Transkript
BERICHT
Benigne Prostatahyperplasie
Chancen und Grenzen der medikamentösen Therapie
27. Jahreskongress der European Association of Urology (EAU)
24. bis 28. Februar 2012 in Paris
Y.S. Lee et al.: Persistence of solifenacin combination treatment in men with overactive bladder symptoms after tamsulosin monotherapy. Poster-Präsentation, 26. Februar 2012.
Männer sprechen nicht ohne Weiteres über LUTS (lower urinary tract symptoms) als Folge einer BPH. Auch dann nicht, wenn das Problem immer mehr Bereiche im Alltag tangiert und die Lebensqualität spürbar abnimmt. Doch auch Ärzte tendieren offenbar dazu, eher einen Bogen um dieses heikle Thema zu machen.
CLAUDIA BORCHARD-TUCH
Die benigne Prostatahyperplasie (BPH) zählt zu den häufigsten gutartigen Veränderungen des alternden Mannes. Auch auf dem EAU-Kongress 2012 wurde deutlich, dass die Ursache bis heute noch immer nicht geklärt ist. Das klinische Krankheitsbild – das benigne Prostatasyndrom (BPS) –, das sich bei Männern mit BPH entwickeln kann, ist gekennzeichnet durch eine unterschiedliche Ausprägung von Prostatavergrösserung, Symptomen des unteren Harntrakts und einer Blasenauslassobstruktion (Tabelle 1). Histologische Veränderungen, die auf eine BPH hinweisen, sind oftmals bereits um das 30. Lebensjahr erkennbar. Im 50. Lebensjahr ist jeder zweite und im 8. bis 9. Lebensjahrzehnt nahezu jeder Mann betroffen. Bei etwa der Hälfte der Männer mit BPH entsteht eine klinisch vergrösserte Prostata (be-
nign prostatic enlargement, BPE). Hiervon entwickeln mindestens 50 Prozent Symptome des unteren Harntrakts (lower urinary tract symptoms, LUTS). In der Gruppe der 60- bis 70-Jährigen geben etwa 40 Prozent LUTS an. Bei den Symptomen des unteren Harntrakts können obstruktive und irritative voneinander unterschieden werden (Tabelle 2). Irritative Blasenbeschwerden bei Männern wie Pollakisurie, Nykturie und imperativer Harndrang sind oftmals auf eine überaktive Blase (overactive bladder, OAB) zurückzuführen und nicht nur auf eine vergrösserte Prostata. Daher benutzt die neue Leitlinie der EAU nun die Bezeichnung «Male LUTS» als Oberbegriff und nicht mehr BPH. Die Einengung der Harnröhre führt zu einer Blasenauslassobstruktion (benign prostatic obstruction, BOO). Infolgedessen kann es zu Veränderungen der Harnblasenwand und -funktion kommen: Der Detrusor verdickt sich und ist in seiner Funktionsfähigkeit eingeschränkt. Von Bedeutung ist, die Blasenauslassobstruktion möglichst früh zu behandeln. Dann sind alle Veränderungen reversibel.
Obligat: Einschätzung des Progressionsrisikos Bei der Diagnostik muss unbedingt das Progressionsrisiko beurteilt werden. Zumeist zeigt die Erkrankung einen chronisch fortschreitenden Verlauf. Die Symptome verschlechtern sich zunehmend, das Volumen der Prostata erhöht sich um durchschnittlich 0,5 bis 2 ml pro Jahr, und bei etwa 1 bis 2 Prozent der Betroffenen kommt es jährlich zu der gefährlichen Komplikation der Harnverhaltung. Bei durchschnittlich 2 bis 5 Prozent der Betroffenen muss innerhalb eines Jahres ein chirurgischer Eingriff durchgeführt werden.
Der Verlauf der Erkrankung ist stark abhängig vom Ausmass der subvesikalen Obstruktion. Goldstandard zur Beurteilung ist hier die invasive Urodynamik (Druck-Fluss-Studie). In der Praxis wird das Ausmass der Obstruktion zumeist indirekt mittels Uroflowmetrie, PSA, Prostatavolumen- und Restharnmessung bestimmt.
