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FORTBILDUNG
Unkomplizierte Harnwegsinfektionen
Akute Zystitis und Pyelonephritis bei gesunden, jüngeren Frauen
Harnwegsinfektionen zählen zu den häufigsten bakteriellen Infektionen im ambulanten Setting. Oft sind junge Frauen von (rezidivierenden) Blasenentzündungen betroffen.
THE NEW ENGLAND JOURNAL OF MEDICINE
Episoden einer akuten Zystitis oder Pyelonephritis, die bei sonst gesunden, prämenopausalen, nicht schwangeren Frauen ohne anamnestische Hinweise auf Anomalien im Harntrakt auftreten, werden im Allgemeinen als unkomplizierte Harnwegsinfekte klassifiziert. Alle übrigen gelten als komplizierte Harnwegsinfekte. Dieses einfache Klassifikationsschema weist jedoch Schwächen auf, weil es der Heterogenität der komplizierten Harnwegsinfektionen nicht gerecht wird und weil es dazu führt, dass viele Harnwegsinfekte fälschlicherweise als «kompliziert» eingestuft werden, obwohl sie mit einer Kurzzeit-Antibiose behandelt werden können.
Merksätze
❖ Aus einer akuten unkomplizierten Zystitis entwickelt sich nur selten eine schwere Erkrankung – selbst wenn keine Therapie erfolgt. Deshalb zielt die Behandlung in erster Linie auf eine Symptomlinderung ab.
❖ Bei der Wahl des geeigneten Antibiotikums sollten ausser der Wirksamkeit auch mögliche ökologische Nebenwirkungen (Selektion resistenter Keime) bedacht werden.
❖ Auf diesem Hintergrund gelten Nitrofurantoin, TrimethoprimSulfamethoxazol und Fosfomycin als Erstlinienantibiotika bei Zystitis, obwohl es Bedenken hinsichtlich Resistenzentwicklung (gegenüber Trimethoprim-Sulfamethoxazol) beziehungsweise suboptimaler Wirksamkeit (Fosfomycin) gibt.
❖ Die rezidivierende Zystitis sollte nur dann prophylaktisch mit Antibiotika behandelt werden, wenn nicht antibiotische präventive Massnahmen erfolglos bleiben.
❖ Fluorchinolone haben andere wichtige Indikationen und sollten deshalb bei Zystitis nur als Zweitlinienantibiotika eingesetzt werden; sie gelten jedoch für die empirische Behandlung der Pyelonephritis als Mittel der Wahl.
Nach Eigenangaben weiblicher Patienten liegt die jährliche Inzidenz von Harnwegsinfekten bei 12 Prozent. Bei jungen, gesunden Frauen mit Zystitis rezidiviert die Infektion bei 25 Prozent innerhalb von sechs Monaten nach der ersten Harnwegsinfektion. Die akute unkomplizierte Pyelonephritis ist deutlich seltener als die akute Blasenentzündung: Nach Schätzungen kommt auf 28 Zystitiden etwa 1 Pyelonephritis.
Risikofaktoren Risikofaktoren für unkomplizierte sporadische und rezidivierende Zystitiden und Pyelonephritiden sind Geschlechtsverkehr, Anwendung von Spermiziden, frühere Harnwegsinfektion, neuer Sexualpartner innerhalb des letzten Jahres sowie Harnwegsinfektionen bei einer Verwandten ersten Grades.
Auslösende Keime Bei Frauen verursacht der Keim E. coli 75 bis 95 Prozent der Episoden einer unkomplizierten Zystitis oder Pyelonephritis. Die übrigen Infektionen sind durch andere Enterobakterien wie Klebsiella pneumoniae und grampositive Bakterien wie Staphylococcus saprophyticus, Enterococcus faecalis und Streptococcus agalactiae verursacht. Die beiden zuletzt genannten Keime werden bei Frauen mit Symptomen einer unkomplizierten Zystitis jedoch häufig auch als Kontaminanten in nicht steril gewonnenem Urin nachgewiesen.
