Transkript
THEMA LABOR
Chronische Hepatitis B
Therapie nach Laborbefund
Swiss MedLab 2012
Bern, 12. bis 14. Juni 2012
Laboruntersuchungen spielen für Therapieentscheid und Therapiekontrolle bei chronischer Hepatitis B eine grosse Rolle. Welche Parameter das sind und wie die Therapie heutzutage aussieht, erläuterte Prof. Beat Müllhaupt an der Swiss MedLab in Bern.
RENATE BONIFER
Man schätzt, dass etwa 0,3 Prozent der Schweizer Bevölkerung an chronischer Hepatitis B erkrankt sind, das entspricht 20000 bis 30000 Personen. Antikörper gegen das Hepatitis-B-Virus (HBV) weisen wesentlich mehr Personen, nämlich etwa 4 bis 8 Prozent der Schweizer Bevölkerung, auf. In zwei Drittel der Fälle verläuft eine HBVInfektion symptomlos; normalerweise wird der Organismus mit dem Virus spätestens nach sechs Wochen fertig, was sich in einer Serokonversion, das heisst dem Auftreten von anti-HBsAGAntikörpern manifestiert. Da die virale DNA im Zellkern der Wirtszelle bleibt, kann es in seltenen Fällen und unter bestimmten Bedingungen (z. B. immunsuppressive Therapie bei Transplantierten, Aids, AML) auch noch nach Jahren zu einer Reaktivierung des HBV kommen. Je nach Schweregrad heilt eine akute HBV-Infektion mit grösserer oder kleinerer Wahrscheinlichkeit aus. Wenn sich Erwachsene mit HBV infizieren, überwinden über 95 Prozent von ihnen die Infektion und entwickeln keine
chronische Hepatitis. Anders sieht es aus, wenn ein Kind bei der Geburt von der Mutter infiziert wird. Dann entwickelt sich praktisch immer, in gut 90 Prozent der Fälle, eine chronische Hepatitis, was auch einer der Hauptgründe für die hohe Prävalenz der chronischen Hepatitis B in vielen Ländern ist.
Prävalenz Die Prävalenz der chronischen Hepatitis B ist in der Schweiz im Vergleich mit anderen Ländern sehr niedrig. Nach Angaben der WHO ist sie insbesondere in China und anderen Teilen Asiens hoch, wo 8 bis 10 Prozent der Erwachsenen eine chronische Hepatitis B aufweisen. In diesen Regionen ist Leberkrebs, eine potenzielle Spätfolge der chronischen Hepatitis B, eine der drei häufigsten Todesursachen der Männer; Leberkrebs ist aber auch bei Frauen mit chronischer Hepatitis B nicht selten. Ebenfalls häufig ist die chronische Hepatitis B im Amazonasgebiet sowie im südlichen und östlichen Europa. Auch im Mittleren Osten und Indien sind mit schätzungsweise 2 bis 5 Prozent der Bevölkerung viele Menschen davon betroffen. Im westlichen Europa und Nordamerika liegt die Rate chronischer Hepatitis-B-Infektionen jedoch wie in der Schweiz unter 1 Prozent der Bevölkerung. Es ist darum nicht erstaunlich, dass die meisten Patienten, die in der Schweiz behandelt werden, sich nicht hierzulande infiziert haben, sondern aus dem Mittelmeergebiet, aus den Ländern der ehemaligen Sowjetunion oder Asien stammen.
