Transkript
Kreisrunder Haarausfall: Alopecia areata
Leicht zu diagnostizieren, schwierig zu behandeln
FORTBILDUNG
Alopecia areata ist die häufigste Ursache des entzündungsbedingten Haarverlusts. Ein kürzlich veröffentlichter Review hat die Pathogenese, das klinische Krankheitsbild, verschiedene Behandlungsoptionen sowie weitere Hintergrundinformationen zusammengefasst.
Bei der Entstehung der Alopecia areata spielen genetische Faktoren eine grosse Rolle. Viele Patienten mit kreisrundem Haarausfall in der Familienanamnese weisen beispielsweise auch in der eigenen oder in der familiären Anamnese eine Atopie, das Down-Syndrom, ein Autoimmunes-Polyendokrinopathie-Candidiasis-Ektodermales-Dystrophie-Syndrom (APECED), andere Autoimmunerkrankungen oder eine Kombination dieser Störungen auf.
NEJM
Verschiedene Hauterkrankungen können die Betroffenen stark belasten. Dies wird tendenziell unterschätzt oder sogar einfach als «kosmetisches Problem» abgetan. Die Alopecia areata, wegen ihres Erscheinungsbilds auch als kreisrunder Haarausfall bezeichnet, ist ein solches Beispiel, denn die Krankheit kann eine schwere Bürde darstellen. Oft sind die Lebensqualität und das Selbstwertgefühl der Patienten davon stark beeinträchtigt. Je nach ethnischer Herkunft und Erdregion beträgt die Prävalenz der Alopecia areata 0,1 bis 0,2 Prozent, wobei das Lebenszeitrisiko bei 2 Prozent liegt. Es können sowohl Kinder als auch Erwachsene mit jeglicher Haarfarbe betroffen sein. Normalerweise tritt die Erkrankung bei beiden Geschlechtern gleichermassen auf, doch in einer Studie mit Teilnehmern im Alter von 21 bis 30 Jahren waren eher Männer erkrankt.
Merksätze
Normaler Haarwuchs Haarfollikel sind die einzigen Organe, die sich in Zyklen ein Leben lang stark verändern. Die Anagenphase ist eine Wachstumsphase, in der ein pigmentierter Haarschaft gebildet wird. Beim Kopfhaar dauert sie ein bis acht Jahre. Es folgt die Katagenphase, wobei mittels Apoptose die Rückbildung ausgelöst wird. Innerhalb weniger Wochen geht die Melaninproduktion zurück, und der Haarschaft wird zum Kolbenhaar umgebildet. Danach durchläuft der Haarfollikel eine Periode relativer Ruhe. Es handelt sich um die Telogenphase, die beim Kopfhaar mehrere Monate dauert, bevor die anagene Phase wieder beginnt. Eine entscheidende, immunologische Eigenschaft des Haarfollikels ist die Bildung einer immunprivilegierten Umgebung. Dadurch wird normalerweise ein Autoimmunangriff auf intrafollikulär gebildete Autoantigene unwahrscheinlich. Dieses Immunprivileg beruht vor allem auf der Unterdrückung von Oberflächenmolekülen wie denen der MHC (major histocompatibility complex) Klasse I, die für CD8+ TLymphozyten Autoantigene präsentieren. Daneben werden in dieser lokalen Umgebung immuninhibitorische Signale erzeugt.
❖ Bei der Alopecia areata wird von einer CD8+-T-Zellen-abhängigen, organspezifischen Autoimmunkrankheit ausgegangen.
❖ Das schützende Immunprivileg des Haarfollikels geht im Krankheitsfall verloren.
❖ Scharf begrenzter, kreisrunder Haarausfall ist ein typisches Anzeichen der Alopecia areata.
❖ Gängige Therapien sind oft nur unzureichend untersucht und nicht immer erfolgversprechend.
❖ Eine Behandlung mit Immunsuppressiva oder eine lokale Immuntherapie mit Kontaktallergenen ist verbreitet.
❖ Die Rate spontaner Remissionen ist hoch.
Pathogenese der Alopecia areata Es wird angenommen, dass sich die Alopecia areata in einem gesunden Haarfollikel bilden kann, wenn das Immunprivileg verlorengeht. Gemäss dieser Hypothese kann die Alopecia areata bei einer genetisch prädisponierten Person auftreten, wenn sich unter anderem vermehrt ektopische MHC-KlasseIa-Moleküle im menschlichen Haarfollikelepithel bilden. Diese können dann follikelassoziierte Autoantigene für autoreaktive CD8+-T-Zellen präsentieren. Falls stimulierende Signale und andere Zellen, wie CD4+-T-Zellen und Mastzellen, diesen Vorgang unterstützen, kann das lymphozytäre Infiltrat den Haarfollikel angreifen. Da nur Haarfollikel in der Anagenphase attackiert werden, erfolgen die Bildung und Präsentation der fraglichen Autoantigene (z.B. Peptide im Rahmen der Melaninbildung) womöglich nur in diesem
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Stadium. Für das Vorliegen eines solchen Szenarios sprechen umfassende Belege aus Mausmodellen der Alopecia areata. Genomweite Assoziationsstudien legen ausserdem nahe, dass andere proinflammatorische Faktoren und Liganden zur Stimulierung natürlicher Killerzellen (NK) möglicherweise ebenfalls während der Entstehung der Alopecia areata zeitweise aktiv sind. Durch den Angriff von Entzündungszellen werden die Haarfollikel der Anagenphase vorzeitig in die Katagenphase versetzt. Aufgrund einer entzündungsbedingten Dystrophie des Follikels kann der Haarschaft nicht mehr länger im Haarkanal fest verankert werden und fällt rasch aus. Der Haarfollikel kann sich allerdings weiterhin regenerieren und den Zyklus fortsetzen, da die Haarfollikelstammzellen im Allgemeinen nicht zerstört werden. Daher ist der Haarverlust bei dieser Erkrankung prinzipiell reversibel. Wie bei den meisten Autoimmunerkrankungen handelt es sich bei Alopecia areata um eine chronisch rezidivierende, entzündliche Störung, weshalb ein zyklisches Wiederauftreten naheliegt.