Diagnostik Die Zystitis manifestiert sich klinisch mit den Symptomen Dysurie mit oder ohne Pollakisurie, suprapubische Schmerzen oder Hämaturie. Für das Vorliegen einer Pyelonephritis sprechen die Symptome Fieber (> 38 °C), Schüttelfrost, Flankenschmerzen, Berührungs-/Klopfschmerzen im kostovertebralen Winkel und Übelkeit oder Erbrechen mit oder ohne zystitische Beschweden. Häufig wird der Urin mit Teststreifen auf Leukozytenesterase (ein Enzym, das von Leukozyten freigesetzt wird) und auf Nitrite untersucht, da bestimmte Bakterien Nitrate im Urin in Nitrite umwandeln. Wenn das klinische Bild typisch für einen Harnwegsinfekt ist, liefert der Streifentest jedoch nur wenig nützliche Informationen, da ein negatives Testergebnis für Leukozytenesterase und Nitrite in einem solchen Fall eine Infektion nicht zuverlässig ausschliesst. Eine Urinkultur dient dazu, das Vorliegen einer Bakteriurie zu bestätigen und um eine Resistenztestung des auslösenden Keims auf Antibiotika durchzuführen. Eine Urinkultur ist bei allen Frauen mit Verdacht auf Pyelonephritis indiziert. Für
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Kasten:
Nicht antibiotische Prävention der rezidivierenden akuten unkomplizierten Zystitis
Patientenaufklärung ❖ Geschlechtsverkehr ist der stärkste Risikofaktor für unkomplizierte
Harnwegsinfekte. ❖ Falls die Patientin Spermizide verwendet, sollte ihr zu einer anderen
Verhütungsmethode geraten werden. ❖ Empfehlenswert sind auch folgende Massnahmen: Unmittelbar nach
dem Geschlechtsverkehr Blase entleeren; reichlich trinken, Wasserlassen nicht routinemässig hinauszögern; nach der Defäkation von vorne nach hinten wischen; enge Unterwäsche meiden.
Hormone ❖ Topische Östrogene: Bei manchen postmenopausalen Frauen führt
die Anwendung topischer Östrogene zu einer Normalisierung der Scheidenflora und reduziert das Risiko für Harnwegsinfekte. Orale Östrogene sind nicht wirksam.
Weitere Prophylaktika* ❖ OM-89 (Uro-Vaxom®); Gemäss EAU wurde in randomisierten Studien
ausreichend dokumentiert, dass es in der Prophylaxe unkomplizierter Harnwegseffekte wirksamer als Plazebo ist (Empfehlungsgrad B). Die Wirksamkeit für andere Patientengruppen und die Wirksamkeit im Vergleich mit einer antibiotischen Prophylaxe muss noch untersucht werden. ❖ Für Impfungen wie StroVac® und Solco-Urovac® (in der Schweiz nicht zugelassen) fehlen grössere Phase-III-Studien. In einer kleineren Phase-II-Studie wurde eine Wirksamkeit mit Booster-Impfung nachgewisen (Empfehlungsgrad C). ❖ Für andere immuntherapeutische Produkte wie Urostim® und Urvakol® (in der Schweiz nicht zugelassen) gibt es keine kontrollierten Studien und darum keine Empfehlungen. ❖ Cranberry wird von der EAU trotz mangelnder pharmakologischer Daten und wenigen, schwachen klinischen Studien mit Empfehlungsgrad C eingestuft; der Saft bzw. die Präparate sollten eine Mindestzufuhr der aktiven Substanz Proanthocynindin A von 36 mg/Tag sicherstellen. ❖ Probiotika: Intravaginale Probiotika mit Lactobacillus rhamnosus GR-1 und L. reuteri RC-14 werden von der EAU mit Empfehlungsgrad C eingestuft; orale Produkte mit den genannten Milchsäurebakterien sind einen Versuch wert. ❖ Adhäsionsblocker: D-Mannose soll die Adhäsion von E. coli an bestimmte Rezeptoren des Uroepithels unterbinden. Jedoch wurde DMannose bisher in klinischen Studien noch nicht untersucht; sie wird in den EAU-Richtlinien nicht aufgelistet.
*Einstufung gemäss European Association of Urology, Guidelines 2011
die Diagnose einer Zystitis ist sie bei typischer Symptomatik nicht unbedingt erforderlich, zumal die Ergebnisse der Urinkultur erst mit zeitlicher Verzögerung zur Verfügung stehen. Bei Frauen, die ausser Zystitissymptomen auch vaginale Beschwerden aufweisen (Fluor vaginalis, Irritation), sollte mit dem Beginn der antibiotischen Therapie abgewartet werden, bis eine vaginale Untersuchung stattgefunden hat und die Ergebnisse der Urinkultur vorliegen.
