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BERICHT
Reifezeugnis für die Retroviruskonferenz
Der CROI – auch im 19. Jahr am Puls der HIV-Forschung
Conference on Retroviruses and Opportunistic Infections (CROI) Seattle, USA, 5. bis 8. März 2012
Am diesjährigen CROI wurde einmal mehr deutlich, welche Fortschritte die HIV-Medizin in den vergangenen zwei Dekaden gemacht hat. So wurden opportunistische Infektionen nur noch am Rande erwähnt. Doch das Virus ist noch nicht besiegt.
PIETRO VERNAZZA
HIV-infizierte Personen können sich heute sehr effektiv behandeln lassen – sie müssen dies aber auch ein Leben lang tun. Denn sobald man die Therapie stoppt, kommt ein neues Virus aus dem sogenannten Reservoir, den latent infizierten Memory-Zellen. Diese haben eine sehr lange Halbwertszeit und können daher noch nach jahrzehntelanger Therapie Viren freisetzen. Therapeutische Angriffe auf diese latent infizierten Zellen stehen daher heute im Zentrum einer sehr aktiven Forschung.
Neues Ziel: Heilung von HIV Die Frage ist, ob sich das Auffullen des Reservoirs durch eine frühzeitigere Therapie verhindern lässt. Eine Gruppe aus Boston untersuchte dazu acht Patienten, welche in den ersten 90 Tagen der HIV-Infektion eine Therapie begonnen und diese uber zehn Jahre fortgesetzt hatten (Abstr. 151). Inspiziert wurden die integrierte HIV-DNA sowie 2-LTR-HIV-DNA, eine Struktur, wel-
che die aktive Replikation in der Zelle nachweist. Die Resultate wurden verglichen mit denen von zehn Patienten, die während der chronischen Phase behandelt wurden, und 30 sogenannten «elite controllers» (EC), also HIV-positiven Personen, die kein HIV-Virus und stabile hohe CD4-Werte aufweisen. Es zeigte sich, dass das Reservoir bei den akut Behandelten deutlich kleiner ist als bei den chronisch Therapierten, eher vergleichbar mit dem kleinen Reservoir bei EC. Auch eine Korrelation zwischen HIV-DNA und Grösse des latent infizierten Zellpools liess sich nachweisen. Zu ähnlichen Resultaten kommt auch eine zweite Gruppe (Abstr. 152), die anhand der Daten von 27 sehr gut studierten Patienten (fruh behandelt, latent infizierter Pool gemessen) zeigen konnte, dass die Grösse des Reservoirs einerseits mit der therapiefreien Zeit und zum anderen mit der Anzahl der während dieser Zeit verfügbaren CD4Zellen korreliert (je mehr CD4 Zellen, desto mehr können infiziert werden und desto grösser der Beitrag zum latent infizierten Reservoir).
Latentes Reservoir gezielt aktivieren David Margolis hat als Erster versucht, durch Aktivierung der latent infizierten Zellen diese dazu zu bringen, ihrerseits HIV zu aktivieren, um dieses dann durch die antiretrovirale Therapie (ART) zu eliminieren. Dazu verwendete er Valproat, einen Wirkstoff, der die Histamin-Deacetylase hemmt respektive die kompakte Verpackung der DNA im Zellkern durch Histone lockert (Lancet 2005). Doch die Erfolge waren mässig. Nun hat Margolis mit Kollegen aus Chapel Hill und einer Gruppe der Firma Merck eine neue Substanz ausprobiert (Vorinostat), welche das gleiche Ziel hat, jedoch besser wirken
sollte. Tatsächlich fanden sich bei den sechs behandelten Personen eine gute Verträglichkeit des Medikaments und eine messbare Aktivierung der latent infizierten Zellen. Wenn es damit gelingt, die Entleerung des latent infizierten Pools zu beschleunigen, ohne Nebenwirkungen einzuhandeln, dann wäre dies ein interessanter Weg, um Patienten von HIV zu heilen.
