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FORTBILDUNG
Chronische Niereninsuffizienz
Ursachen, Diagnose und therapeutische Optionen
Vor dem Hintergrund einer älter werdenden Bevölkerung und der Zunahme des Typ-2-Diabetes steigt der Stellenwert chronischer Nierenerkrankungen weltweit. Im Bereich der chronischen Niereninsuffizienz gab es in den letzten Jahren zahlreiche neue Entwicklungen, die für Allgemeinärzte im täglichen Praxisalltag zunehmend relevant werden.
MARTIN KIMMEL, NIKO BRAUN UND MARK DOMINIK ALSCHER
Zur Charakterisierung einer chronischen Niereninsuffizienz hat sich seit einigen Jahren weltweit die K/DOQl-Klassifikation (Kidney Disease Outcomes Quality Initiative) etabliert. Diese orientiert sich an der glomerulären Filtrationsrate und beschreibt fünf Stadien der chronischen Niereninsuffizienz (1) (Tabelle). Von einer chronischen Niereninsuffizienz spricht man, wenn eine anhaltende Verminderung der glomerulären, tubulären und endokrinen Funktionen über mindestens drei Monate vorliegt. Im klinischen Alltag stellt sich dennoch häufig die Frage, ob tatsächlich bereits eine chronische Nierenerkrankung besteht. Neben dem intraindividuellen Verlauf renaler Biomarker (im Serum: Kreatinin und/oder Cystatin C) kann die Durchführung einer B-Bild-Sonografie mit dem Nachweis verkleinerter, parenchymverschmälerter Nieren oder das Vorliegen renaler Folgeerkrankungen (renale Anämie, sekundärer Hyperparathyreoidismus, metabolische Azidose oder sogar Urämiesymptome) weiterhelfen.
Merksätze
❖ Bei fast 40 Prozent der Dialysepatienten ist die diabetische Nephropathie die zugrunde liegende Nierenerkrankung.
❖ Mit einer optimalen Hypertonietherapie lassen sich die Progression verzögern und das kardiovaskuläre Risiko senken.
❖ Bei jedem nierenkranken Patienten ist das Antihypertensivum der Wahl ein ACE-Hemmer (bzw. bei Reizhusten ein Angiotensinrezeptorblocker).
Serumkreatinin Im Alltag wird nach wie vor das Serumkreatinin am häufigsten eingesetzt. Jedem Praktiker sollten allerdings die wichtigsten Limitationen dieses Biomarkers bekannt sein: ❖ Als Muskelabbauprodukt ist dieser Marker stark abhän-
gig von der Muskelmasse; «muskelaufbaubetreibende Sportler» haben bei gleichem Serumkreatinin nicht die gleiche Nierenfunktion wie eine «ältere kachektische Dame». ❖ Das Serumkreatinin steigt erst bei einem rund 50-prozentigen Nierenfunktionsverlust an, darüber hinaus ist die Beziehung Kreatinin und glomeruläre Filtrationsrate nicht linear und damit schwer zu interpretieren.
Glomeruläre Filtrationsrate In der Laborroutinediagnostik wird mittlerweile häufig automatisiert die errechnete glomeruläre Filtrationsrate angegeben, wobei meist die Formel nach MDRD (abgeleitet von der Studie Modification of Diet in Renal Disease) verwendet wird. Diese Formel sollte aber nur bei bekannter Einschränkung der Nierenfunktion (d.h. meist nur bei bereits erhöhtem Serumkreatinin) eingesetzt werden (2). Alternative Formeln, die auch in einer Population mit normaler Nierenfunktion verwertbar sind, haben sich noch nicht fest in der Routine etabliert (z.B. «CKD-EPI»-Formel).
Neuere renale Biomarker In den letzten Jahren wurden zahlreiche neuere Nierenfunktionstests untersucht, die meisten Publikationen liegen zu Cystatin C im Serum vor. Cystatin C hat sich als sehr guter Prognosemarker bei bestimmten Patientenpopulationen herausgestellt. Bei der individuellen Einschätzung der Nierenfunktion ist es aber – ähnlich wie beim Serumkreatinin – wichtig, verschiedene Limitationen zu kennen: Es besteht eine starke Abhängigkeit von der Schilddrüsenfunktion (3), sodass bereits bei latenter Hyper-/Hypothyreose Cystatin C nicht eingesetzt werden darf. Darüber hinaus sollte Cystatin C nicht bei floriden Entzündungen oder einer begleitenden Steroidtherapie verwendet werden.
Ursachen und Progression einer chronischen Niereninsuffizienz Bei fast 40 Prozent der Dialysepatienten ist eine diabetische Nephropathie die zugrunde liegende Nierenerkrankung, danach folgen andere vaskuläre Nephropathien, zum Beispiel bei arterieller Hypertonie (22%), Glomerulonephritiden (12%) und bei interstitiellen Nierenerkrankungen (8%).