Natürlicher Verlauf Die Spontanheilung einer chronischen Hepatitis B ist sehr unwahrscheinlich. Meistens nimmt die Krankheit einen
progredienten Verlauf. Man schätzt, dass 8 bis 20 Prozent der Patienten mit chronischer Hepatitis B innert fünf Jahren eine Leberzirrhose entwickeln. Diese ist nicht nur per se ein Mortalitätsrisiko, sondern sie bereitet auch den Boden für ein Leberkarzinom. So trägt ein Patient mit Leberzirrhose Jahr für Jahr ein 2- bis 5-prozentiges Risiko, dass sich aus seiner Zirrhose ein Leberkrebs entwickelt. Man unterscheidet im Verlauf der chronischen Hepatitis B vier Phasen, die durch spezifische Laborparameter definiert sind (Abbildung 1): ❖ Phase 1: Immuntoleranz
Sie ist gekennzeichnet durch hohe HBV-DNA-Werte (108–109 IU pro ml), aber noch niedrige Transaminasen. Besonders deutlich zu sehen ist diese Phase bei Kindern, die bei der Geburt infiziert wurden. Bei diesen Kindern bleiben die Werte in der Regel bis zur Adoleszenz bestehen, manchmal auch länger, bis zu 30 Jahre; die Gründe hierfür sind nicht bekannt. ❖ Phase 2: HBeAG-positive chronische Hepatitis B Das Immunsystem beginnt gegen das Virus anzukämpfen. Die Viruslast fällt, aber die Transaminasen steigen. In dieser Phase beginnt die Leberschädigung. ❖ Phase 3: Inaktiver Trägerstatus Die Viruslast fällt unter 2000 IU/ml, die Transaminasen sind normal. Diese Phase kann anhalten, Jahrzehnte dauern oder auch plötzlich beendet sein und in Phase 4 übergehen. Darum müssen Patienten in Phase 3 regelmässig kontrolliert werden. ❖ Phase 4: HBeAG-negative chronische Hepatitis B Transaminasen und Viruslast steigen wieder an.
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«Die meisten Patienten bleiben leider HBsAG-positiv», sagte Beat Müllhaupt. Wenn es überhaupt gelinge, könne es sehr lange dauern, bis das HBsAG verschwindet, erläuterte er anhand eines Fallberichts eines Patienten, der mit einem Nukleosidanalogon behandelt worden war. Hier hatte es 10 Jahre gedauert, bis kein HBsAG mehr nachweisbar war.
Abbildung 1: Die vier Phasen der chronischen Hepatitis B; HBsAG und HBeAG: virale Proteine (s. Abbildung 2); ALT: Transaminasen (= GPT); grün: Normbereich bzw. für HBV-DNA < 2000 IU/ml.
Lebenszyklus des HBV
Das Hepatitis-B-Virus (HBV) wird rezeptorvermittelt in die Zelle aufgenommen. Im Zellkern schliesst sich der virale DNA-Strang mithilfe von Enzymen der Wirtszelle zu einem «Minichromosom», das als cccDNA (covalently closed circular DNA) bezeichnet wird und nicht in das Genom der Wirtszelle integriert ist. Zur Synthese der mRNA für die Komponenten neuer Virionen bedient sich das HBV im Zellkern der Enzyme der Wirtszelle. Diese mRNA
tritt ins Zellplasma über, um dort als Matrize für die Synthese viraler Enzyme und Proteine zu dienen. Dabei wird weit mehr Virionen-Hüllprotein (HBs) gebildet als nötig, sodass man dieses Antigen (HBsAG) auch dann noch im Blut nachweisen kann, wenn die HBV-DNA bereits nicht mehr nachweisbar ist. Die virale DNA für die neuen Virionen wird im Zytoplasma durch eine virale reverse Transkriptase aus der entsprechenden mRNA erzeugt. Erst in diesen Schritt greifen die oralen Nukleotid- beziehungsweise Nukleosidanaloga-Medikamente ein, welche zu einem vorzeitigen Abbruch der viralen DNA-Synthese führen und so die Neubildung von Virionen verhindern. Die virale cccDNA, die sich im Zellkern der Wirtszelle befindet, wird hierdurch jedoch nicht angegriffen.
RBO
Abbildung 2: HBV-Virion und seine Komponenten (Grafik: Wikimedia commons)
Wen und wann behandelt man? Behandelt werden Patienten in der Regel nur in den Phasen 2 oder 4. Da die Behandlung schwierig, langfristig und teuer ist, müssen die Patienten sorgfältig ausgewählt werden. Die Indikationen für eine Therapie sind: ❖ HBV-DNA über 2000 IU/ml ❖ Zeichen chronischer Hepatitis
(Transaminasen erhöht)
❖ Zeichen einer Leberschädigung (Biopsie)
❖ HBeAG kann positiv oder negativ sein
Die Therapieziele sind in Tabelle 1 zusammengefasst. Wunschziel ist der dauerhafte Verlust von HBsAG oder die Serokonversion, also das Entwickeln von Antikörpern gegen HBsAG.
