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FORTBILDUNG
Die Laktoseintoleranz – häufig verpasst und auch oft überdiagnostiziert
Aufgrund der unspezifischen Symptomatik der Laktoseintoleranz wie Bauchschmerzen, Blähungen und Durchfallsepisoden kann sie ohne Weiteres mit anderen Magen-Darm-Erkrankungen funktioneller und organischer Art verwechselt werden. Dies ist der Grund, warum die Diagnose der Laktoseintoleranz einerseits überinterpretiert und überdiagnostiziert, andererseits auch häufig verpasst wird.
GEORGE MARX UND ANDREA MATHIS
Die Ursache der Laktoseintoleranz ist ein Laktasemangel respektive eine erniedrigte Laktaseaktivität. Laktase ist ein Enzym der Dünndarmmukosa, welches Laktose zu Glukose und Galaktose hydrolisiert. Bei verminderter Aktivität dieses Enzyms gelangt Laktose unverdaut in den Dickdarm, wo sie durch Kolonbakterien vergärt wird. Es entsteht CO2 und H2, was zu den bekannten Blähungen, Bauchschmerzen und Durchfall führt. Die meisten weissen Menschen sind laktosetolerant, die Mehrheit der erwachsenen Weltbevölkerung (Afrikaner, Ostasiaten, Indianer, Aborigines, Südeuropäer) jedoch ist weitgehend laktoseintolerant, wobei die Symptome meistens erst nach dem fünften Lebensjahr beginnen. Bei Menschen mit Laktoseintoleranz nimmt die Aktivität des Enzyms Laktase in unterschiedlichen ethnischen Gruppen zu unterschiedlichen Zeitpunkten ab. So ist in der thailändischen Bevölkerung bereits ab dem 2. Lebensjahr kaum mehr Laktaseaktivität im Intestinum nachweisbar, in unseren Breitengraden und auch in Skandinavien wird die Laktoseintoleranz jedoch erst um das 10. bis 20. Lebensjahr aktiv.
Klinische Manifestation Die Laktoseindolenz manifestiert sich durch Unverträglichkeit von Milch- und laktosehaltigen Lebensmitteln mit Bauchkrämpfen, Flatulenz und Blähungen bis zu Durchfällen und führt bei Betroffenen zu einer automatischen Einschränkung der Milchzufuhr, um diese Symptome zu vermeiden. Allerdings ist das Auftreten und Ausmass der klinischen Symptomatik sehr unterschiedlich und wahrscheinlich auch an die Besiedlung des Intestinums mit laktaseaktiven Bakterien und die oroanale Transitzeit gebunden. So ist es durchaus möglich, dass bei Patienten, wobei denen eine geringere Kolonpassagezeit vorliegt, die Symptome durch die Verstop-
fung vertuscht werden. Diese Patienten haben selten Durchfallepisoden. Das Ausmass der Laktoseintoleranz variiert sehr stark. Ein kompletter Laktasemangel ist sehr selten, in den meisten Fällen ist deshalb eine vollständige Laktoseelimination nicht unbedingt notwendig, da die Symptome dosisabhängig sind. Viele Patienten mit einem Reizdarmsyndrom (IBS) haben eine Laktoseintoleranz. Bei entsprechenden diätetischen Massnahmen verbessern sich die Symptome eindeutig.
Primäre Laktoseintoleranz Durch eine Mutation des Laktasegens beginnt die Laktaseaktivität je nach ethnischer Gruppierung zu unterschiedlichen Zeitpunkten zu sinken. Aufgrund dieser Tatsache reicht die Restlaktaseaktivität der Dünndarmzotten nicht aus, um sämtliche laktosehaltigen Produkte zu spalten. Die entsprechenden Symptome treten dann je nach Menge der Laktosebelastung auf. Die Fähigkeit zur Laktosespaltung während des ganzen Lebens ist eine erbliche, geschlechtsunabhängige, autosomal rezessive Anlage und ein single gene trait, also eine an ein einziges Gen gebundene Eigenschaft. Der Genlokus der primären adulten Laktoseintoleranz ist am Chromosom 2q21 lokalisiert.
Sekundäre Laktoseintoleranz Sie entsteht im Zusammenhang mit akuten oder chronischen Darmerkrankungen, die zur Malabsorption führen, so vor allem bei Gastroenteritiden, bei Dünndarmerkrankungen wie Zöliakie, chronisch entzündlichen Darmerkrankungen oder anderen Ursachen von Dünndarmzottenatrophien. Bei der Therapie der Primärerkrankung bildet sich die Laktoseintoleranz in den meisten Fällen nach Wiederaufbau der Enterozyten zurück.