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Tabelle:
K/DOQI-Stadien der chronischen Niereninsuffizienz
Stadium Definition
GFR (ml/min/1,73 m2 Körperoberfläche)
1 Nierenschädigung mit normaler oder erhöhter ↑ GFR
≥ 90
2 Nierenschädigung mit leichter ↓ GFR
60–89
3 moderate ↓ GFR
30–59
4 schwere ↓ GFR
15–29
5 chronisches Nierenversagen
< 15 (oder Dialyse) Eine chronische Niereninsuffizienz ist definiert als Nierenschädigung oder GFR < 60 ml/min/1,73 m2 über > 3 Monate. Nierenschädigung ist definiert als Nachweis pathologischer Abnormalitäten oder Marker einer Nierenschädigung unter Einbeziehung von pathologischen Urinbefunden und bildgebenden Verfahren.
Bei jeder chronischen Niereninsuffizienz kommt es zu einer weiteren Progression des Nierenfunktionsverlusts – auch wenn der schädigende Einfluss wegfällt (z.B. durch Behandlung der Grunderkrankung). Es gibt nicht modifizierbare Progressionsfaktoren (Alter, Geschlecht, genetischer Hintergrund, zugrunde liegende renale Erkrankungen, intrauterine Programmierung) und modifizierbare Faktoren (Hypertonie, Ausmass der Proteinurie, Aktivierung des Renin-/Angiotensin-Systems, Rauchen), die bei jedem chronischen nierenkranken Patienten optimal eingestellt werden sollten.
Therapie bei Hypertonie Mit einer optimalen Hypertonietherapie lassen sich bei Nierenkranken die Progression verzögern, das kardiovaskuläre Risiko senken und direkte Hypertoniekomplikationen vermeiden. Der Zielblutdruck liegt bei einer chronischen Niereninsuffizienz ohne Proteinurie unter 130/80 mmHg*. Besteht eine Proteinurie über 1 g/Tag, sollte der Zielblutdruck unter 125/75 mmHg liegen. Bei jedem nierenkranken Patienten ist das Antihypertensivum der Wahl ein ACE-Hemmer (bzw. bei Reizhusten ein Angiotensinrezeptorblocker). ACE-Hemmer senken den glomerulären Filtrationsdruck und damit die Proteinurie (4). Darüber hinaus wird das Renin-Angiotensin-System positiv beeinflusst. Häufig besteht bei der Anwendung von ACE-Hemmern bei chronisch nierenkranken Patienten eine grosse Unsicherheit. Folgende Empfehlungen sollen hier weiterhelfen: 1. ACE-Hemmer sollten bei eingeschränkter Nierenfunktion
mit niedriger Dosis begonnen werden. 2. Die Dosis der ACE-Hemmer sollte im Verlauf maximal
austitriert werden.
* Die KDGO, eine internationale Nephrologengruppe (Kidney Disease: Improving Global Outcomes) erarbeitet zurzeit neue Hypertonierichtlinien, die voraussichtlich einen moderaten Zielblutdruck für Patienten mit chronischer Nierenerkrankung definieren werden (Proteinurie über 500 mg/Tag: Zielblutdruck unter 130/80 mmHg; Proteinurie unter 500 mg/Tag: Zielblutdruck unter 140/90 mmHg). Quelle: Bericht Zürcher Hypertonietag; ARS MEDICI 2012; 5: 209–210.
3. Kontrollen des Serumkaliums und des Serumkreatinins sind unverzichtbar: Drei bis fünf Tage nach der Therapieeinleitung und ebenso nach jeder Dosissteigerung sollten Kontrollen erfolgen. Eine Beendigung der Therapie sollte erst bei einem Anstieg des Kreatinins von über 30 bis 50 Prozent erfolgen (ein Kreatininanstieg spiegelt die Senkung des glomerulären Drucks wider und ist bei leichtgradiger Ausprägung ein letztlich zu erwartender Effekt). Bei höhergradigen Anstiegen sollte eine beidseitige Nierenarterienstenose ausgeschlossen werden. Kommt es zum Auftreten einer Hyperkaliämie unter ACE-Hemmern, sollte eine entsprechende Diät und gegebenenfalls eine Kombinationstherapie mit einem Schleifendiuretikum eingesetzt werden. Grösste Vorsicht ist beim kombinierten Einsatz von ACE-Hemmern und Aldosteronantagonisten bei deutlich erhöhtem Hyperkaliämierisiko gegeben (5).
4. ACE-Hemmer können unter Beachtung der oben genannten Punkte bis zur chronischen Niereninsuffizienz im Stadium 5 gegeben werden.
Renale Anämie Ab Stadium 3 der chronischen Niereninsuffizienz kann eine renale Anämie auftreten. Erythropoetin wird aus fibroblastenähnlichen interstitiellen Zellen in einem sehr sauerstoffempfindlichen Bereich am Übergang innere Rinde/äusseres Mark gebildet. Kommt es zu einem Nierenfunktionsverlust, wird weniger Erythropoietin gebildet. Darüber hinaus kommt es bei Patienten im dialysepflichtigen Stadium 5 häufig zu einem chronischen Blutverlust und zu einer verkürzten Erythrozytenlebensdauer. Vor Beginn einer Eisen- und Erythropoietintherapie muss einmalig eine Anämieabklärung erfolgen (Ausschluss von Hämolyse, Blutung, Neoplasie, Inflammation). Die Zielwerte beim dialysepflichtigen nierenkranken Patienten können jedoch in verschiedenen Populationen variieren.