Pegyliertes Interferon und Nukleosid-/Nukleotidanaloga im Vergleich Für die Behandlung von Patienten mit chronischer Hepatitis B sind mehrere Medikamente zugelassen: pegyliertes Interferon (PEG-Interferon alpha 2 [Pegasys®]) sowie die Nukleotid-/Nukleosidanaloga Adefovir (Hepsera®), Entecavir (Baraclude®), Lamivudin (3TC®, Zeffix® und Generika), Telbivudin (Sebivo®) und Tenovofir (Viread®). Es gibt also eine gewisse Auswahl, aber «mit diesen Substanzen müssen wir auskommen», erläuterte Müllhaupt, da in absehbarer Zeit keine neuen in diese Indikation hinzukommen dürften: «Die Pipeline ist da eher trocken.» Die Vor- und Nachteile von Interferon und Nukleosid-/Nukleotidanaloga (NUC) sind in Tabelle 2 zusammengefasst. Entecavir und Tenofovir seien die potentesten Substanzen, sagte Müllhaupt und zeigte dies anhand von Vergleichen der Wirksamkeit, wie sie in den neuen Guidelines der EASL (European Association for the Study of the Liver) zusammengefasst sind (EASL Clinical Practice Guidelines: Management of chronic hepatitis B virus infection. J Hepatol 2012; 57: 167–185). Er wies darauf hin, dass es sich hierbei nicht um direkte Vergleiche der Substanzen innerhalb einer einzigen Studie handelte (head-to-head), sondern um den Vergleich der relativen Wirksamkeit, das heisst, die Resultate aus verschiedenen Studien wurden verglichen. Bei HBeAG-positiven Patienten erreicht man mit den Medikamenten eine HBeAGSerokonversion bei 21 bis 30 Prozent der Patienten. Am besten schneidet hier das pegylierte Interferon ab mit 30 Prozent, während die Nukleosid-/Nukleotidanaloga Lamivudin, Adevofir, Entecavir, Telbivudin und Tenofovir zwischen 21 und 26 Prozent liegen. «Deswegen ist Interferon für uns immer noch eine sehr gute Option für die Behandlung der Hepatitis B», sagte Müllhaupt.
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Tabelle 1:
Therapieziele bei chronischer Hepatitis B
virologisch:
HBV-DNA negativ anhaltende HBeAG-Serokonversion komplette Response: dauerhafter Verlust von HBsAG oder Serokonversion
biochemisch: Normalisierung der Leberenzyme
histologisch: Rückgang der Leberschädigung um 2 Punkte
Tabelle 2:
Vor- und Nachteile von Interferon und NUC bei chronischer Hepatitis B
Pegyliertes Interferon
NUC
Vorteile
Anwendung limitiert keine Resistenzen höhere Raten für HBe- und HBsSerokonversion nach 12 Monaten
starke antivirale Wirkung gute Verträglichkeit oral
Nachteile
mässige antivirale Wirkung schlechtere Verträglichkeit Nebenwirkungen subkutane Injektion
unbegrenzte Anwendungsdauer Resistenzrisiko Langzeitsicherheit unbekannt
NUC: Nukleotid-/Nukleosidanaloga
Abbildung 3: Therapieverläufe bei Patienten mit chronischer Hepatitis B
Was die Senkung der Viruslast angeht, schneiden die Tabletten mit Ausnahme des Adevofir besser ab als Interferon. Eine Absenkung der HBV-DNA unter die Nachweisgrenze gelingt mit pegyliertem Interferon bei 25 Prozent der HBeAG-positiven Patienten. Mit Adevofir (21%) sind es weniger, mit Lamivudin (39%) etwas mehr Patienten. Deutlich höher ist die Erfolgsrate bezüglich der Senkung der Viruslast mit Telbivudin (60%), Entecavir (67%) und Tenofovir (74%). Diese Werte würden nach einem Jahr erreicht, sagte Müllhaupt und fügte hinzu, dass die
Erfolgsraten bei längerer Therapie noch anstiegen: «Obwohl das Interferon immunologisch, das heisst bei der Serokonversion, gut wirkt, ist es bezüglich der Viruslast nicht sehr wirksam.» Das sei ein Nachteil der Interferontherapie. Wenn die Patienten HBeAG-negativ sind, sinkt die Viruslast unter Therapie mit allen Substanzen stärker als bei den HBeAG-positiven. Grund hierfür sei, dass diese Patienten in der Regel eine niedrigere Viruslast haben, sodass es entsprechend einfacher sei, die virale DNA unter die Nachweisgrenze zu drücken, so Müllhaupt. Auch bei die-
sen Patienten führen die Substanzen Telbivudin (88%), Entecavir (90%) und Tenofovir (92%) vor Lamivudin (72%), PEG-Interferon (63%) und Adevofir (51%).