Wann Medikamente, wann Operation? Vor Beginn einer Pharmakotherapie muss der Arzt entscheiden, ob diese für den Patienten geeignet ist. Rezidivierende Harnverhaltungen, wiederholt auftretende BPS-bedingte Makrohämaturien, Harnblasenkonkremente, Dilatationen des oberen Harntrakts und eine BPS-bedingte Niereninsuffizienz sind Kontraindikationen für eine medikamentöse Therapie. Hier muss operiert werden. Auch bei Patienten mit hochgradiger BPO und Restharnbildung von 100 ml und darüber ist eine medikamentöse Therapie nicht immer erfolgreich, da der Effekt einer Pharmakotherapie auf eine hochgradige subvesikale Obstruktion nicht ausreichend sein kann.
Ist eine Phytotherapie wirksam? Traditionell erfreuen sich Pflanzenextrakte zur Behandlung der BPH einer grossen Beliebtheit. Weltweit werden über 100 unterschiedliche botanische Präparationen aus über 30 verschiedenen Pflanzen und deren Kombinationen eingesetzt. Legt man evidenzbasierte Kriterien an, gibt es derzeit nur für fünf Präparate (Sägezahnpalme, Brennnessel, Kürbissamen, Sägezahnpalme-Brennnessel-Kombination) Studien, die diesen Standards (prospektiv, randomisiert, Studiendauer 12 Monate) genügen. In den meisten Leitlinien zur Therapie der BPH beschränken sich
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Tabelle 1:
Veränderungen am unteren Harntrakt: Nomenklatur
BPS Benignes Prostatasyndrom BPH Benigne Prostatahyperplasie
(histologische BPH) BPE «benign prostatic enlargement»
(benigne Prostatavergrösserung) BOO «bladder outlet obstruction»
(benigne Blasenauslassobstruktion) BPO «benign prostatic obstruction»
(benigne Prostataobstruktion, eine durch BPE verursachte BOO) LUTS «lower urinary tract symptoms» (Symptome des unteren Harntraktes)
Tabelle 2:
Symptome des unteren Harntrakts («lower urinary tract symptoms», LUTS)
Obstruktive Symptome ❖ Erniedrigtes Miktionsvolumen ❖ Nachträufeln ❖ Restharngefühl/Harnverhalt ❖ Überlaufinkontinenz ❖ Unterbrochener Harnstrahl ❖ Verlängerte Miktion ❖ Startverzögerung ❖ Verwendung der Bauchpresse ❖ Harnstrahlabschwächung
Irritative Symptome ❖ Dranginkontinenz ❖ Imperativer Harndrang ❖ Nykturie ❖ Pollakisurie
die Empfehlungen auf die genannten, mit Studien abgesicherten Phytotherapeutika.
Andere medikamentöse Optionen Die Wahl der Therapie richtet sich nach dem vorrangigen Behandlungsziel. Stehen LUTS-Beschwerden im Vordergrund, erweisen sich ␣1-RezeptorBlocker als am besten geeignet. Hauptwirkung der 5␣-Reduktase-Inhibitoren ist eine Reduktion des Prostatavolumens. In bestimmten Fällen sind Kombinationstherapien indiziert, wobei auch die Gabe von Muskarinrezeptoren erfolgreich sein kann.
α1-Rezeptor-Blocker ␣1-Blocker wirken auf ␣1-Adrenorezeptoren am Blasenhals sowie in der Prostata und fördern die Erschlaffung der glatten Muskulatur in diesen Bereichen. Weltweit stehen heute fünf verschiedene ␣1-Rezeptor-Blocker (Alfuzosin, Doxazosin, Prazosin, Tamsulosin und Terazosin) zur Verfügung. Für alle Präparate liegen prospektive, plazebokontrollierte Studien vor, die deren Wirksamkeit nachweisen. Bei ausreichender Dosierung sind alle ␣1-Blocker ähnlich effektiv. Die ␣1-Blocker werden im Allgemeinen gut vertragen. Die häufigsten Nebenwirkungen betreffen das Herz-KreislaufSystem (Vasodilatation und damit Blutdrucksenkung) und scheinen unter Tamsulosin und Alfuzosin seltener aufzutreten. Von klinischer Bedeutung sind diese Nebenwirkungen insbesondere bei Patienten mit kardiovaskulären Erkrankungen und/oder vasoaktiv wirksamen Medikamenten. Hierzu zählen beispielsweise Antihypertensiva und die zur Behandlung der erektilen Dysfunktion eingesetzten Phosphodiesterase-5Hemmer. Weitere Nebenwirkungen der ␣1-Blocker sind retrograde Ejakulationen, die am häufigsten unter Tamsulosin auftreten (5–10%).
