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Pulmonale Embolien und tiefe Venenthrombosen
Eine Übersicht
FORTBILDUNG
Die Lungenembolie ist nach Herzinfarkt und Schlaganfall die dritthäufigste Todesursache. Zu den Folgeerkrankungen venöser Thromboembolien gehören die chronische thromboembolische pulmonale Hypertonie und das postthrombotische Syndrom. Die meisten Patienten sprechen auf Antikoagulanzien an.
LANCET
Tiefe Venenthrombosen und pulmonale Embolien konstituieren das Krankheitsbild des venösen Thromboembolismus. Am häufigsten werden tiefe Venenthrombosen in den Beinen diagnostiziert, sie können aber auch in den Armvenen oder in den mesenterialen und zerebralen Venen auftreten. In einem Übersichtsartikel haben amerikanische Wissenschaftler den aktuellen Wissensstand zu tiefen Venenthrombosen in den Beinen und Lungenembolien zusammengefasst.
Epidemiologische Aspekte Die Lungenembolie ist die dritthäufigste Todesursache nach einem Herzinfarkt oder einem Schlaganfall. Die wichtigsten prognostischen Faktoren für die Mortalität im Zusammenhang mit einer Lungenembolie sind ein Alter über 75 Jahre, Krebserkrankungen und Herzinsuffizienz sowie chronisch obstruktive Lungenerkrankungen, eine systolisch arterielle Hypertonie, Tachypnoe und eine rechtsventrikuläre Hypokinesie im Echokardiogramm. Viele Patienten erleiden nach einer ersten tiefen Venenthrombose oder einer Lungenembolie ein Rezidiv.
Merksätze
❖ Bei geringer klinischer Wahrscheinlichkeit können venöse Thromboembolien durch einen negativen D-Dimer-Befund ausgeschlossen werden.
❖ Bei tiefen Venenthrombosen wird die Diagnose mit Kompressionsultraschall und bei einer Lungenembolie mit der CT-Angiografie bestätigt.
❖ Standardbehandlung und Prophylaxe erfolgen mit Antikoagulanzien.
Zu den Folgeerkrankungen venöser Thromboembolien gehören die chronische thromboembolische pulmonale Hypertonie und das postthrombotische Syndrom (chronische Veneninsuffizienz). Ein chronisch thromboembolischer Lungenhochdruck wird als durchschnittlicher pulmonaler arterieller Hochdruck von mehr als 25 mmHg definiert, der länger als sechs Monate nach der Diagnose einer Lungenembolie bestehen bleibt und der sowohl in Ruhe als auch bei Anstrengung zu Atemnot führt. Diese Folgeerkrankung betrifft etwa 2 bis 4 Prozent der Patienten nach einer akuten pulmonalen Embolie. Zudem ist die Lebenserwartung nach einer Lungenembolie oft verkürzt, und viele Patienten erleiden einen plötzlichen Herztod. Das postthrombotische Syndrom ist mit einer chronischen Schwellung der Unterschenkelvenen verbunden, was mit einer bräunlichen Hautpigmentierung und in schweren Fällen mit einer venösen Ulzeration der Haut einhergehen kann. Meist werden leichte und mittlere postthrombotische Syndrome diagnostiziert, schwere Formen werden nur selten beobachtet. Venösen Thromboembolien und Atherothrombosen liegt eine gemeinsame Pathophysiologie mit Entzündungsgeschehen, Hyperkoagulabilität und endothelialen Läsionen zugrunde. Derzeit wird der venöse Thromboembolismus als Erkrankung beschrieben, die zu einem panvaskulären Syndrom beiträgt, an dem ein koronares arterielles, ein peripheres arterielles und ein zerebrovaskuläres Krankheitsgeschehen beteiligt sind. Die Risikofaktoren für venöse Thromboembolien sind häufig modifizierbar und überschneiden sich mit denen für eine Atherosklerose. Dazu gehören Zigarettenrauchen, Bluthochdruck, Diabetes und Übergewicht (Kasten 1). Auch entzündliche Erkrankungen wie chronisch entzündliche Darmkrankheiten und systemische Vaskulitis sind mit einem erhöhten Risiko für venöse Thromboembolien assoziiert. Venöse Thromboembolien werden als idiopathisch-primär oder provoziert-sekundär kategorisiert, wobei diese Unterscheidung nicht immer eindeutig getroffen werden kann (Kasten 1). Bei der idiopathischen primären Form kommt es häufiger zu Rezidiven als bei der provozierten sekundären Form. Ob Patienten mit venösen Thromboembolien auf eine Thrombophilie gescreent werden sollen, wird kontrovers diskutiert.