Klinisches Krankheitsbild und Diagnosestellung Die Alopecia areata äussert sich durch kreisrunden Haarausfall an umschriebenen Stellen auf normal erscheinender Haut. Am häufigsten sind die Kopfhaut und die Bartregion betroffen. Die Krankheit setzt typischerweise schnell ein und kann zum Verlust aller Haare auf dem Kopf (Alopecia areata totalis) oder sogar am ganzen Körper (Alopecia areata universalis) führen. Eine Sonderform ist die Ophiasis mit Haarverlust am Hinterkopf bis hin zu den Schläfen. Verräterische klinische Symptome sind Ausrufezeichenhaare, Kadaverhaare, Tüpfelnägel und das Nachwachsen weisser Haare an vormals kahlen Stellen. Damit liegen oftmals genügend Hinweise für eine direkte Diagnosestellung vor. Das Auftreten eines uneinheitlichen Haarverlusts im Zusammenhang mit einer Autoimmunerkrankung oder einer atopischen Dermatitis (in 39% der Fälle) ist ein weiterer Anhaltspunkt. Bei einer zweifelhaften klinischen Diagnose kann eine Hautbiopsie in Erwägung gezogen werden. Bei der akuten Alopecia areata zeigt sich bei der histologischen Untersuchung ein charakteristisches «bienenschwarmartiges» Muster von dichten, perifollikulären, lymphozytären Infiltraten um anagene Haarfollikel. Bei Patienten mit einer chronischen Erkrankung kann dieses Muster fehlen.
Behandlungsansätze Die Diagnosestellung bei der Alopecia areata ist eher einfach, doch die Behandlung ist es nicht. Eine heilende Therapie gibt es nicht, und es besteht ein Mangel an sorgfältig durchgeführten, kontrollierten Langzeitstudien, die die Therapie der Alopecia areata und deren Auswirkungen auf die Lebensqualität untersucht haben. Im Hinblick auf die oftmals unbefriedigenden Ergebnisse gängiger Therapien vertrauen einige Ärzte auf die hohe Rate spontaner Remissionen und empfehlen eine Perücke, falls keine Besserung erfolgt. Die am besten untersuchte immunsuppressive Methode besteht aus intradermalen Injektionen von Triamcinolonacetonid (5–10 mg/ml [Kenacort®, Triamcort®]) im Abstand von zwei bis sechs Wochen. Damit wird das lokale Nachwachsen in 60 bis 67 Prozent der Fälle angeregt. Dahingegen wird die systemische Gabe von Glukokortikoiden hauptsächlich durch ihre unerwünschten Arzneimittelwirkungen eingeschränkt. Fallberichte von Patienten mit Alopecia areata und anderen Autoimmunerkrankungen weisen ausserdem auf die mögliche Wirksamkeit anderer Immunsuppressiva wie Azathioprin hin. Die einfachste Art der topischen immunmodulatorischen Behandlung erfolgt mit dem Reizmittel Dithranol (in der Schweiz nicht im Handel), das bei Psoriasis eingesetzt wird. Die wirksamste Form der Immuntherapie ist die topische Sensibilisierung mit Diphenylcyclopropenon (Diphencypron, DCP) oder Quadratsäuredibutylester (squaric acid dibutylester, SABDE; weder DCP noch SABDE sind als zugelassene Medikamente verfügbar, Herstellung durch Apotheke möglich). Daneben wird Minoxidil (Alopexy®, Neocapil®, Regaine®) seit Langem bei Alopecia androgenetica zur Förderung des Haarwuchses verwendet. Bei Alopecia areata erfolgt idealerweise eine Kombination mit anderen Behandlungen wie Dithranol-Creme oder einer oralen Glukokortikoidgabe. Weitere topische und systemische Wirkstoffe wurden versuchsweise eingesetzt, aber es konnte kein eindeutiger therapeutischer Nutzen festgestellt werden.
Ausblick
Aktuelle pathobiologische Konzepte könnten der Forschung
helfen, um bessere Behandlungsoptionen für die Linderung
oder Heilung der Alopecia areata zu entwickeln. Dabei sind
verschiedene Strategien denkbar. Mögliche Therapien könn-
ten beim verlorengegangenen Immunprivileg des Haarfolli-
kels ansetzen oder eine starke durch den Rezeptor NKG2D
auf NK- und CD8+-Zellen vermittelte Signalübertragung an-
tagonisieren. Zudem ist die Interaktion pathogener CD8+-T-
Zellen mit Haarfollikelantigenen auf MHC-Klasse-I-Mole-
külen ein guter Ausgangspunkt.
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Monika Lenzer
Quelle: Gilhar A et al.: Alopecia areata. N Engl J Med 2012; 366:1515–1525.
Interessenkonflikte: Die Autoren geben an, Zuwendungen von der National Alopecia Areata Foundation sowie Gelder von der Deutschen Forschungsgemeinschaft und verschiedenen Pharmaunternehmen erhalten zu haben.
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