Therapie Die akute Zystitis ist ein benignes Krankheitsbild. In den Plazebogruppen randomisierter, kontrollierter Studien kam es bei 25 bis 42 Prozent der Frauen zu einer frühen Rückbildung der Symptomatik, und nur in seltenen Fällen wurde eine Progredienz zu einer Pyelonephritis beobachtet. Dennoch ist die Zystitis mit einer beträchtlichen Morbidität assoziiert, und es werden routinemässig Antibiotika verschrieben mit dem Hauptziel, die Symptomatik rasch abklingen zu lassen. Die Wahl des geeigneten Antibiotikums ist heute komplizierter geworden, da die Resistenzen unter den uropathogenen E.-coli-Stämmen weltweit zugenommen haben. Aktuelle internationale, gross angelegte Studien haben gezeigt, dass die Resistenzrate auf Amoxicillin bei E.-coli-Stämmen, die unkomplizierte Harnwegsinfektionen hervorrufen, in allen untersuchten Regionen bei mindestens 20 Prozent liegt. In vielen geografischen Gebieten werden ähnlich hohe Resistenzraten auf Trimethoprim-Sulfamethoxacol beobachtet. Die Resistenzraten auf Fluorchinolone, orale Cephalosporine und Amoxicillin-Clavulansäure liegen im Allgemeinen unter 10 Prozent, aber die Resistenz auf Fluorchinolone nimmt zu. Die niedrigsten Resistenzraten liegen für Nitrofurantoin, Fosfomycin und Mecillinam vor (das Prodrug zu Mecillinam ist Pivmecillinam). Die kürzlich aktualisierte Leitlinie der Infectious Disease Society of America (IDSA) betont, wie wichtig es ist, bei der Wahl des Antibiotikums auch an die möglichen ökologischen Nebenwirkungen der Substanz zu denken (Selektion antibiotikaresistenter Keime).
Zystitis Für die Behandlung der akuten unkomplizierten Zystitis wird eine empirische Kurzzeittherapie – die je nach Antibiotikum von einer Einzeldosis bis zu einer fünftägigen Behandlung reichen kann – als Erstlinientherapie empfohlen, da diese hinsichtlich Symptomkontrolle so wirksam ist wie länger dauernde Regime, aber mit weniger Nebenwirkungen einhergeht. ❖ Nitrofurantoin (Furadantin®, Uvamin®) wird gut vertra-
gen und weist eine gute Wirksamkeit auf, wenn es in der makrokristallinen Monohydratformulierung zweimal täglich über einen Zeitraum von fünf Tagen verabreicht wird. Auch ist die Gefahr ökologischer Nebenwirkungen unter Nitrofurantoin gering. ❖ Trotz der Bedenken wegen der hohen Prävalenz einer Resistenz gegenüber Trimethoprim-Sulfamethoxazol (Cotrimoxazol, Bactrim® oder Generika) handelt es sich um eine sehr effektive Behandlungsoption (die klinische Heilungsrate wird auf 85% geschätzt – selbst in Regionen mit einer Resistenzprävalenz von 30%), die zudem gut verträglich und kostengünstig ist. ❖ Fosfomycin (Monuril®) und Pivmecillinam (nicht im CHKompendium) gelten aufgrund des geringen Risikos ökologischer Nebenwirkungen ebenfalls als Erstlinien-Antibiotika, obwohl sie klinisch gegenüber Fluorchinolonen und Trimethoprim-Sulfamethoxazol unterlegen zu sein scheinen.
Bei der Wahl des jeweils geeigneten Antibiotikums sollten verschiedene Faktoren wie eventuelle Allergien des Patienten, Compliance, lokale Resistenzmuster (falls bekannt), Verfügbarkeit und Kosten bedacht werden. Sollte eines der oben ge-
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nannten First-line-Antibiotika im Einzelfall keine gute Wahl sein, können Fluorochinolone oder Betalaktamantibiotika eine vernünftige Alternative sein. Allerdings wird empfohlen, diese beiden Antibiotikaklassen aufgrund möglicher ökologischer Nebenwirkungen beziehungsweise Bedenken hinsichtlich ihrer Wirksamkeit (Letzteres betrifft Betalaktamantibiotika) möglichst zurückhaltend einzusetzen. Angesichts der zunehmenden Resistenzentwicklung und der benignen Natur der Zystitis sind Strategien von Interesse, die zur Einsparung von Antibiotika beitragen wie etwa der Einsatz antiinflammatorischer Medikamente oder ein verzögerter Behandlungsbeginn. Beides wird jedoch derzeit eher selten praktiziert.
