Transkript
FORTBILDUNG
Morbus Parkinson
Frühdiagnose und Therapie
In der Frühphase macht sich das idiopathische Parkinsonsyndrom zunächst nicht durch die voll ausgeprägten Kardinalsymptome Akinese, Rigor, Tremor und Haltungsinstabilität bemerkbar. Dennoch gilt es, die Krankheit früh zu diagnostizieren, um den Patienten durch eine adäquate Therapie möglichst viel an Lebensqualität zu erhalten.
LISA KLINGELHÖFER UND HEINZ REICHMANN
Da die Inzidenz mit zunehmendem Lebensalter ansteigt, ist in unserer alternden Gesellschaft in Zukunft mit einer Zunahme der Parkinson-Patienten zu rechnen. Männer haben mit 1,5:1 ein etwas höheres Erkrankungsrisiko (1). Vom idiopathischen (primären) Parkinsonsyndrom oder Morbus Parkinson, der in 80 Prozent der Fälle vorliegt (2), müssen sekundäre (symptomatische) Parkinsonsyndrome und die seltenen atypischen Parkinsonsyndrome unterschieden werden. Die Diagnose kann bei klaren klinischen Kriterien ohne aufwändige apparative Untersuchungen gestellt werden.
Frühsymptome des Morbus Parkinson An erster Stelle der Diagnostik sollten eine ausführliche Anamnese (mit Familienanamnese), die neurologische und eine allgemein internistische körperliche Untersuchung stehen. Die Symptome des IPS beginnen schleichend, können zunächst unspezifisch sein und stellen sich im zeitlichen Verlauf immer deutlicher dar.
Merksätze
❖ Frühsymptome des Morbus Parkinson sind unter anderem Riechstörungen, Abgeschlagenheit, Verlangsamung von Bewegungen und feinmotorische Ungeschicklichkeit.
❖ Für junge Patienten unter 70 Jahren gilt: Levodopa so spät und niedrig wie möglich, so hoch und früh wie nötig.
❖ Patienten mit frühem medikamentösem Therapiebeginn weisen im Verlauf eine höhere Lebensqualität auf als unbehandelte Patienten.
Ein häufiges Frühsymptom ist ein reduziertes oder sogar völlig fehlendes Riechvermögen. Dies wird bei 70 bis 100 Prozent aller Patienten mit IPS gefunden und tritt meist vor den motorischen Symptomen auf (3, 4). Die Riechfunktion der Patienten kann durch einfache standardisierte Riechtests mit «Sniffin’ Sticks» untersucht werden (3). Sie ist für die Abgrenzung zu atypischen Parkinsonsyndromen und zum essenziellen Tremor wichtig (5). Häufig beklagen die Patienten in der Frühphase auch eine allgemeine Abgeschlagenheit, die von einer depressiven Episode begleitet ist (6). Eine neu aufgetretene andauernde Obstipation, Schulter-/Armschmerzen mit Steifigkeitsgefühl, Schriftbildveränderungen, eine allgemeine Bewegungsverlangsamung und feinmotorische Ungeschicklichkeiten mit Problemen beim Ankleiden oder der Körperhygiene können weitere Frühsymptome der Erkrankung sein. Spezifischer stellen sich meist ein einseitiger Tremor der oberen Extremität und die klassische Gangbildveränderung mit Nachziehen oder Schlurfen eines Beines, Verkürzung der Schrittlänge und fehlendem Mitschwingen eines Armes dar. Die Symptome sind in der Regel unilateral oder zumindest mit Betonung einer Körperseite vorhanden (7). Die Patienten brauchen beim Drehen eine grössere Zahl an Wendeschritten. Auf Nachfragen berichten sie häufig auch über einen Verlust des nächtlichen Umdrehens im Bett mit Aufwachen in gleicher Position, teilweise mit Schmerzen und dadurch bedingten Schlafstörungen.
Die Kardinalsymptome Die Diagnose kann rein klinisch anhand der 4 motorischen Kardinalsymptome (8) gestellt werden: ❖ Akinese (Bewegungsverarmung) mit Bradykinese (Bewe-
gungsverlangsamung) oder Hypokinese (verminderte Bewegungsamplitude) als obligates Symptom und mindestens eines der folgenden Symptome: – Rigor (Muskelsteifigkeit) – Ruhe- und/oder Haltetremor – Haltungsinstabilität
Akinese Die Akinese manifestiert sich häufig in einer Verringerung der Gesichtsmimik (Hypomimie), Verminderung des Sprachvolumens mit einer leisen, heiseren Stimme (Hypophonie) und in späteren Stadien auch als Dysphagie. Das Schriftbild wird undeutlicher und mit zunehmender Schriftdauer zum Satzende kleiner. Hier ist es sinnvoll, den Patienten einige Sätze aufschreiben zu lassen. An den Extremitäten fällt eine
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Haltungsinstabilität Als frühes Symptom der Haltungsinstabilität geben die Patienten meist ein unsicheres Gefühl beim Richtungswechsel während des Gehens und das Gefühl, nach vorne oder seltener nach hinten gezogen zu werden, an. Getestet werden kann die Haltungsstabilität des Patienten durch den «Zugtest nach hinten». Der Untersucher steht hinter dem Patienten und versucht, ihn durch einen kräftigen Zug an den Schultern nach hinten aus dem Gleichgewicht zu bringen. Braucht er mehr als einen Schritt zum Abfangen oder ist das selbstständige Abfangen nicht möglich und der Patient muss vom Untersucher aufgefangen werden, spricht dies für eine Haltungsinstabilität.
