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STUDIE REFERIERT
Können Cranberry-Produkte Harnwegsinfekte verhindern?
Die Laienpresse berichtet seit Jahren über Cranberry-Saft, -Kapseln und -Tabletten, die vor Blasenentzündungen beziehungsweise Harnwegsinfekten schützen sollen, und Patienten fragen ihre Ärzte, was man von den roten Beeren erwarten darf. Eine aktuelle Metaanalyse bescheinigt Cranberry-Produkten protektive Effekte, aber die ausgewerteten Studien sind sehr heterogen.
ARCHIVES OF INTERNAL MEDICINE
Harnwegsinfekte zählen zu den häufigsten bakteriellen Infektionen, insbesondere bei Frauen. Bis zu 40 bis 50 Prozent der Frauen erkranken im Verlauf ihres Lebens mindestens einmal an einem Harnwegsinfekt. Etwa 20 bis 30 Prozent der Frauen, die einen Harnwegsinfekt durchgemacht haben, erleiden ein Rezidiv mit damit einhergehender kurzfristiger Morbidität. Zu den Personengruppen mit erhöhtem Risiko
Merksätze
❖ Die in Cranberrys enthaltenen Proanthocyanidine vom Typ A mindern die Adhärenz von Bakterien an die urogenitale Schleimhaut.
❖ Eine aktuelle Metaanalyse ergab Hinweise, dass Cranberry-Produkte vor Harnwegsinfekten schützen. Insbesondere Frauen mit rezidivierenden Harnwegsinfekten, Frauen allgemein, Kinder sowie Anwender, die häufiger als zweimal täglich Cranberry-Produkte zu sich nehmen, profitieren der Analyse zufolge von Cranberrys.
❖ Die Ergebnisse dieser Metaanalyse sollten jedoch vorsichtig interpretiert werden, denn die ausgewerteten Studien waren sehr heterogen.
für Harnwegsinfekte zählen auch Schwangere, ältere Patienten sowie Patienten mit neuropathischer Blase. Die zur Gattung der Heidelbeeren (Gattung Vaccinium mit den Arten V. oxycoccus, V. macrocarpon, V. microcarpum und V. erythrocarpum) zählenden Cranberrys, auch Grossfrüchtige Moosbeere oder Kranichbeere genannt, werden seit vielen Jahren in der Volksmedizin zur Prävention von Harnwegsinfekten eingesetzt. In den 1920er-Jahren führte man die präventive Wirkung von Cranberrys auf die Ansäuerung des Harntrakts zurück, doch dies wurde 1959 widerlegt. 1984 wurde beschrieben, dass Cranberrys die Bindungsfähigkeit von Bakterien an Uroepithelzellen reduzieren und auf diese Weise Infektionen verhindern. Im Jahr 1989 wurden Proanthocyanidine Typ A (PAC) in Cranberrys identifiziert, und es liess sich zeigen, dass PAC die Adhärenz von Escherichia coli mit P-Fimbrien an die urogenitale Schleimhaut hemmen können. Darüber hinaus enthalten Cranberrys zahlreiche weitere Verbindungen, die noch erforscht werden müssen. In einer Metaanalyse randomisierter kontrollierter Studien gingen Wissenschaftler des National Taiwan University Hospital, Taipeh, der Frage nach, ob Cranberry-Produkte zur Prävention von Harnwegsinfekten geeignet sind und welche Faktoren die Effektivität der Cranberry-Produkte beeinflussen. In einer umfangreichen Literaturrecherche machten die Forscher randomisierte kontrollierte Studien ausfindig, in denen Cranberry-Produkte mit Plazebokontrollen oder Nichtplazebokontrollen verglichen wurden. In ihrer Metaanalyse berücksichtigten die Autoren zehn Studien mit insgesamt 1494 Probanden. In diesen Studien gab es grosse Unterschiede hinsichtlich der Darreichungsform (Cranberry-Saft, -Tabletten oder -Kapseln), der Tagesdosis, des PAC-Gehalts sowie der Dosierungsfrequenz. Auch die Ergebnisse der einzelnen Studien fielen recht heterogen aus.
Ergebnisse Insgesamt senkten Cranberry-Produkte in der aktuellen Metaanalyse das Risiko für Harnwegsinfekte um etwas mehr als ein Drittel (Risk Ratio [RR]: 0,62; 95%-Konfidenzintervall [KI]; 0,49–0,80). Die Subgruppenanalyse ergab, dass Cranberry-Produkte in bestimmten Patientengruppen wirksamer waren, dazu zählten: ❖ Frauen mit rezidivierenden Harn-
wegsinfekten (RR: 0,53; 95%-KI; 0,33–0,83) ❖ Frauen allgemein (RR: 0,49; 95%KI: 0,34–0,73) ❖ Kinder (RR: 0,33; 95%-KI: 0,16– 0,69) ❖ Anwender von Cranberry-Saft (RR: 0,47; 95%-KI: 0,30–0,72) ❖ Menschen, die Cranberry-Produkte häufiger als zweimal täglich einnahmen (RR: 0,58; 95%-KI: 0,40–0,84)
Die Sensitivitätsanalyse zeigte, dass der protektive Effekt der Cranberry-Produkte in nichtplazebokontrollierten Studien ausgeprägter war, was darauf hinweist, dass Wirksamkeitserwartungen möglicherweise eine Rolle spielten.
