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Rosenbergstrasse 115
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Titel eines Beitrags in einer Fortbildungszeitschrift: «Was die Hausärztin darüber (gemeint war das Zervixkarzinom) wissen muss.» Kollege W., männlich, fand das denn doch ziemlich irritierend. Und wir Männer? Müssen das nicht wissen? Recht hat er ja. Der Begriff «Hausärztin» ist – im Gegensatz zu «den Hausärzten» – gendermässig nicht ein-, sondern ausschliessend. Das heisst, «Hausärzte» müssen und werden sich kaum angesprochen fühlen. Auch wenn das nicht die Meinung der Autorin (oder des Autors?) war (vermutlich).
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MEDIEN, MODEN, MEDIZIN

Rosenbergstrasse 115

Titel eines Beitrags in einer Fortbildungszeitschrift: «Was die Hausärztin darüber (gemeint war das Zervixkarzinom) wissen muss.» Kollege W., männlich, fand das denn doch ziemlich irritierend. Und wir Männer? Müssen das nicht wissen? Recht hat er ja. Der Begriff «Hausärztin» ist – im Gegensatz zu «den Hausärzten» – gendermässig nicht ein-, sondern ausschliessend. Das heisst, «Hausärzte» müssen und werden sich kaum angesprochen fühlen. Auch wenn das nicht die Meinung der Autorin (oder des Autors?) war (vermutlich). Aber vielleicht glaubte die Redaktion der Zeitschrift auch nur, mutig die «Feminisierung der Medizin» zu Ende denken zu müssen und sie da enden zu lassen, wo man getrost auf die Ansprache der «Hausärzte» verzichten dürfte. Das wäre dann allerdings ein sehr mutiger Blick in die Zukunft.
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Vielleicht wollte die Redaktion damit aber auch das Gleiche ausdrücken wie der Chef eines Thurgauer Schulamtes, der gesagt haben soll, Frauen seien die geeigneteren Lehrpersonen und würden deshalb zunehmend häufiger als Männer diesen Beruf wählen. Männer an den Herd!
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Das Schweizer Fernsehen hat definitiv einen Trend verpasst. Während die Engländer aus den Olympischen Spielen für Behinderte, den Paralympics, einen Kultevent machten («Meet the Superhumans» – es lohnt sich, eine Minute und 30 Sekunden zu investieren in http://www.youtube.com/watch?v= kKTamH__xuQ) und sogar Deutschland begann, in Sportlern mit Behinderung gewöhnliche Menschen mit aussergewöhnlicher Lebensgeschichte zu sehen, brösmelten aus der Sportredaktion von SFTV wenig mehr als ein paar öde Nachrichten aus London.
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Sogar David Beckham lächelte zum Werbeslogan «Welcome to the extra-

ordinary». Ziemlich mutig, hatte doch das Internationale Paralympische Komitee vor den Spielen einen Leitfaden veröffentlicht, mit dessen Hilfe Journalisten politisch korrekt über die Paralympics berichten sollten. Als absolute Unworte galten «übermenschlich» (superhuman) und «aussergewöhnlich» (extraordinary). Aber die Engländer hatten schon immer ein Faible für Freakiges, und die Werber foutierten sich um Political Correctness. Mit riesigem Erfolg.
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Noch scheinen nicht alle Dienstleistungsideen ausgeschöpft. Eben erst ist das asexuelle Gruppenkuscheln als Trendzeitvertreib bei uns angekommen, und schon hat jemand eine neue Idee lanciert: das «betreute Trinken». Keine Ahnung, wer die Zielgruppe sein soll. Vielleicht die bald 3000 Mitglieder der Schweizer Party-Partei, für die Komasaufen eine politische Aktion ist, schliesslich «kann man sich der Leistungsgesellschaft nur entziehen, indem man sich durch Trinken bis zur Besinnungslosigkeit unbrauchbar macht». Betreuung bedeutet da wohl Einlieferung ins «Hotel Suff», die 6,5 Millionen Franken kostende Zürcher «Zentrale Ausnüchterungsstelle» (ZAS) für Betrunkene.
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Ziemlich freaky übrigens das politische Manifest der Party-Partei. Bescheuert, aber nicht unoriginell. Immerhin ist der Ersatz von Kaufkraft durch Saufkraft eine interessante (politische?) Idee. Und «Wir bechern für eine bessere Welt» ist ein Slogan, den mancher Politiker an manchem Abend heimlich leise vor sich hinlallend zu bestätigen bereit wäre.
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Ratings, also das Kategorisieren von Menschen, Dingen, Institutionen und so weiter, sind beliebt. Wir kennen sie für Spitäler ebenso wie für Gemeinden und Prominente und bald auch für ein-

zelne Ärzte. Natürlich weiss jedermann und jedefrau, dass man Ratings beliebig manipulieren kann, und dennoch kann man sich ihrem kategorisierenden Charme nicht ganz entziehen. Auch deshalb sind sie ein cleveres Wahlkampf- und Wettbewerbstool. Es ist schliesslich ein Leichtes, die Fragen so zu stellen, dass genau das Ergebnis herauskommt, das die Rater sich wünschen. Vor allem, wenn die Fragen – was wichtig ist! – keine Möglichkeit lassen, eine (von der Ideologie der Rater abweichende) Meinung zu begründen. Differenzierte Meinungen würden die klare Einteilung in Schwarz und Weiss nur behindern.
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Die Welt ist nicht schwarz oder weiss. Sie ist herrlich bunt und umweltUNverträglich zugleich. Eine Leserbriefschreiberin, die sich über die Folgen eines Feuerwerks für Kinder aufregte, brachte es auf den Punkt. Wenn’s knallt und leuchtet und «Aaaaht» und «Oooht», kriegen Kinder glänzende Augen; Vögel, Katzen, Hunde jedoch kriegen Panik und die Luft zuviel Feinstaub ab. Was wir auch tun, es hat Folgen – erwünschte und unerwünschte.
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Nein, die Welt ist nicht schwarz oder weiss. Sie besteht aus «Ja, sofern …» und «Nein, es sei denn …» und «Vielleicht, wenn einmal …». Das gilt für den Verkehr, die Atomenergie, fürs Sparen ebenso wie fürs Geldausgeben, für den Sport wie fürs Internet. Aber für manche ist das zu kompliziert.
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Und das meint Walti: Nichts schöner als Politiker auf Wahlplakaten: tragbar, geräuschlos und leicht zu entfernen.
Richard Altorfer

ARS MEDICI 18 ■ 2012

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