Was spricht für einen Therapieerfolg? Eher mit einem Erfolg ist zu rechnen bei HBeAG-positiven Patienten (= Phase 2), bei niedriger Viruslast (< 2 × 108 IU/ml), erhöhten Transaminasen (> 2bis 5-fach über dem oberen Normalwert) und einer Leberbiopsie Status A2 (= wenig geschädigt). Als einzigen bis anhin bekannten, physiologischen Unterschied bezüglich der Erfolgsaussichten der jeweiligen Therapie gibt es gewisse genetische Konstellationen, die eher für Interferon sprechen (Genotyp A, B).
Therapiekontrolle Für die Evaluation des individuellen Therapieerfolgs wichtig sind insbesondere die Zeitpunkte Woche 12, Woche 24 und Woche 48 (Abbildung 3). Wenn nach 12 Wochen Therapie praktisch kein Rückgang der HBV-DNA eintritt, ist nicht mehr mit einem Ansprechen zu rechnen. Das Therapieziel Verminderung der Viruslast wird für Interferon und die NUC unterschiedlich definiert. Mit Interferon ist man zufrieden, wenn die HBV-DNA unter 2000 IU/ml sinkt, bei den NUC darf gar keine virale DNA mehr nachweisbar sein, weil andernfalls eine Resistenzentwicklung (s. unten) droht. Wann das Ansprechen spätestens erreicht werden sollte, hängt vom eingesetzten Medikament ab; der Zeitpunkt liegt aber für alle zwischen der 24. und 48. Woche. Bei partiellem Ansprechen muss über eine Therapieänderung nachgedacht werden, weil es andernfalls sicher zu einer Resistenz kommen wird. Nach erfolgreicher Senkung der Viruslast unter 2000 IU/ml, beziehungsweise unter die Nachweisbarkeitsgrenze, wird nach 48 Wochen die Entwicklung der HBV-DNA alle drei bis sechs Monate überprüft. Wenn sie um mindestens 1 Logarithmus (1 log10) ansteigt, bedeutet dies einen viralen Durchbruch, der meist für eine Resistenzentwicklung spricht. Es kann sich aber auch um ein Compliance-Problem handeln (oder beides).
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Abbildung 4: Entwicklung von Resistenzen bei NUC-Therapie; LAM: Lamivudin; ADV: Adefovir; ETV: Entecavir; LdT: Telbivudin; TDF: Tenofovir (nach EASL Guidelines 2012)
Die Resistenzlage ist für die verschiedenen NUC zurzeit unterschiedlich (Abbildung 4). Da Entecavir und Tenofovir hier noch am besten abschneiden, gelten sie derzeit als Standardmedikamente.
Ausblick Früher glaubte man, dass sich die Leber nicht regenieren könne, doch mittlerweile weiss man, dass dies bei Patienten mit Entecavir oder Tenofovir doch ein-
treten kann: «Eine dauerhafte Suppression des Virus führt wahrscheinlich dazu, dass das Narbengewebe in der Leber abnimmt», sagte Müllhaupt. Auch vor der Entwicklung einer dekompensierten Leberzirrhose oder eines Leberkarzinoms könnten antivirale Medikamente möglicherweise schützen, da man hier einen deutlichen Rückgang beobachtet habe. Während bei der Hepatitis C die Heilung heute fast zum Standard geworden sei, könne man die chronische Hepatitis B aber nach wie vor meist nur kontrollieren, sagte Müllhaupt. Falls es mit 48 Wochen Interferon klappt, bleibt dem Patienten eine weitere, langfristige Einnahme von Medikamenten erspart. Bei vielen funktioniert das aber nicht, sodass hier die orale Langzeitunterdrückung des HBV mittels NUC nötig ist, um die Schädigung der Leber zu stoppen. ❖
Renate Bonifer
Vortrag «Diagnostisches und therapeutisches Vorgehen bei chronischer Hepatitis B» von Prof. Dr. med. Beat Müllhaupt an der Swiss MedLab 2012 in Bern, 12.–14. Juni 2012.