Erste Erfolge zur Heilung durch Veränderung der Zielzelle Parallel werden Methoden entwickelt (sog. zinkfingervermittelte Modifikation des CCR-Rezeptors), mit denen man ex vivo die Zellen einer infizierten Person so verändern kann, dass sie CCR5, den Korezeptor, den HIV fur den Eintritt in die Zelle braucht, nicht mehr besitzen (Abstr. 155). Die Autoren fanden, dass die neuen Zellen (SB-728-T) sich deutlich vermehren, sich vor allem im Immunsystem der Darmmukosa niederlassen und sogar die HIV-DNA-Konzentration senken. Bei einem Patienten fuhrte die Infusion dazu, dass HIV-RNA auch ohne HIVTherapie nicht mehr nachweisbar war. Aus den Überlegungen zum latent infizierten Reservoir und zu möglichen Heilungsmethoden folgt, die akute HIV-Infektion möglichst früh zu entdecken und zu behandeln. Am CROI gab es zwei Poster uber einzelne Fälle, bei denen eine Therapie sehr fruh während der Primoinfektion später abgesetzt werden konnte, ohne dass das Virus wieder nachweisbar wurde (Abstr. 357 u. 358).
Neue Aspekte zur Biologie der sexuellen Übertragung von HIV HIV wird entweder als zellfreies Virus oder aber zellulär ubertragen. Welcher Weg vorgezogen wird, ist unbekannt. In seinem dem naturlichen HIV-Verlauf
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sehr ähnlichen Mausmodell hat Victor Garcia aus Chapel Hill eine vaginale Infektion mit zellassoziertem Virus gezeigt (Abstr. 565). Interessant ist in diesem Zusammenhang auch der Befund, dass die zellassoziierte Virusubertragung durch topisches Tenofovir-Gel nicht blockiert werden konnte (wohl aber die zellfreie Infektion). Dies könnte erklären, weshalb die bisherigen Daten mit vaginalen Mikrobiziden noch relativ bescheiden ausfallen. Ebenfalls in diese Richtung geht die Arbeit der Gruppe von Julie Overbaugh (Abstr. 55). Hier haben die Autoren gezeigt, dass die genitale Viruskonzentration bei Frauen nicht nur durch die Viruskonzentration im Blut, sondern auch wesentlich von inflammatorischen Prozessen (z.B. Geschlechtskrankheiten, «sexual transmitted diseases» [STD]) im Genitaltrakt beeinflusst wird. Die inflammatorischen Zytokine, gemessen im Genitaltrakt, sind sehr gut korreliert mit der lokalen Viruskonzentration in Genitalsekreten. Es ist durchaus denkbar, dass die Transmission von zellfreiem Virus vorwiegend durch die Viruslast im Blut, das Transmissionsrisiko durch zellassoziiertes Virus jedoch vorwiegend durch lokale Infektionen beziehungsweise Geschlechtskrankheiten bestimmt wird. Wenn das so wäre, hätte das Vaginalgel eine limitierte Wirkung beim Vorliegen von STDs.
Präexpositionsprophylaxe Die iPrex-Studie (Grant et al., NEJM 2010) konnte zeigen, dass die Therapie mit der Zweierkombination Tenofovor/ Emtricitabin (TDF+FTC, Truvada®) die HIV-Infektion bei Personen mit hohem Risikoverhalten wirksam verhindern kann – mindestens solange die Medikamente wirklich täglich eingenommen werden. Doch leider hat in dieser Studie, dem Flaggschiff der Präexpositionsprophylaxe (PrEP), nur etwa die Hälfte der Probanden das Medikament regelmässig eingenommen. Es besteht also noch Handlungsbedarf, wenn man die PrEP wirklich voranbringen will; neue Strategien, inklusive der topischen Anwendung von Medikamenten, sind noch zu entwickeln. Im Late-Breaker von Peter Anderson (Abstr. 31LB) wurde ausgehend von der iPrex-Studie ein intelligentes Modell entwickelt, um vorherzusagen, wie