Kommentar der Studienautoren Cranberry-Produkte erwiesen sich bei Frauen mit rezidivierenden Harnwegsinfekten im Vergleich zu anderen Studienteilnehmern als wirksamer. Wurden die Daten dieser Gruppe mit denjenigen von Schwangeren und Mädchen gepoolt, war der Effekt noch ausgeprägter (RR: 0,49; 95%-KI: 0,34–0,73). Cranberry-Saft war in der Metaanalyse wirksamer als Cranberry-Kapseln oder -Tabletten. Dies könnte daran gelegen haben, dass mit dem Cranberry-Saft zusätzliche Flüssigkeit aufgenommen wurde, was die Inzidenz von Harnwegsinfekten beeinflussen kann: Studienteilnehmer, die Saft tranken, waren möglicherweise besser hydriert als diejenigen, die Kapseln oder Tabletten einnahmen. Denkbar ist auch, dass Saft weitere Cranberry-Wirkstoffe bietet, die in Kapseln oder Tabletten nicht enthalten sind. Andererseits kann der Konsum von Cranberry-Saft mit hohem Zuckergehalt gerade bei Diabetikern bedenklich sein. Darüber hinaus wird Cranberry-Saft nicht von allen Patienten vertragen beziehungsweise akzeptiert. So musste beispielsweise in
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STUDIE REFERIERT
Vaccinium macrocarpon, auch Kranbeere genannt (von «kraan», Kranich), ist vor allem
unter der englischen Bezeichnung Cranberry bekannt
(Foto: Wikimedia Commons)
einer Studie das Protokoll auf eine geringere Dosierungsfrequenz abgeändert werden, um die Compliance der Patienten sicherzustellen und Therapieabbrüche zu vermeiden. Diese unerwünschten Effekte sollten zwar bedacht werden, dennoch sind die Autoren der Metaanalyse der Ansicht, dass Cranberry-Saft gegenüber Kapseln oder Saft bevorzugt werden sollte – zumindest bis der protektive Mechanismus von Cranberrys vollständig geklärt ist. Der Schutzeffekt war in der vorliegenden Metaanalyse besser, wenn Cranberry-Produkte mehr als zweimal täglich eingenommen wurden. In-vitro-
Daten ergaben, dass der Antiadhäsionseffekt von Cranberry-Saft auf mit Fimbrien versehenen E.-coli-Stämmen nach der Ingestion ungefähr acht Stunden lang anhält, deshalb erscheint eine Dosierung mehr als zweimal täglich sinnvoll. Die Metaanalyse erlaubt keine Aussage über die optimale Dosierung von Cranberry-Produkten. Um die optimale Invivo-Dosis zu definieren, sind weitere Untersuchungen erforderlich. Eine derartige Studie wird derzeit durchgeführt. Erst vor relativ kurzer Zeit wurde erkannt, dass PAC in Cranberrys wahrscheinlich diejenigen Substanzen sind, welche den Antiadhäsionseffekt bewir-
ken. Nur wenige der in der Meta-
analyse berücksichtigten Studien ent-
hielten Angaben zum PAC-Gehalt
der verwendeten Cranberry-Produkte.
Deshalb ist es schwer, die Ergebnisse
der einzelnen Studien untereinander zu
vergleichen. Eine In-vitro-Studie ergab,
dass die tägliche Zufuhr von 72 mg
PAC vor einer bakteriellen Adhäsion
im Harntrakt schützen kann. Jedoch
zeigten zwei in der vorliegenden
Metaanalyse berücksichtigte Studien,
in denen die PAC-Tagesdosis 72 mg
überschritt, keinen protektiven Effekt.
In zukünftigen Studien sollte der PAC-
Gehalt angegeben werden, um die
PAC-Effekte auf das klinische Anspre-
chen differenzieren zu können. Darü-
ber hinaus sollten sich auch Verbrau-
cher über den PAC-Gehalt informieren
können, wenn sie Produkte kaufen, die
ausdrücklich zur Prävention von Harn-
wegsinfekten angeboten werden.
Die Resultate der aktuellen Metaana-
lyse weisen darauf hin, dass der Kon-
sum von Cranberry-Produkten be-
stimmte Personengruppen vor Harn-
wegsinfekten schützen kann. Doch
sollten diese Ergebnisse angesichts der
erheblichen Heterogenität der berück-
sichtigten Studien mit Vorsicht inter-
pretiert werden.
❖
Andrea Wülker
Quelle: Chih-Hung Wang et al.: Cranberry-containing products for prevention of urinary tract infections in susceptible populations. Arch Intern Med 2012; 172(13): 988–996.
Interessenkonflikte: keine deklariert.
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