Diagnose Die Diagnose der tiefen Venenthrombose und der Lungenembolie beruht vorwiegend auf nichtinvasiven diagnostischen Verfahren, die sequenziell durchgeführt werden. Mit einer validierten diagnostischen Aufarbeitung kann das
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FORTBILDUNG
Klinische Wahrscheinlichkeit
hoch (oder wahrscheinlich)
niedrig (oder unwahrscheinlich)
D-Dimer
CUS oder MDCTA
über dem Grenzwert
unter dem Grenzwert
positiv
Diagnose bestätigt
negativ
Diagnose unbestätigt
Die Befunde der arteriellen Sauerstoffsättigung, die Elektrokardiografie und Röntgenaufnahmen des Brustraums haben eine niedrige Sensitivität und Spezifität zur Diagnose einer Lungenembolie und sind weder im Wells-Score noch im Geneva-Score enthalten. Allerdings kann ein Elektrokardiogramm zum Ausschluss einer Lungenembolie von Nutzen sein und beispielsweise auf ein akutes koronares Syndrom hinweisen.
Bestimmung des D-Dimers von Fibrin
Abbildung: Diagnostischer Algorithmus bei Verdacht auf tiefe Venenthrombose oder Lungenembolie (modifiziert nach Goldhaber und Bounameaux).
Beim D-Dimer handelt es sich um ein Abbauprodukt des kreuzverlinkten Fibrins, dessen Konzentration sich bei Patienten mit akuter venöser Thromboembolie er-
höht. Die Bestimmung des D-Dimers über einen quanti-
Komplikationsrisiko beträchtlich gesenkt werden (Abbil- tativen ELISA-Assay oder einen turbodimetrischen Assay ist
dung).
hochsensitiv (> 95%) zum Ausschluss einer akuten tiefen Ve-
nenthrombose oder einer Lungenembolie. Eine Konzentra-
Evaluierung der klinischen Wahrscheinlichkeit
tion unter dem Grenzwert von 500 µg/l schliesst eine akute
Die Evaluierung der klinischen Wahrscheinlichkeit umfasst venöse Thromboembolie aus, zumindest bei Patienten mit
das Erfassen der klinischen Vorgeschichte mit persönlichen niedriger oder mittlerer Wahrscheinlichkeit. D-Dimer-Be-
und familiären Charakteristika, der Symptome und der arte- stimmungen weisen jedoch nur eine begrenzte Spezifität auf
riellen Sauerstoffsättigung sowie eine Röntgenaufnahme des und sind daher bei bestimmten Patientengruppen weniger
Brustraums und eine Elektrokardiografie. Die klinische nützlich als andere Erhebungsverfahren. Dies trifft etwa auf
Wahrscheinlichkeit kann empirisch beurteilt oder anhand Patienten mit hoher klinischer Wahrscheinlichkeit sowie auf
von Prädiktionsregeln oder Scores vorgenommen werden.
Personen über 65 und schwangere Frauen zu.