viel Tenofovir für eine ausreichende Schutzwirkung eingenommen werden muss. Zunächst wurde über die Messung der intrazellulären TDF-Spiegel bei infizierten und nichtinfizierten Probanden (Fall-Kontroll-Design) die minimale Dosis bestimmt. Überraschend war, dass man selbst bei den Kontrollen nur in 50 Prozent der Blutkontrollen Medikamente gefunden hat. Doch bei den infizierten Fällen war diese Rate zum Zeitpunkt der Infektion und kurz davor signifikant tiefer. Die Autoren haben so eine intrazelluläre Dosis von 20 fmol/106 Zellen bestimmt; erst wenn diese Dosis unterschritten wird, kommt es zum Anstieg des sonst sehr geringen Transmissionsrisikos. Aus dem Vergleich mit Daten aus einer anderen Studie (STRAND; alle im gleichen Labor ausgewertet), in der die Patienten zwei, vier oder sieben Tabletten pro Woche eingenommen hatten, liess sich ableiten, dass eine PrEP ausreichend ist, wenn vier Tage in der Woche jeweils eine Tablette TDF + FTC eingenommen wird. In derselben Session wurden auch die Resultate der «Partners-for-Prevention»-PrEP-Studie (Abstr. 29 u. 30) präsentiert. Die Studie hatte Partner von bisher unbehandelten HIV-positiven Patienten in drei Arme (Plazebo, TDF oder TDF + FTC) randomisiert. Im Juli 2011 hat das Data and Safety Monitoring Board (DSMB) entschieden, dass der Plazeboarm nicht weitergefuhrt werden darf, da die Wirkung der PrEP dokumentiert sei. Bis Dezember 2012 werden die Partner weiterhin blind mit TDF oder TDF+FTC behandelt. Erst dann wird man sagen können, ob der Unterschied der beiden Behandlungsarme auch signifikant und wie gross der Unterschied ist. Von allen 82 Partnern, die nach der Randomisierung infiziert wurden (ein später ausgeschlosser Teil war bereits RNA-positiv, aber antikörpernegativ), waren 52 im Plazeboarm (17 TDF, 13 TDF + FTC). Diese Gruppe hat gleich auch noch die Resultate der TDF-Plasmaspiegel mitgeliefert (Abstr. 30). Auch in dieser Arbeit wurde klar gezeigt, dass das Transmissionsrisiko eindeutig von der Medikamenteneinnahme abhängig war. Die Adhärenz war mit gut 80 Prozent auch deutlich besser als die knapp 50 Prozent im iPrex-Trial. Probanden mit einer HIV-
Infektion hatten nur zu 31 Prozent nachweisbare TDF-Spiegel (83% in den Kontrollen).
Rektale Mikrobizide – ein neues Modell Einen wirklich neuen Weg ging das MTN-007-Protokoll. Hier wurde zum ersten Mal die Anwendung von rektalen Mikrobiziden untersucht (Abstr. 34LB). Es ging zwar lediglich um Verträglichkeit und Akzeptanz, aber die Ergebnisse waren sehr gut. Insgesamt wurden etwa 60 Personen eingeschlossen, davon ein Drittel Frauen. Alle hatten regelmässig rezeptiven Analverkehr und wurden blind in eine von vier Behandlungsgruppen eingeteilt. Untersucht wurde ein neues Gel (1% Tenofovir), bei dem der Glyzeridgehalt gegenuber fruheren Gels reduziert worden war. Die Optimierung des Gels (weniger Gewebstoxizität) wurde bereits am letzten CROI vorgestellt. In dieser Phase-II-Studie ging es um die Akzeptanz des Präparats und um die Nebenwirkungen auf die Schleimhaut, weshalb aufwendige Endoskopien und Biopsien durchgefuhrt und analysiert wurden. Als positive Kontrolle wurde Nonoxynol mitgefuhrt, ein Spermizid, das in fruheren Mikrobizidstudien wegen Schleimhauttoxizität versagt hatte. Tatsächlich zeigte sich nicht nur eine sehr gute Akzeptanz des neuen Gels, sondern die Substanz hatte auch keinerlei Nebenwirkungen auf die Mukosa. Interessanterweise, obwohl nicht erklärbar, zeigte das Gel bei der Analyse der Genexpressionsmuster in der Rektumbiopsie (6 cm, Tag 7) sogar eine reduzierte Aktivierung von Inflammationsmustern.