Sekundärer Hyperparathyreoidismus Im Stadium 4 kommt ein sekundärer Hyperparathyreoidismus (früher renale Osteopathie) hinzu, hier findet sich ein Wechselspiel zwischen verminderter Phosphatausscheidung im Urin und abnehmenden aktivierten Vitamin-D-Formen (Abbildung). Beide Faktoren führen in der Nebenschilddrüse zu einer verstärkten Ausschüttung von intaktem Parathormon. Dauert dieser Prozess länger an, kann diese Hyperplasie in eine Knotenbildung mit monoklonalem Wachstum übergehen. Therapeutisch gibt es neben einer Diät (phosphatarme Kost, zum Beispiel durch Vermeidung von Fertiggerichten, Cola, Bier, Hülsenfrüchten, Schmelzkäse), dem Einsatz von Phosphatbindern, einer Kalziumnormalisierung und gegebenenfalls einer Vitamin-D-Gabe (cave!: Verstärkung einer Hyperphosphatämie) auch die Option, Calcimimetika einzusetzen. Dabei handelt es sich um Cinacalcet (Mimpara®), das direkt am «Calcium Sensing Rezeptor» an der Nebenschilddrüsenzelle angreift, was zu einem Abfall des intakten Parathormons führt. Bei einem refraktären tertiären Hyperparathyreoidismus bleibt gelegentlich nur noch eine operative Entfernung der Nebenschilddrüse. Mittlerweile hat sich herausgestellt, dass Mineralhaushaltsstörungen im Rahmen eines sekundären Hyperparathyreoidismus
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PO4 ↑
CA ↓
Vit. D ↓
Sekundärer HPT Refraktärer HPT
PO4 ↑
Diät Phosphatbinder
CA ↓-Normalisierung
Vit.-D-Gabe Suppressionstherapie
❖ Müdigkeit, Leistungsschwäche ❖ Appetitlosigkeit, Übelkeit, Erbrechen ❖ Juckreiz ❖ neurologische und neuromuskuläre Beschwerden:
zum Beispiel Muskelkrämpfe, Restless-legs-Syndrom, Polyneuropathie ❖ Enzephalopathie bis hin zum urämischen Koma ❖ Perikarditis ❖ Blutungsneigung ❖ schwer einstellbare Hypertonie ❖ hydropische Dekompensation bis hin zum Lungenödem.
Spätestens bei Auftreten einer Urämiesymptomatik ist die
Einleitung einer Nierenersatztherapie (Peritonealdialyse oder
Hämodialyse) indiziert.
❖
Dr. med. Martin Kimmel Robert-Bosch-Krankenhaus D-70376 Stuttgart
Interessenkonflikte: keine deklariert
OP Calcimimetika
Abbildung: Behandlung bei sekundärem Hyperparathyreoidismus (HPT)
eng mit der deutlich erhöhten kardiovaskulären Mortalität und den ausgeprägten Gefässverkalkungen bei Dialysepatienten assoziiert sind.
Literatur: 1. K/DOQI clinical practice guidelines for chronic kidney disease: evaluation, classifica-
tion, and stratification. Am J Kidney Dis 2002; 39: S1–266. 2. Stevens LA, Coresh J, Greene T et al.: Assessing kidney function – measured and
estimated glomerular filtration rate. N Engl J Med 2006; 354: 2473–2483. 3. Kimmel M, Braun N, Alscher MD: Influence of Thyroid Function on Different Kidney
Function Tests. Kidney Blood Press Res 2011; 35: 9–17. 4. The GISEN Group (Gruppo Italiano di Studi Epidemiologici in Nefrologia): Randomised
placebo-controlled trial of effect of ramipril on decline in glomerular filtration rate and risk of terminal renal failure in proteinuric, non-diabetic nephropathy. Lancet 1997; 349: 1857–1863. 5. Juurlink DN, Mamdani MM, Lee DS et al.: Rates of hyperkalemia after publication of the Randomized Aldactone Evaluation Study. N Engl J Med 2004; 351: 543–551.
Urämiesymptomatik Bei einem Abfall der glomerulären Filtrationsrate von unter 10 bis 15 ml/min (im Einzelfall auch früher) können im Stadium 5 Urämiezeichen auftreten:
Diese Arbeit erschien zuerst in «Der Allgemeinarzt» 7/2012. Die Übernahme erfolgte mit freundlicher Genehmigung von Verlag und Autor. Die Anpassungen an die Verhältnisse in der Schweiz erfolgten durch die Redaktion von ARS MEDICI.
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