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Pro 100 g
Milch Buttermilch, Molke Kefir Joghurt/Sauermilch Quark Rahm/Sauerrahm Weichkäse Butter Extrahart- und Hartkäse
Laktose (g)
5 3–5 4–5 4–5 3–4 3–5 Spuren Spuren Keine Laktose mehr vorhanden
Quelle: Schweizer Milchproduzenten, 2011
Kalzium (mg)
120 110 120 120 100 Spuren 500 Spuren 1000
Diagnostik Nach wie vor sind die Klinik und die anamnestischen Angaben des Patienten die Hauptpfeiler der Diagnostik. Die Patienten wissen meistens selber, dass sie Milch oder milchhaltige Produkte nur schlecht vertragen, sie reagieren mit Bauchkrämpfen und Durchfall. Falls diese Angaben nicht eindeutig zur Diagnose führen sollten, stehen weitere diagnostische Methoden zur Verfügung.
a) H2-Atemtest Bei älteren Kindern (ab Schulalter) und Erwachsenen kann man mithilfe des H2-Atemtests die Laktoseintoleranz diagnostizieren. Eine grosse Menge an Laktose in Pulverform (1 g/kg Körpergewicht bei Kindern, 50 g bei Erwachsenen oder 240 ml Vollmilch bei den Erwachsenen) werden im Nüchternzustand verabreicht. In verschiedenen Zeitabständen wird der H2-Gehalt der Ausatmungsluft gemessen. Nicht resorbierte Laktose wird durch die Enterobakterien abgebaut, wobei H2 entsteht. Eine Zunahme des H2 über 20 ppm über den Ausgangsatemwert hinaus zeigt eine Laktoseintoleranz an. Faktoren, die das Ergebnis verfälschen können, sind folgende: 1. Orale Antibiotika können H2-produzierende Bakterien
zerstören 2. Rauchen erhöht die Konzentration von H2 in der Aus-
atemluft 3. Bakterielle Dünndarmbesiedelung 4. Fehlende Nüchternheit.
b) Laktosetoleranztest Es werden oral 50 g Laktose per os verabreicht (bei Kindern 1 g/kg Körpergewicht), daraufhin wird die Blutglukose gemessen. Ein Anstieg von weniger als 1,1 mmol/l (20 mg/dl) ist stark verdächtig auf eine Laktoseintoleranz. Dieser Test ist zwar leicht durchführbar, hat aber eine beschränkte Aussagekraft wegen relativ geringer Sensitivität.
c) Histologische Bestimmung der Enzymaktivität Die Möglichkeit einer histologischen Bestimmung der Enzymaktivität einzelner Disaccharasen und beispielsweise der Laktase-Saccharase-Relation (L-S-Ratio) aus intestinalen Biopsien konnte im Routinebetrieb wegen der teuren und aufwendigen Technik praktisch nicht eingeführt werden.
d) Genotypisierung Dieser Gentest beruht auf einer Genotypisierung der obengenannten Mutation (LCT-Genotypen) und kann damit eine eindeutige Zuordnung der genetischen Disposition zu einer primären adulten Laktoseintoleranz nachweisen. Sekundäre Formen der Laktoseintoleranz werden bei der Genotypisierung naturgemäss nicht miterfasst, können aber durch Ausschlussdiagnostik ebenfalls überführt werden. Die gute Sensitivität (96%) und Spezifität (86%) der LC-Genotypisierung sollte jedoch den Kliniker nicht dazu verleiten, diesen Test allzu häufig zu benutzen. Im Vorschulalter ist dieser Test nicht angebracht, zumal in unseren Breitengraden die Laktaseaktivität in diesem Alter noch genügen sollte, um die eingenommene Laktose zu verdauen. Die genetische Disposition für eine Laktoseintoleranz sollte mit der Diagnose Laktoseintoleranz nicht verwechselt werden. Dieser Test bleibt ganz spezifischen Fragestellungen vorbehalten.