Die «Pille davor»: intermittierende PrEP – ein vernunftiger Mittelweg? Ist es fur eine HIV-negative Person sinnvoll, jeden Tag ein Medikament gegen HIV zu schlucken, wenn ein sexueller Risikokontakt nur einmal pro Woche oder seltener vorkommt? Die Pille davor wäre eine ideale Ergänzung der Präventionsstrategien. Im Tierexperiment scheint sie einigermassen zu funktionieren (Abstr. 1086): Im Makaken-SHIV-Modell wurden je sechs Tiere vaginal exponiert. Eine Applikation von TDF + FTC einen Tag vor der wöchentlichen Exposition (meist 4 bis 5 Infektionen während
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Überleben (%)
100
75
50
25
0 0
— Plazebokontrolle (n = 6)
— Intermittierend Tenofovor/Emtricitabin
(Truvada®; -24 h/+2 h, n = 6)
123 4 Menstruationszyklen
5
Abbildung 1
100% 90% 80% 70% 60% 50% 40% 30% 20% 10% 0%
88% 84%
Virologischer Erfolg
Abbildung 2
■ Quad (Elvitegravir/Cobicistat/ Emtricitabin/Tenofovir)
■ Efavirenz/Emtricitabine/Tenofovir
7% 7%
9% 5%
Virologische
Keine
Nichtunterdrückung Woche-48-Daten
eines Menstruationszyklus), kombiniert mit einer Dosis zwei Stunden danach, schutzte alle sechs Tiere vor einer Infektion (Abbildung 1). Das ist interessant, nachdem kurzlich an Tiermodellen (bestätigt beim Menschen) gezeigt worden war, dass die vaginale Konzentration von Tenofovir (im Gegensatz zur rektalen Konzentration) deutlich unter derjenigen liegt, die fur eine Wirkung zu erwarten wäre (FTCKonzentration sowohl in Rektum und Vagina hoch).
Vaginalring – das medikamentöse «Kondom fur die Frau» Eine interessante Lösung ist der Vaginalring. Er wird monatlich in die Vagina eingefuhrt und uber den Muttermund gestulpt und gibt uber die Dauer der Anwendung kleine Mengen von HIV-Medikamenten ab. Eine erste Phase-II-Studie aus Afrika hat uber die sehr gute Akzeptanz und Sicherheit eines Vaginalrings mit Dapiravine bei Frauen berichtet (Abstr. 1089). Dapiravine (TMC-120) ist ein Nonnukleosid, das nicht mehr als orales Medikament weiterentwickelt wird und damit ein ideales Mittel fur diese Anwendung darstellt. In dieser kleinen Studie wurden 280 Frauen 1:1 auf Plazebo oder Dapiravine
randomisiert. Nach zwölf Wochen fand sich keine Infektion (aber 6 Schwangerschaften) bei den Darpiravine-Behandelten und drei Infektionen im Plazeboarm. Die Substanz wird nun in zwei Phase-III-Studien weiter untersucht.
Impfung gegen HIV? Es ist zwar noch nicht so weit, dass uber eine HIV-Impfung berichtet werden könnte. Doch ein interessantes Phänomen hat die Gruppe von GarciaLerma vom CDC präsentiert (Abstr. 1087): Die Autoren haben beobachtet, dass acht von neun Makaken nach einer vaginalen Exposition unter Tenofovir zwar nicht infiziert wurden, doch dass man bei diesen Tieren eine T-ZellAntwort fand. Diese Immunantwort war anders als die T-Zell-Antwort nach einer Infektion (mehr pol-Spezifität). Interessanterweise fand sich bei Tieren mit einem (weniger fitten) TDF-resistenten Virus (K65R) keine zelluläre Immunantwort. Die Autoren haben zwar nicht gezeigt, dass diese sogenannte Chemovakzinierung die Tiere vor einer Infektion schutzt, aber die T-Zell-Antwort durfte bei solchen Experimenten mit wiederholter Exposition wesentlich sein. Das Phänomen ist auch bei serodifferenten Paaren gut bekannt. Auch hier gibt etwa ein Drittel eine T-Zell-Antwort, und diese Immunantwort ist möglicherweise fur das relativ geringe Infektionsrisiko bei serodifferenten Paaren verantwortlich. Vielversprechend sind nach wie vor topische Strategien, welche es exponierten Frauen besonders in Hochprävalenzländern erlauben wurden, sich wirksam gegen HIV zu schutzen, wenn der Partner nicht zum Kondomgebrauch zu motivieren ist.
Sind Home-Tests die Antwort? Es stellt sich die Frage, ob die HIV-Testung verbessert werden könnte, wenn Personen mit Risikoverhalten sich selbst gleich zu Hause testen könnten. Solche Tests sind verfugbar, in der Schweiz aber nicht zugelassen. Eine Arbeit aus Seattle (Abstr. 1131) hat diese Frage in einer kleinen, randomisierten Studie (Hometest vs. Standardtest) an rund 100 Männern untersucht, die Sex mit Männern (MSM) haben. Die Hälfte erhielt einen Home-Test bei Studienbeginn (Dauer 15 Monate), und ebenfalls nur die Hälfte verlangte
noch einen zweiten Test, obwohl eine Testung alle drei Monate empfohlen wurde. Die Akzeptanz war sehr gut: Die meisten wurden auch eine kleine Summe fur einen solchen Test zahlen, doch die Testhäufigkeit wurde mit höherem Preis abfallen. Keiner der Tests war positiv, und die zur Beratung eingerichtete 24-h-Hotline wurde nur (selten) zur Bestellung von neuen Tests genutzt. Selbst in dieser kleinen Studie mit Gratistests hatten die MSM den Test seltener gemacht als empfohlen. Vermutlich ist der Home-Test nicht wirklich der Durchbruch, den man sich erhofft hatte. Ein niederschwelliges Angebot durfte die Testhäufigkeit eher verbessern.
