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Titel
Arsenicum: Vergnügliche Skandale
Untertitel
-
Lead
Katharsis, so die altgriechische Überzeugung, das emotional bewegende Erleben von Tragödien im Theater, sei wie eine heilsame Reinigung. Sich die eigenen Lebenstragödien von der Seele wegzuschreiben und dann frohgemut den Blick wieder nach vorne zu richten, wäre eine feine Sache für meine Patienten. Für die alleinerziehenden Mütter am Rande des Existenzminimums, für die gutbürgerlichen, liebevollen Eltern, die nicht verstehen, warum alle drei ihrer Kinder abhängigkeitserkrankt sind, für die Familienväter, die wegen der viel zu hohen Hypothek im Hamsterrad des ungeliebten Jobs strampeln, für die Patienten mit infausten Diagnosen …
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MEDIEN, MODEN, MEDIZIN
Vergnügliche Skandale

K atharsis, so die altgriechische Überzeugung, das emotional bewegende Erleben von Tragödien im Theater, sei wie eine heilsame Reinigung. Sich die eigenen Lebenstragödien von der Seele wegzuschreiben und dann frohgemut den Blick wieder nach vorne zu richten, wäre eine feine Sache für meine Patienten. Für die alleinerziehenden Mütter am Rande des Existenzminimums, für die gutbürgerlichen, liebevollen Eltern, die nicht verstehen, warum alle drei ihrer Kinder abhängigkeitserkrankt sind, für die Familienväter, die wegen der viel zu hohen Hypothek im Hamsterrad des ungeliebten Jobs strampeln, für die Patienten mit infausten Diagnosen … Aber sie haben alle keine Zeit dafür. Obwohl ihre Schicksale oft erschütternd sind und ihr Überlebenskampf mutig und selbstlos. Zu sehr beschäftigt sie das eigene Elend, um mal an sich zu denken und ihre Probleme aufzulisten. Doch für Mitleid mit Prominenten, die ihre selbst gemachten Problemchen vermarkten und mit den Folgen ihrer Persönlichkeitsstörungen die Gesellschaft langweilen bis schädigen, für Empathie für Narzissten, bringen meine Patienten noch genug Energie auf. So zeigte sich eine Sozialhilfeempfängerin erschüttert über das Genörgel der Ex-First-Lady Deutschlands in der Boulevardpresse. Sie solidarisiert sich mit Bettina Wulff, deren Kleiderbudget pro Monat höher war, als es der Jahreslohn meiner Patientin je sein wird. Als «Hilfeschrei einer armen, allein gelassenen Frau» empfand sie die literarische Leichenfledderei der Wulff, die auf ihrem tief gefallenen Mann medial herumtrampelt, der es nicht schaffte, dass sie nach London zu Kate und Williams Hochzeit eingeladen wurde, sondern nur zu Albert und Charlène nach Monaco. Was für ein Schicksalsschlag! Und sie jammert, dass er oft abends auf Repräsentationsanlässen gewesen sei. Tja, wie soll man darauf kommen, dass dies der Fall sein könnte, wenn man einen Politiker heiratet? Mein Patient mit MS, der nach der Diagnosestellung von seiner Frau verlassen wurde, sorgt sich um Arnold Schwarzenegger und ist nicht einverstanden mit Maria Shrivers «Unbeugsamkeit». Immerhin habe der Terminator doch mit seiner langjährig verheimlichten Affäre Schluss gemacht, da könne seine Exfrau ihm doch jetzt endlich verzeihen. Wieder mit ihm zusammenziehen.

Nur schon wegen der Kinder sei das besser. Sicher sei es dem alt Mister Universe nicht leicht gefallen zu «beichten». Da staunt der Hausarzt, für den die Offenbarungen der Unterleibsregungen des Steiermärkers nur alterspeinlich sind. Mit dem zurzeit bei uns prominentesten Gekündigten, dem Noch-Kurator des Zürcher MedizingeschichteMuseums, leiden auch viele meiner Patienten mit, die trotz engagierter Arbeit selbst zu Opfern von «Restrukturierungen» oder Chefs wurden. In der Tat: Prof. Christoph Mörgeli hat es nach langen Jahren bester Mitarbeiterqualifizierungen kalt erwischt, und das Vorgehen der Zürcher Universität, der SGGMN und der Bildungsdirektorin Regine Aeppli mutet skurril an. Man fragt sich, warum die Universität Angst vor Persönlichkeitsrechtsverletzungen hatte, das Informationsleck betreffend internen Bericht so ruhig hinnahm, warum die zuerst gewährten Fristen nicht eingehalten wurden und warum es keine andere Reaktion ausser einem Maulkorb gab, als ein als streitbar bekannter Politiker lospolterte, der zu Recht um Job und Karriere an der Universität fürchtet und dem durch ungeschickte Interviews der Universität eine Plattform geboten wurde. Aber muss man sich wirklich mit einem identifizieren, der selber nicht immer Samthandschuhe anhatte? Vermutlich hat er noch einen Batzen auf dem Sparkonto und einen Job in Aussicht. Genau wie das weitere Subjekt der Empathie meiner Patienten: Karl-Theodor Maria Nikolaus Johann Jacob Philipp Franz Joseph Sylvester Freiherr von und zu Guttenberg. Er hat halt ein bisschen geschummelt, seufzten sie, insbesondere ältere Damen, die nie in ihrem Leben gelogen haben. Aber was soll jetzt dieser nette junge Mann tun? Klar doch: zurück aufs Familienschloss und Memoiren schreiben. Nicht wegen der Katharsis, sondern wegen der Knete. Das ist die neue Un-Verschämtheit bei Promis: Ehen zerstören, Partner fertig machen, betrügen, tricksen, lügen, geistiges Eigentum anderer stehlen – und dann das von Ghostwritern aufschreiben lassen und einkassieren. Doch was mich zornig macht, scheinen meine Patientinnen und Patienten zu geniessen. Es tut ihnen gut, wenn nicht nur sie, sondern auch «die da oben» Misserfolge haben. Egal, ob die Promis selbst verschuldet in die Bredouille gerieten oder nicht – deren Pech ist Balsam auf die Seele meiner Patienten.

ARSENICUM

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ARS MEDICI 19 ■ 2012