Beim Verdacht auf eine Lungenembolie kommen häufig der
Wells-Score und der Revised-Geneva-Score zum Einsatz. Der Kompressionsultraschall
Wells-Score für die Lungenembolie wird derzeit meist mit zur Diagnose tiefer Venenthrombosen
einem Cut-off von vier Punkten gehandhabt, der eine grobe Der Kompressionsultraschall hat die Phlebografie als wich-
Klassifizierung in eine wahrscheinliche oder unwahrscheinli- tigstes bildgebendes Verfahren zur Diagnose tiefer Venen-
che Lungenembolie ermöglicht. Der Wells-Score wird auch thrombosen weitgehend verdrängt. In der klinischen Praxis
zur Diagnostizierung tiefer Venenthrombosen angewendet erfolgt die Diagnose mit Kompressionsultraschall derzeit
(Kasten 2).
über drei alternative Vorgehensweisen:
❖ In einer ersten Variante werden nur die proximalen Venen
oberhalb des Unterschenkels untersucht. Nach einer Woche
Kasten 1:
Hauptrisikofaktoren für eine Lungenembolie
(modifiziert nach Goldhaber und Bounameaux)
wird der Kompressionsultraschall wiederholt, um klinisch relevante distale Thromben zu diagnostizieren, die proximal progredient sein könnten. Dieses Verfahren ist kostenintensiv und liefert nur eine geringe Ausbeute (nur 1–2%
Idiopathisch, primär, nicht provoziert
der Resultate sind bei der zweiten Untersuchung positiv). ❖ Als zweite Option kann ein vollständiger Kompressionsul-
❖ Keine erkennbare Ursache
traschall proximaler und distaler Venen angefertigt wer-
❖ Höheres Lebensalter (> 65 Jahre)
den. Diese Vorgehensweise ist mit einer niedrigen Rate an
❖ Fernreisen
venösen Thromboembolien nach drei Monaten verbun-
❖ Thrombophilie, z.B. Faktor-V-Leiden oder Prothrombin-Genmutation
den. Allerdings erhalten dabei auch viele Patienten mit iso-
❖ Übergewicht
lierten tiefen Venenthrombosen im distalen Unterschenkel
❖ Zigarettenrauchen
Antikoagulanzien.
❖ Bluthochdruck
❖ Die dritte Möglichkeit besteht in einem Kompressionsul-
❖ Metabolisches Syndrom
traschall der proximalen Venen. Mit diesem Verfahren
❖ Luftverschmutzung
kann eine tiefe Venenthrombose bei Patienten mit niedri-
ger oder mittlerer Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen wer-
Sekundär, provoziert
den, wenn das Untersuchungsergebnis negativ ist. Bei Per-
❖ Immobilisierung
sonen mit hoher klinischer Wahrscheinlichkeit sind bei
❖ Postoperativ
einem negativen Ergebnis weitere bildgebende Untersu-
❖ Trauma
chungen (Ultraschall der distalen Venen, Phlebografie)
❖ Orale Kontrazeptiva, Schwangerschaft, postmenopausale Hormoner-
oder eine Überwachung mit seriellem Ultraschall erforder-
satztherapie
lich. Diese Vorgehensweise ist mit ähnlichen Dreimonats-
❖ Krebserkrankungen
risiken verbunden wie der vollständige Kompressionsul-
❖ Akute Erkrankungen wie Pneumonie, Herzinsuffizienz
traschall, wobei aber 30 bis 50 Prozent weniger Patienten
Antikoagulanzien erhalten.