Pyelonephritis Die meisten Episoden einer akuten unkomplizierten Pyelonephritis können ambulant behandelt werden. Es sollte eine Urinkultur und Resistenztestung erfolgen, auf deren Ergebnisse die Behandlung abgestimmt werden sollte. Frauen sollten stationär aufgenommen werden, wenn die Pyelonephritis schwer ist, eine hämodynamische Instabilität oder ein komplizierender Faktor (Diabetes, Nierenstein, Schwangerschaft) vorliegt, wenn eine orale Therapie nicht toleriert wird oder wenn eine schlechte Therapieadhärenz zu befürchten ist. Eine empirische Behandlung sollte eine breite In-vitro-Aktivität gegen wahrscheinliche Uropathogene aufweisen und rasch eingeleitet werden, um eine weitere Progression möglichst zu verhindern. Fluorchinolone (Ciprofloxacin [Ciproxin® oder Generika], Levofloxacin [Tavanic® oder Generika]) sind die einzigen oralen Antibiotika, die zur ambulanten empirischen Behandlung der akuten unkomplizierten Pyelonephritis empfohlen werden. Falls Bedenken hinsichtlich einer Antibiotikaresistenz oder der Verträglichkeit oraler Medikamente bestehen, wird empfohlen, eine oder mehrere Dosen eines parenteralen Breitspektrumantibiotikums zu verabreichen, bis die In-vitro-Aktivität gesichert ist.
Rezidivierende Zystitis Persistiert die Symptomatik oder rezidivieren die Beschwerden innerhalb von ein bis zwei Wochen nach Behandlung einer unkomplizierten Zystitis, spricht dies für eine Infektion
mit einem resistenten Stamm oder – selten – für ein Rezidiv.
Bei diesen Patientinnen sollte eine Urinkultur angelegt und
eine Therapie mit einem Antibiotikum eingeleitet werden,
das ein breiteres Spektrum abdeckt, beispielsweise mit einem
Fluorchinolon. Eine Zystitis, die mindestens einen Monat
nach einem erfolgreich behandelten Harnwegsinfekt auftritt,
sollte mit einer First-line-Kurzzeittherapie behandelt werden.
Tritt das Rezidiv innerhalb von sechs Monaten auf, sollte
man nicht das ursprünglich verwendete Erstlinien-Antibioti-
kum, sondern ein anderes verwenden (insbesondere, wenn
Trimethoprim-Sulfamethoxazol verabreicht worden war),
weil sonst ein erhöhtes Risiko für eine Resistenzentwicklung
besteht.
Das Ziel eines langfristigen Managements der rezidivierenden
Zystitis besteht darin, die Lebensqualität zu verbessern und
die Antibiotikaexposition so gering wie möglich zu halten.
Der Kasten fasst einige präventive Massnahmen für Frauen
mit rezidivierender Zystitis zusammen (in den USA und
Europa sind unterschiedliche Präparate verfügbar, so dass
der Kasten mit Angaben aus den Richtlinien der European
Association of Urology ergänzt wurde). Obwohl es nur
wenige belastbare Daten für diese Strategien gibt, können sie
hilfreich sein, und das Nebenwirkungsrisiko ist gering.
Eine antibiotische Prophylaxe sollte Patientinnen vorbehal-
ten bleiben, die in den vergangenen zwölf Monaten drei oder
mehr Harnwegsinfekte beziehungsweise zwei oder mehr
Harnwegsinfekte (von denen zumindest einer durch eine po-
sitive Urinkultur bestätigt wurde) in den vorausgegangenen
sechs Monaten hatten und bei denen nicht antibiotische
Strategien erfolglos waren oder die eine prophylaktische
Antibiose bevorzugen. Für viele Frauen mit rezidivierender
Zystitis ist die Selbstdiagnose und Selbsttherapie eine nütz-
liche, nichtpräventive antimikrobielle Strategie. Antimikro-
bielle Managementstrategien sollten regelmässig überprüft
werden, um festzustellen, ob sie noch adäquat sind.
❖
Andrea Wülker
Hooton TM: Uncomplicated Urinary Tract Infection. New Engl J Med 2012; 366:1028–1037.
Interessenlage: Der Autor erhält Beraterhonorare von verschiedenen Pharmaunternehmen.
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