Ernährungstherapie In der ersten Phase nach der Diagnosestellung empfiehlt es sich, für etwa drei bis sechs Monate eine laktosefreie Ernährung durchzuführen. Danach kann ein langsames Steigern und Ausprobieren der Laktosemenge begonnen werden. Eine laktosearme Ernährung kann temporär oder auch eine Dauerernährung sein. Die tolerierte Menge hängt vom Schweregrad der Intoleranz ab. Erfahrungsgemäss werden zwischen 8 und 10 g Laktose, verteilt über den Tag, gut toleriert. Der Laktoseabbau ist stark abhängig von der Transitzeit im Darm. Milch- und Milchprodukte werden besser vertragen, wenn sie mit anderen Lebensmitteln zusammen eingenommen werden.
Laktose versteckt sich hinter vielen Begriffen ❖ Natürlicherweise kommt Laktose in Kuh-, Ziegen-,
Schafs- und Stutenmilch, Buttermilch, Molke, Joghurt, Quark, Frischkäse, aber auch in Weichkäse, Butter und Rahm vor. ❖ Laktose ist als Zutat versteckt in Gewürzmischungen, Süssigkeiten, Wurstwaren, Fertiggerichten und Getränken vorhanden. ❖ Laktose als Hilfsstoff wird Medikamenten, Zahnpasta oder auch homöopathischen Kügelchen beigegeben.
Milcharm gleich kalziumarm? Milch- und Milchprodukte liefern uns wichtige Nährstoffe wie Proteine, Vitamin A, D, B2 und B12 und Kalzium. Bei einer Laktoseintoleranz muss besonders auf eine optimale und ausreichende Kalzium- und Vitamin-D-Zufuhr für den Knochenaufbau geachtet werden. Für die Kalziumaufnahme benötigt der Körper Vitamin D. Dieses kommt vor allem in Produkten wie Fisch, Eier, Champignons, Käse (Emmentaler) und Butter vor. Vitamin D wird auch über Sonnenlicht aufgenommen. Die tägliche Zufuhr richtet sich nach dem Alter und liegt zwischen 600 und 1200 mg pro Tag. Mit pflanzlichen Nahrungsmitteln ist es unmöglich, eine bedarfsdeckende Kalziumzufuhr zu gewährleisten. Als Alternative zu herkömmlicher Milch und Joghurt bietet der Detailhandel laktosefreie Milch und Joghurt an. Ebenfalls können kalziumangereicherte Sojamilch oder Fruchtsaftgetränke eingesetzt werden. Gereifte und gelagerte Extrahart-, Hart- und Halb-
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hartkäse sind laktosefrei und sehr gute Kalziumlieferanten. In Joghurt und Sauermilch wird Laktose durch die Wirkung der Milchsäurebakterien abgebaut und die Verträglichkeit dadurch verbessert. Probiotische Sauermilchprodukte enthalten spezielle Milchsäurebakterien, welche die Magenpassage überleben, sich im Kolon ansiedeln und die Darmflora positiv beeinflussen. Die individuell tolerierte Menge muss ausgetestet werden. Ist es nicht möglich, die Kalziumzufuhr mit Hartkäse oder laktosefreien Produkten abzudecken, empfiehlt es sich, eine Substitution mittels Brausetabletten, Tabletten, Kautabletten oder Sachets einzusetzen.
Medikamentöse Therapie Die Einnahme von Laktase (z.B. Lacdigest®) vor den Mahlzeiten ist eine Möglichkeit, die Diät ein wenig zu umgehen. 1 Kautablette Lacdigest® hat genügend Laktase, um ungefähr ein Glas Milch zu verdauen. Individuelle Unterschiede sind häufig.
Schlussfolgerung für die Praxis
Die primäre Laktoseintoleranz ist eine Erkrankung, die auf-
grund eines genetischen Defektes des Chromosoms 2q21 zu
einem mehr oder weniger ausgeprägten Laktasemangel führt.
Obwohl die anamnestischen Angaben oft genügen, um die
Diagnose zu stellen, ist es sinnvoll, mittels weiterführender
diagnostischer Mittel, insbesondere des H2-Tests, die Dia-
gnose zu erzwingen. Diätetische Massnahmen genügen in
den meisten Fällen, um den Patienten asymptomatisch zu
machen, manchmal kann man zusätzlich ein Laktasepräpa-
rat (Lacdigest®) dazugeben.
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Korrespondenzadresse: Dr. med. George Marx FMH Pädiatrische Gastroenterologie und Ernährung Ostschweizer Kinderspital, Claudiusstrasse 6, 9006 St. Gallen E-Mail: george.marx@kispisg.ch
Literatur bei den AutorInnen erhältlich.
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