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Kasten 2:
Wells-Score zur Einschätzung der klinischen
Wahrscheinlichkeit
(modifiziert nach Goldhaber und Bounameaux)
Punkte
Wells-Score für tiefe Venenthrombosen
Krebs
+1
Paralyse oder kürzlich vorgenommene Gipsabdrücke
+1
Bettruhe > 3 Tage oder chirurgischer Eingriff vor < 4 Wochen +1 Schmerzen beim Betasten tiefer Venen +1 Schwellung des gesamten Beins +1 Unterschiede im Durchmesser betroffener Unterschenkel > 3 cm +1
Eindrückbare Ödeme (nur betroffene Seite)
+1
Erweiterte oberflächliche Venen (betroffene Seite)
+1
Alternative Diagnose mindestens so wahrscheinlich
wie tiefe Venenthrombose
-2
Wells-Score für eine Lungenembolie
Vorherige pulmonale Embolie oder tiefe Venenthrombose
+1,5
Herzfrequenz > 100 Schläge/Minute
+1,5
Kurz zurückliegende Operation oder Immobilisierung
+1,5
Klinische Zeichen einer tiefen Venenthrombose
+3
Alternative Diagnose ist weniger wahrscheinlich als Lungenembolie +3
Hämoptoe
+1
Krebserkrankung
+1
Multidetektor-CT-Angiografie zur Diagnose von Lungenembolien Die CT-Angiografie hat die Ventilationsperfusionsszintigrafie (V/Q) der Lunge als wichtigstes bildgebendes Diagnoseverfahren in grossem Umfang ersetzt. Die Einzeldetektor-CTAngiografie hat allerdings nur eine Sensitivität von etwa 70 Prozent, sodass bei negativem Ergebnis zusätzlich ein Kompressionsultraschall der proximalen Beinvenen erforderlich ist. Die Multidetektor-CT-Angiografie ist sensitiver. Mit diesem Verfahren kann daher eine Lungenembolie ohne Durchführung zusätzlicher bildgebender Verfahren ausgeschlossen werden. Dabei ist jedoch zu bedenken, dass häufige CT-Angiografien eine erhöhte Inzidenz strahlenbedingter Krebserkrankungen verursachen könnten. Das Strahlungsrisiko ist vor allem bei schwangeren Frauen zu berücksichtigen.
Goldstandard Derzeit werden die konventionelle Pulmonalisangiografie und die Phlebografie als Goldstandards zur Diagnose der Lungenembolie und tiefer Venenthrombosen erachtet. Da es sich dabei um invasive Untersuchungsverfahren handelt, sollten sie auf Patienten beschränkt werden, bei denen sonst keine klinische Diagnose erfolgen kann oder bei denen eine endovaskuläre Therapie der Lungenembolie in Betracht gezogen wird.
Behandlung Prognostische Stratifizierung bei Lungenembolie Patienten mit einer Lungenembolie werden zunächst entsprechend ihrer Prognose anhand des Pulmonary Embolism
Severity Index und seiner vereinfachten Form auf klinischer Basis stratifiziert. Hochrisikopatienten (etwa 5% aller symptomatischen Patienten mit einer Kurzzeitmortalität von etwa 15%) sollten intensiv mit thrombolytischen Medikamenten, mit einem chirurgischen Eingriff oder einer Katheterembolektomie behandelt werden. Patienten mit geringem Risiko (die meisten Lungenemboliepatienten mit einer Kurzzeitmortalität von etwa 1%) profitieren häufig von frühzeitiger Entlassung aus dem Krankenhaus oder von einer ambulanten Behandlung. Patienten mit mittlerem Risiko (etwa 30% aller symptomatischen Patienten) sollten gegebenenfalls ins Krankenhaus eingeliefert werden und profitieren potenziell von einer thrombolytischen Behandlung.