Abbildung: Therapiestrategien bei Patienten mit Morbus Parkinson, modifiziert nach (12).
Verlangsamung und Verminderung der Willkürbewegungen auf. Zur Prüfung sollte der Patient gebeten werden, Daumen und Zeigefinger möglichst schnell und mit grosser Amplitude zu öffnen und zu schliessen (Fingertipping). Die untere Extremität kann durch schnelles Stampfen der Hacken auf den Boden (Feettapping) geprüft werden. Weiterhin wird das Initiieren von Bewegungen langsamer. Dies macht sich in einem langsameren Aufstehen aus dem Sitzen heraus bemerkbar, was im fortgeschrittenen Krankheitsstadium nur mit Abstützen oder Hilfe möglich ist.
Rigor Der Rigor manifestiert sich subjektiv als Steifigkeitsgefühl, während bei passiver Bewegung der distalen Extremitäten (Handgelenk, Sprunggelenk) oder des Kopfes als ein gleichförmig wächserner Widerstand eventuell mit Zahnradphänomen durch die agonistisch und antagonistisch simultane Muskelaktivität objektiviert werden kann. Verstärkbar ist der Rigor durch die gleichzeitige Willkürbewegung der kontralateralen Extremität (Froment-Manöver).
Tremor Der klassische Parkinson-Tremor ist das auffälligste Symptom und kann bei 75 bis 90 Prozent der Patienten nachgewiesen werden (7). Man versteht darunter einen Ruhetremor mit einer Frequenz von 4 bis 6 Hz, der während Willkürbewegungen oder Haltearbeiten im Vergleich zur Ruhesituation deutlich abnimmt und am häufigsten die Hände betrifft, aber auch am Kinn und den Beinen bestehen kann. Klinisch imponiert der Ruhetremor bei abgelegten Händen durch die Bewegung des Daumens gegenüber der Handfläche als «Pillendreher-Tremor». Er verstärkt sich durch emotionale oder mentale Anspannung (Kopfrechnen, Buchstabieren) und bessert sich im Gegensatz zum essenziellen Tremor nicht nach Alkoholkonsum.
Welcher Patient sollte behandelt werden? Bei Einleitung der Therapie sollten die Patienten informiert werden, dass es sich beim IPS um eine chronische, progredient verlaufende Erkrankung handelt und derzeit nur eine rein symptomatische Therapie, orientiert an der Lebensqualität beziehungsweise Alltagskompetenz der Patienten, erfolgen kann. Zum jetzigen Zeitpunkt ist eine kurative Therapie nicht möglich. Bei der Therapieeinleitung bei «jungen» Patienten, meist Patienten unter 70 Jahren und ohne nennenswerte Komorbiditäten, sollten bevorzugt Nicht-Ergolin-Dopaminagonisten gewählt werden. Diese haben eine gute Wirksamkeit, eine mögliche neuroprotektive Wirkung, und sie verursachen wenig motorische Fluktationen. Hier kann der Patient frei zwischen der Therapie mittels oraler Einnahme (Ropinirol [Adartrel®, Requip® und Generika], Pramipexol [Sifrol® und Generika], Piribedil [Clarium®, nicht in der Schweiz]) oder Pflasterapplikation (Rotigotin [Neupro®]) wählen. Eine höhere Compliance und eine Verringerung der motorischen Fluktuationen kann durch die Verschreibung eines Retardpräparates mit Einnahme einmal pro Tag erreicht werden (9). Alternativ ist auch der Therapiebeginn mit einem MAO-BHemmer (Monoaminoxidase-B-Hemmer: Rasagilin [Azilect®], Selegilin [Jumexal) als Mono- oder Kombinationstherapie mit einem Dopaminagonisten möglich. In Studien konnte eine neuromodulatorische Wirkung mit möglicher Verzögerung des Krankheitsverlaufes nachgewiesen werden (10). Zur weiteren symptomatischen Wirkung kann die Therapie durch den Glutamatantagonisten Amantadin (Symmetrel®, PK-Merz®) ergänzt werden. Für diese «junge» Patientengruppe gilt für den Einsatz von Levodopa (Madopar®, Sinemet®, Stalevo® und Generika) die Regel: So spät und niedrig wie möglich, so hoch und so früh wie nötig. Im Gegensatz dazu gilt bei Patienten über 70 Jahre oder bei Patienten mit schwerwiegenden Begleiterkrankungen jeden Alters als Standard der Initialbehandlung die LevodopaMonotherapie beziehungsweise eine schwerpunktorientierte Levodopa-Therapie aufgrund der guten Wirksamkeit und Verträglichkeit. Die Abbildung stellt die Therapiestrategien bei Patienten mit IPS schematisch dar. Insgesamt sollte die Aufdosierung der Parkinsonmedikation zur Vermeidung beziehungsweise Reduktion von Nebenwirkungen langsam (wochenweise) erfolgen. Eine vorübergehende Therapie mit dem nur peripher wirksamen Dopaminantagonisten Domperidon (Motilium®) führt zur