5α-Reduktase-Inhibitoren Das Enzym 5␣-Reduktase katalysiert die Umwandlung von Testosteron in Dihydrotestosteron, das für viele androgene Wirkungen in der Prostata verantwortlich ist. Unter der Therapie mit 5␣-Reduktase-Hemmern kommt es zu einer partiellen Involution der Prostata von zirka 20 bis 25 Prozent, was mit einer Beschwerdelinderung und einer Verringerung der Komplikationen (z.B. akutem Harnverhalt) einhergeht. Die beiden 5␣-Reduktase-Hemmer Dutasterid und Finasterid sind zur Behandlung der benignen Prostatahyperplasie zugelassen.
Kombinationstherapien α1-Blocker plus 5␣-Reduktase-Inhibitoren: Eine Kombinationsbehandlung mit ␣1-Blocker und 5␣-ReduktaseInhibitoren ist zur alleinigen Symptomreduktion nicht indiziert. Die Kombinationsbehandlung ist jedoch zur Progressionshemmung des BPS geeignet und hierbei der Monotherapie überlegen.
␣1-Blocker plus Muskcarinrezeptorantagonisten: Es stehen verschiedene hochwirksame Muskarinrezeptorantagonisten zur Verfügung. Die klassische Indikation der Muskarinrezeptorantagonisten ist die überaktive Blase. Bei einer Mischätiologie ist die Gabe eines Muskarinrezeptorantagonisten in Kombination mit einem ␣1-Blocker durchaus sinnvoll. Weitgehend kontraindiziert sind Muskarinrezeptorantagonisten jedoch bei einer gravierenden Obstruktion, etwa einer Restharnmenge von 100 ml und darüber: Da die anticholinerg wirksamen Medikamente zu einer verminderten Innervation des Detrusors führen, besteht die Gefahr eines zunehmenden Harnverhalts.
Auf Compliance achten!
Die zusätzliche Gabe eines Muskarin-
rezeptorantagonisten bei Patienten, bei
denen eine benigne Prostatahyperplasie
mit einer OAB einhergeht, ist sinnvoll.
Hierbei muss der Arzt darauf achten,
dass der Patient mitmacht. In einer von
Professor Y.S. Lee, Sungkyunkwan
University School of Medicine, Seoul,
Südkorea, vorgestellten Studie waren
254 Männer zunächst über einen Zeit-
raum von 4 Wochen mit dem ␣1-Re-
zeptor-Blocker Tamsulosin behandelt
worden. Alle Männer waren an einer
benignen Prostatahyperplasie erkrankt.
Nach diesem Zeitraum erhielten
176 Männer, bei denen die benigne
Prostatahyperplasie mit einer OAB
einherging, zusätzlich den Muskarin-
rezeptorantagonisten Solifenacin.
Nach einem Jahr hatten 75 Prozent die-
ser Patienten die Solifenacintherapie
abgebrochen. «Es ist unbedingt not-
wendig, dass der Patient über die Wirk-
samkeit des Medikaments unterrichtet
wird», erklärte Lee. «Ausserdem muss
der Arzt den Patienten darauf vorberei-
ten, dass harmlose Nebenwirkungen
auftreten können – wie beispielsweise
Mundtrockenheit.»
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Claudia Borchard-Tuch
Literatur: Höfner K, Oelke M: Kombinationstherapie bei LUTS: Wann Pillen und wann nicht? Urologe 2009; 48: 250–256. Madersbacher S, Marszalek M: Benigne Prostatahyperplasie. Erfolge und Grenzen der Pharmakotherapie. Internist 2007; 48: 1157–1164. Oelke M et al.: Guidelines on Conservative Treatment of Non-neurogenic Male LUTS. European Association of Urology, 2010.
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