Standardbehandlung bei tiefen Venenthrombosen und Lungenembolien Die Behandlung von Lungenembolien erfolgt abschnittsweise in einer Initialtherapie, einer frühen Erhaltungstherapie und einer langfristigen Sekundärprävention. Niedermolekulare Heparine und Fondaparinux (Arixtra®) sind sowohl bei tiefen Venenthrombosen als auch bei Lungenembolien die Eckpfeiler der Initialtherapie. Der Hauptvorteil der niedermolekularen Heparine besteht darin, dass sie in den meisten Fällen subkutan in festgelegten gewichtsadjustierten Dosierungen ohne weitere Überwachung gegeben werden können. Das Pentasaccharid Fondaparinux ist nahezu identisch mit der kleinsten natürlichen Heparinkomponente. Im Gegensatz zu den Heparinen, die aus dem Intestinaltrakt von Schweinen gewonnen werden, handelt es sich bei Fondaparinux um eine synthetische Substanz. Fondaparinux ist bei Lungenembolien und tiefen Venenthrombosen ebenso wirksam wie unfraktioniertes oder niedermolekulares Heparin. Niedermolekulares Heparin und Fondaparinux werden hauptsächlich über die Nieren eliminiert. Daher wird bei einer Kreatininclearance unter 30 ml/min zu besonderer Vorsicht geraten. Die therapeutischen Optionen bestehen hier in einer Dosisanpassung, einer Verlängerung des Injektionsintervalls, in einem Monitoring der FXa-Aktivität oder in der Anwendung unfraktionierten Heparins. Die Gabe von Heparinen oder Fondaparinux sollte sich mindestens fünf Tage mit der Applikation von Vitamin-K-Antagonisten überschneiden. Erstere können abgesetzt werden, wenn die durch den Vitamin-K-Antagonisten induzierte INR (International Normalised Ratio) einen Wert von etwa 2,0 erreicht hat. Für Krebspatienten wird eine mindestens dreimonatige Behandlung mit niedermolekularem Heparin anstelle eines Vitamin-K-Antagonisten empfohlen. Zu den Vitamin-K-Antagonisten gehören Substanzen mit kurzer Halbwertszeit wie Acenocoumarol (Sintrom®), mit mittlerer Halbwertszeit wie Warfarin (nicht im AK der Schweiz) oder Fluindion (nicht im AK der Schweiz) und mit langer Halbwertszeit wie Phenprocoumon (Marcoumar®). Aufgrund der unterschiedlichen Halbwertszeiten, der genetisch induzierten metabolischen Variabilität und der unterschiedlichen Zufuhr von Vitamin K über die Nahrung sowie aufgrund des niedrigen therapeutischen Indexes und potenzieller Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten ist bei der Behandlung mit Vitamin-K-Antagonisten eine eng-
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Kasten 3:
Pharmakologische Prophylaxe gegen venöse Thromboembolien
(modifiziert nach Goldhaber und Bounameaux)
❖ Niedrig dosiertes unfraktioniertes Heparin, zwei- oder dreimal täglich ❖ Niedermolekulare Heparine ❖ Fondaparinux 2,5 mg/Tag bei orthopädischen und chirurgischen
Eingriffen, in manchen Ländern auch bei akuten Erkrankungen (häufig auch Off-label-Anwendung bei Verdacht auf heparininduzierte Thrombozytopenie)
Nur in der Orthopädie
❖ Dabigatran (Pradaxa®) ❖ Rivaroxaban (Xarelto®) ❖ Apixaban (Eliquis®) ❖ Warfarin (nicht im AK der Schweiz) ❖ Acetylsalicylsäure (Aspirin®) ❖ Desirudin (nicht im AK der Schweiz)
maschige Überwachung erforderlich. Der therapeutische Zielwert der INR beträgt 2,5 (Bereich 2,0–3,0).
Sicherheit der antikoagulativen Behandlung Bei allen Antikoagulanzien kann es – vor allem zu Behandlungsbeginn – zu Blutungen kommen. Die Häufigkeit schwerer Blutungen im Zusammenhang mit Vitamin-K-Antagonisten nimmt mit dem Alter zu. Mit klinischen Scores wie dem HEMORR2HAGES-Score und dem RIETE-Score kann das Blutungsrisiko abgeschätzt werden. Die Sicherheit der Behandlung mit Vitamin-K-Antagonisten lässt sich durch eine verbesserte Patientencompliance, das Vermeiden potenziell wechselwirkender Medikamente sowie durch Einschränken des Alkoholkonsums erhöhen. Um die Sicherheit zu verbessern, sind zudem hohe Aufladungsdosen zu vermeiden. Die heparininduzierte Thrombozytopenie ist bei der Behandlung mit Heparinen eine gefürchtete Komplikation, die zwar sehr selten vorkommt (und noch seltener bei Fondaparinux), aber zu fatalen venösen und arteriellen thromboembolischen Folgen führen kann.