Neue HIV-Medikamente und -Kombinationen LEDGF/p75 – ein neues Therapieziel? Noch immer werden neue Therapieansätze fur HIV entdeckt und weiterentwickelt. Ein solches neues Ziel ist LEDGF/p75. Dieses Protein wird von HIV benötigt, um das Provirus (HIVDNA) mit der HIV-Integrase in das Wirtsgenom einzuschliessen. Gegen die Position, wo sich das Protein an die Integrase bindet, hat eine Gruppe aus Belgien mit Unterstutzung der Firma Pfizer) Hemmsubstanzen (LEDGIN) entwickelt (Christ et al., 2010). Die Gruppe hat nun die Charakteristika dieser neuen Substanzklasse beschrieben (Abstr. 98). In vitro sind diese LEDGIN wesentlich potenter als bisherige Integrasehemmer und zeigen auch Wirksamkeit gegen alle raltegravirresistenten Viren. Umgekehrt können die in vitro provozierten LEDGIN-Resistenzen sehr gut mit Raltegravir behandelt werden. Vielversprechend ist auch, dass die Substanzen einen klaren Synergismus zeigen.
QUAD – die neue Kombipille Eine interessante Substanz ist Cobicistat, ein neuer «Booster», der Ritonavir ersetzten durfte und keine eigene AntiHIV-Wirksamkeit zeigt. Cobicistat wird von der Firma Gilead benötigt, um ihren neuen Integrasehemmer Elvitegravir ausreichend zu dosieren. QUAD ist eine neue Single-Pill-Kombination der beiden Substanzen mit TDF/FTC, deren Registration bereits eingereicht wurde. Paul Sax präsentierte die Phase-III-Daten der ersten
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Registrationsstudie (Abstr. 101; Abbildung 2). Die zweite Studie wurde als Poster (Vergleich QUAD vs. ATV/r+TDF/ FTC, 48 Wochen) vorgestellt (Abstr. 627).
GS-7340: ein Tenofovir ohne Nephrotoxizität Wie Atripla® ist auch QUAD mit dem Problem der Nephrotoxizität behaftet. Doch fur eine Langzeittherapie ist die Verträglichkeit ganz zentral. Mit GS7340 hat Gilead ein Produkt entwickelt, welches um ein Mehrfaches potenter ist und daher selbst in kleinsten Dosen beste Wirkung zeigt, ohne die tubulären Nebenwirkungen (Abstr. 103). Vor einem Jahr wurden am CROI erste 14-Tage-Monotherapie-Daten mit dieser Substanz mit 50 und 150 mg gezeigt. Da die Wirkung so potent schien, wurde nun eine neue Dosisfindungsstudie mit 8, 25 und 40 mg (10-Tage-Monotherapie) durchgefuhrt. Hier zeigte sich, dass auch die 25- und die 40-mg-Dosis deutlich potenter ist als TDF, obwohl die Plasmaspiegel gut ein log tiefer sind als bei TDF. Auffallend sind die Daten der intrazellulären Wirkspiegel: Die 40-mg (25-mg-) Dosis erreicht 20-(7-)fach höhere Spiegel als 300 mg TDF. Diese hohe Potenz führt nicht nur zu besserer Nierenverträglichkeit, sondern die Substanz lässt sich auch viel besser in einer Kombinationspille verstecken.