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Verminderung gastrointestinaler Nebenwirkungen. Nach Studienlage scheint die Frühphase mit entscheidend für die Krankheitsprogression zu sein, da Patienten mit frühem medikamentösem Therapiebeginn eine höhere Lebensqualität aufweisen und im zeitlichen Verlauf auch behalten als unbehandelte Patienten (11). Weiterhin sollten die Dopaminagonisten bei guter Verträglichkeit entsprechend der symptomatischen Notwendigkeit zunächst ausdosiert werden, bevor eine zweite Substanzgruppe als Kombinationstherapie hinzugezogen wird. Falls sich trotz ausreichender medikamentöser Therapie keine oder nur eine geringe Verbesserung der Symptome zeigt, sollte die Diagnose eines IPS überprüft werden. ❖
Korrespondenzadresse: Lisa Klingelhöfer Heinz Reichmann Kinik und Poliklinik für Neurologie Universitätsklinikum Carl Gustav Carus Technische Universität Dresden Fetscherstrasse 74 Tel. 0049 351-458 35 65, Fax. 0049 351-458 43 65 E-Mail: kontakt@neuro.med.tu-dresden.de D-01307 Dresden
Literatur: 1. Bower JH et al.: Incidence and distribution of parkinsonism in Olmsted County,
Minnesota, 1976–1990. Neurology 1999; 52(6): 1214–1220. 2. Hughes AJ et al.: The accuracy of diagnosis of parkinsonian syndromes in a specialist
movement disorder service. Brain 2002; 125 (Pt 4): 861–870. 3. Muller A et al.: Olfactory function in idiopathic Parkinson’s disease (IPD): results
from cross-sectional studies in IPD patients and long-term follow-up of de-novo IPD patients. J Neural Transm 2002; 109 (5–6): 805–811. 4. Schwarz J et al.: Striatal dopamine transporter binding assessed by [I-123]IPT and single photon emission computed tomography in patients with early Parkinson’s disease: implications for a preclinical diagnosis. Arch Neurol 2000; 57 (2): 205–208. 5. Busenbark KL et al.: Olfactory function in essential tremor. Neurology 1992; 42 (8): 1631–1632. 6. Richard IH: Depression and apathy in Parkinson’s disease. Curr Neurol Neurosci Rep 2007; 7 (4): 295–301. 7. Gelb DJ et al.: Diagnostic criteria for Parkinson disease. Arch Neurol 1999; 56 (1): 33–39. 8. Hughes AJ et al.: Accuracy of clinical diagnosis of idiopathic Parkinson’s disease: a clinico-pathological study of 100 cases. J Neurol Neurosurg Psychiatry 1992; 55 (3): 181–184. 9. Grosset KA et al.: Medicine-taking behavior: implications of suboptimal compliance in Parkinson’s disease. Mov Disord 2005; 20 (11): 1397–1404. 10. Olanow CW et al.: A double-blind, delayed-start trial of rasagiline in Parkinson’s disease. N Engl J Med 2009; 361 (13): 1268–1278. 11. Grosset D et al.: A multicentre longitudinal observational study of changes in self reported health status in people with Parkinson’s disease left untreated at diagnosis. J Neurol Neurosurg Psychiatry 2007; 78 (5): 465–469. 12. Schapira AH: Treatment options in the modern management of Parkinson disease. Arch Neurol 2007; 64 (8): 1083–1088.
Interessenkonflikte: keine
Diese Arbeit erschien zuerst in «Der Allgemeinarzt» 14/2011. Die Übernahme erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Verlag und Autoren. Anpassungen an die Schweiz und die Angaben der Produktnamen erfolgten durch die Redaktion von ARS MEDICI.
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