Behandlungsdauer nach tiefen Venenthrombosen und Lungenembolie Die Dauer der antikoagulativen Behandlung sollte entsprechend dem Risiko eines thromboembolischen Rezidivs mit und ohne Behandlung sowie dem Risiko einer behandlungsinduzierten Blutung festgelegt werden. Die Entscheidung über die optimale Behandlungsdauer kann auf einer individuellen Basis unter Berücksichtigung der klinischen Variablen, der D-Dimer-Konzentration einen Monat nach Beendigung der Antikoagulationstherapie oder des Vorliegens weiterer Thromben in den Beinvenen getroffen werden. Derzeit sollten alle Patienten mit tiefen Venenthrombosen oder Lungenembolien mindestens drei Monate lang mit Antikoagulanzien behandelt werden. Bei vorübergehenden oder reversiblen Risikofaktoren – vor allem wenn der Risikofaktor ein offensichtlicher Auslöser der venösen Thromboembolie war – kann die antikoagulative Behand-
lung gegebenenfalls abgesetzt werden. Bei Patienten ohne verursachenden Risikofaktor (idiopathische, nichtprovozierte Form) wird die antikoagulative Behandlung fortgeführt, solange das Nutzen-Risiko-Verhältnis günstig ist. Krebspatienten mit venösen Thromboembolien sollten Antikoagulanzien erhalten, bis die Erkrankung unter Kontrolle ist und voraussichtlich geheilt werden kann.
Prävention
Studienergebnisse zeigen die Wirksamkeit und Sicherheit der
Prävention mit niedrigen fixierten Dosierungen verschiede-
ner Antikoagulanzien. Für Patienten, die sich einer ortho-
pädischen Operation unterziehen, wurden auch neue Anti-
koagulanzien ergänzend zu Warfarin, Heparinen und Fonda-
parinux zugelassen (Kasten 4).
Bei Risikopatienten, die keine pharmakologische Prophylaxe
erhalten können, sollten mechanische Massnahmen wie
Kompressionsstrümpfe oder eine pneumatische Kompres-
sion in Betracht gezogen werden. Auch Vena-cava-Filter
können zur Primär- oder Sekundärprophylaxe verwendet
werden. Der thrombotische Prozess wird damit jedoch nicht
aufgehalten.
Während des Krankenhausaufenthalts ist die Prophylaxe für
Patienten mit mittlerem oder hohem Thromboserisiko obli-
gatorisch. Die Entscheidung, die Prophylaxe darüber hinaus
fortzuführen, ist schwierig. Das Risiko für venöse Thrombo-
embolien nimmt bei Patienten nach der Entlassung nur ge-
ringfügig ab. Bei Frauen bleibt es beispielsweise in den ersten
zwölf Wochen nach einem chirurgischen Eingriff erhöht.
Derzeit wird eine kontinuierliche Versorgung beim Übergang
vom Krankenhaus in die häusliche Umgebung oder in die
Rehabilitierung angestrebt. So wird nach einer Hüftarthro-
plastik eine verlängerte Prophylaxe von bis zu fünf Wochen
empfohlen.
Aus Studien geht hervor, dass in Hospitälern die verfügbaren
Antikoagulanzien oft nicht in ausreichendem Umfang zur
Prophylaxe eingesetzt werden. Dieses häufige Unterlassen
der Prophylaxe wird weltweit beobachtet. In einer randomi-
sierten kontrollierten Studie konnte mit einem computer-
gestützten Entscheidungssystem und einer elektronischen
Warnfunktion die Effektivität der Prophylaxe verbessert und
die Rate von symptomatischen venösen Thromboembolien
um mehr als 40 Prozent gesenkt werden. Steht kein compu-
tergestützes System zur Verfügung, könnte auch das Kran-
kenhauspersonal ein Screening auf Risikopatienten durch-
führen, die noch keine Prophylaxe erhalten haben.
❖
Petra Stölting
Quelle: Samuel Z Goldhaber, Henri Bounameaux: Pulmonary embolism and deep vein thrombosis. Lancet 1012; 379: 1835–1846.
Interessenkonflikte: Die Autoren haben Gelder von verschiedenen Pharmaunternehmen erhalten.
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