doch sollte es in Tagesdosen von 90 mg pro kg Körpergewicht verabreicht werden, wenn penicillinunempfindliche Infektionen in der Region endemisch sind und die Resistenzraten bei Kindern mit erhöhtem Risiko für resistente Pneumokokken (Alter unter 2 Jahren, Besuch einer Kindertagesstätte, antibiotische Behandlung im vergangenen Monat) bei 10 Prozent oder höher liegen. Andere Antibiotika wurden in der Behandlung der akuten bakteriellen Sinusitis bei Kindern nicht systematisch untersucht, sie werden jedoch als Alternativen zu den oben beschriebenen Optionen eingesetzt. Cephalosporine wie Cefuroximaxetil, Cefpodoxim oder Cefdinir können verwendet werden, doch decken sie im Vergleich zu Amoxicillin-Clavulansäure ein weniger breites Keimspektrum ab. Azithromycin und Clarithromycin werden aufgrund der hohen Resistenzraten von S.-pneumoniae- und H.-influenzaeIsolaten für die Therapie der Sinusitis nicht mehr empfohlen. Für Patienten, die – was selten vorkommt – sowohl gegen Penicilline als auch gegen Cephalosporine eine schwere Allergie aufweisen, kann Levofloxacin in Betracht kommen, doch wurde es von der Food and Drug Administration (FDA) für die Indikation «akute Sinusitis» bei Kindern nicht zugelassen. Levofloxacin ist das einzige Atemwegs-Fluorchinolon, das in flüssiger Formulierung verfügbar ist. Versagt die Therapie mit Amoxicillin-Clavulansäure, kann entweder Levofloxacin oder eine Kombination aus Clindamycin plus Cefixim oder Linezolid gegeben werden.
Behandlungsdauer Studien, in denen die verschiedenen Antibiotika hinsichtlich ihrer Wirksamkeit bei der akuten bakteriellen Sinusitis im Kindesalter verglichen wurden, liegen nicht vor. Auch zur optimalen Behandlungsdauer gibt es keine Studiendaten. Leit-
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linien der Fachgesellschaften empfehlen eine Behandlungsdauer von 10 bis 14 Tagen oder bis zur Symptomfreiheit plus weitere 7 Tage.
Symptomatische Therapie Es liegen nur wenige randomisierte Studien zur symptomatischen Therapie der Sinusitis vor. So gibt es keine Evidenz dafür, dass Kochsalzspülungen oder -sprays zu einer wesentlichen Symptomlinderung führen. Intranasale Glukokortikoide führen nur zu einer leichten Symptomlinderung, sodass ihr routinemässiger Einsatz nicht empfohlen werden kann. Für Antihistaminika und Antikongestiva konnte kein Nutzen hinsichtlich einer Symptomlinderung bei der kindlichen Sinusitis gezeigt werden; diese Wirkstoffe können jedoch zu klinisch signifikanten Nebenwirkungen führen.
Was empfehlen die Leitlinien? Die Infectious Diseases Society of America (IDSA) hat vor kurzem Empfehlungen zum Management der akuten bakteriellen Sinusitis bei Kindern und Erwachsenen publiziert. Diese Leitlinie empfiehlt, rasch eine Behandlung einzuleiten, wenn das klinische Bild des erkrankten Kindes für eine akute bakterielle Sinusitis spricht (s. Tabelle). Als Erstlinientherapie wird eine hochdosierte Gabe von Amoxicillin-Clavulansäure (90 mg pro kg Körpergewicht pro Tag, verabreicht in 2 Dosen) für Kinder empfohlen, wenn Folgendes zutrifft:
❖ Endemiegebiet für penicillinunempfindliche S.-pneumoniae-Stämme mit Resistenzraten von 10 Prozent oder höher.
❖ Der Patient besucht eine Kindertagesstätte oder ähnliche Einrichtung.
❖ Der Patient ist unter 2 Jahre alt. ❖ Das Kind wurde im vergangenen Monat stationär oder mit
Antibiotika behandelt.
Liegen diese Risikofaktoren nicht vor, wird eine Behandlung mit der Standarddosis empfohlen (Amoxicillin-Clavulansäure 40 mg pro kg Körpergewicht pro Tag, verabreicht in 2 Dosen). Für Kinder, die auf eine frühere Penicillinbehandlung mit einer Typ-1-Allergie reagiert haben, empfiehlt die Leitlinie Levofloxacin. Sowohl für Amoxicillin-Clavulansäure als auch für Levofloxacin wird zu einer Behandlungsdauer von 10 bis 14 Tagen geraten. Wegen der hohen Resistenzraten in den USA werden weder Makrolide noch Trimethoprim-Sulfamethoxazol empfohlen.
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Andrea Wülker
Quelle: Gregory DeMuri et al.: Acute bacterial sinusitis in children. N Engl J Med 2012; 367: 1128–1134.
Interessenkonflikte: keine
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