Dolutegravir – ein «Me-too»-Integrasehemmer? In einer Zeit, in der praktisch alle HIV-Medikamente eine ausgezeichnete Wirksamkeit zeigen, mussen neue Substanzen vor allem in punkto Verträglichkeit überzeugen. Diesbezuglich scheinen die Integrasehemmer einen grossen Vorteil zu bieten. Kein Wunder, dass jede Firma, die im HIV-Business aktiv bleiben will, sich einen Integrasehemmer sichern muss. Das Losungswort fur die Firma GlaxoSmithKline (GSK) heisst Dolutegravir. Die Woche96-Daten einer Phase-II-Dosisfindungsstudie wurden von Hans-Jurgen Stellbrink vorgestellt (Abstr. 102LB). Dolutegravir hat ein gute «pole position», da es einmal täglich ohne Booster verabreicht werden kann und wie Raltegravir ein geringes Interaktionspotenzial hat. Beweisen muss sich die Substanz noch in Phase III, aber die
96-Wochen-Phase-II-Resultate, die hier gezeigt wurden, sind positiv (88% vs. 72% < 50 Kopien Woche 96). In dieser Dosisfindungskurve fand sich kein Unterschied in der Toxizität, sodass die höchste Dosis (50 mg) fur die Phase-IIIEntwicklung ausgewählt wurde. Wie Elvitegravir hemmt Dolutegravir die tubuläre Kreatininsekretion. Die Grunde fur Therapieabbruch waren bei Dolutegravir nicht assoziiert mit der Therapie (im Gegensatz zu EFV). Langzeiteffekte und Nebenwirkungen Inzwischen ist wohlbekannt, dass die HIV-Infektion zwar selbst die Nieren schädigen kann, aber dass auch Tenofovir einen tubulären Nierenschaden verursachen kann, zumindest bei vorbestehender Niereninsuffizienz. Am CROI wurden einige neuere Aspekte hinzugefugt. Eine japanische Gruppe hatte in einer prospektiven Studie auch gezeigt, dass das Risiko einer Niereninsuffizienz bei Patienten mit normaler Nierenfunktion und Behandlung mit Tenofovor höher war, verglichen mit denen mit Behandlung durch Abacavir (Abstr. 872). Allerdings zeigt sich, dass auch unter Abacavir die Nierenfunktion abnimmt. Dies durfte auch auf die Komedikation zuruckzufuhren sein. Denn weniger bekannt (aber nicht neu) ist die Tatsache, dass insbesondere Ritonavir-boosted-Proteasehemmer (PI/r) ebenfalls das Risiko einer Niereninsuffizienz erhöhen. Die D:A:D-Studie hat die Entwicklung von Niereninsuffizienz unter der Behandlung bei Patienten untersucht, die vor Therapiebeginn eine normale Nierenfunktion hatten (Abstr. 865). In der D:A:D-Analyse war das Risiko einer Niereninsuffizienz nicht nur bei Tenofovir erhöht, sondern auch fur PI/r (vor allem Atazanavir/r). Der Effekt ist deutlich geringer fur Atazanavir ohne Ritonavir. Lebenserwartung unter Therapie Bereits vor uber zehn Jahren hat die Schweizerische HIV-Kohortenstudie zeigen können, dass die Lebenserwartung von behandelten HIV-Positiven ohne andere Risikofaktoren (HCV, Drogenkonsum) derjenigen von Menschen mit geheilten Krebskrankheiten identisch ist. Je länger wir den Verlauf beobachten können, desto zuverlässiger werden diese Prognosen. Robert Hogg (Abstr. 137) hat nun mit den Daten der nordamerikanischen Ac- cord-Kohorte (NA-ACCORD) eine ähnliche Analyse durchgefuhrt und kommt zum gleichen Schluss wie eine kurzlich publizierte Arbeit aus Holland (van Sighem, AIDS). Danach hat ein 20-Jähriger mit einer HIV-Infektion heute eine nur geringfugig kleinere Lebenserwartung als sein Alters- genosse ohne HIV. Und doch: Heute ist dies nur mit einer dauernden Thera- pie möglich. Prävention ist also immer noch besser. ❖ Prof. Dr. med. Pietro Vernazza Chefarzt Fachbereich Infektiologie & Spitalhygiene Kantonsspital St. Gallen E-Mail: infektiologie@kssg.ch Vom Verfasser genehmigte Auszüge eines auf der Website des Fachbereichs Infektiologie & Spitalhygiene des Kantonsspitals St. Gallen (www.infekt.ch) veröffentlichten Kongressberichts Für die vom Autor zitierten Abstracts sei auf die Website des CROI 2012 (http://www.retroconference.org/) verwiesen. Interessenlage: Der Autor dankt der Firma BMS für die Unterstützung fur die Reise zum CROI. Die Erstellung des Kongressberichts erfolgte auf eigene Initiative und ist nicht Bestandteil einer Vereinbarung mit BMS. ARS MEDICI 20 ■ 2012 1067