Transkript
Antibiotika bei Halsschmerzen?
Meist eine selbstlimitierende Infektion
FORTBILDUNG
Die meisten Pharyngitiden werden durch Viren verursacht. Damit stellt sich in der Praxis immer wieder die Frage, ob im Einzelfall doch eine bakterielle Infektion vorliegen könnte und Antibiotika verordnet werden sollten.
HANNELORE WÄCHTLER UND JEAN-FRANÇOIS CHENOT
Zirka 50 bis 80 Prozent der Pharyngitiden sind durch Viren bedingt, bei einem Drittel lässt sich gar kein Erreger nachweisen. Nur in etwa 15 bis 30 Prozent werden betahämolysierende Streptokokken der Gruppe A (GAS) isoliert. Es gibt aber asymptomatische Träger. Die GAS-Pharyngitis hat einen Erkrankungsgipfel bei den 5- bis 15-Jährigen. Auch GAS-Pharyngitiden haben eine sehr hohe Spontanheilungstendenz (5). Anhand eines Fallbeispiels (Kasten 1) wird das Vorgehen in der Praxis erläutert. Für den Praxisalltag muss eine Entscheidungsregel möglichst einfach und prägnant sein. Mit dem Centor-Score (Kasten 2) kann klinisch die Wahrscheinlichkeit, dass eine Infektion mit Streptokokken der Gruppe A (GAS) vorliegt, abgeschätzt werden (2). Ein Rachenabstrich für einen Schnelltest oder eine Kultur sollte nur durchgeführt werden, wenn das Ergebnis die Entscheidung für oder gegen eine Antibiotikatherapie beein-
Merksätze
❖ Halsschmerzen beruhen meist auf einer akuten selbstlimitierenden Infektion.
❖ Die Wirkung von Antibiotika auf Symptome und Krankheitsdauer ist auch bei Nachweis von Streptokokken der Gruppe A (GAS) nur moderat.
❖ Eine routinemässige Antibiotikaverordnung zur Prävention von Komplikationen ist gegenwärtig nicht indiziert.
❖ Ein Schnelltest oder kultureller Nachweis von GAS sollte nur bei Entscheidungsrelevanz durchgeführt werden.
Der Fall
Eine 23-jährige Medizinstudentin stellt sich mit seit zwei Tagen anhaltenden äusserst heftigen Halsschmerzen vor. Sie ist in einem guten Allgemeinzustand und hat kein Fieber. Der Rachen zeigt eine ausgeprägte Rötung, die Tonsillen sind fraglich belegt und nicht verzogen. Zwei druckschmerzhafte Lymphknoten rechts sind tastbar. Husten besteht nicht. Die Patientin drängt darauf, ein Antibiotikum verordnet zu bekommen - zum einen wegen der heftigen Schmerzen, zum anderen, weil sie Komplikationen befürchtet. Fragestellungen: ❖ Sollte ein Rachenabstrich durchgeführt werden? ❖ Sollte ein Antibiotikum verordnet werden und wenn ja,
welches? ❖ Welche Therapie ist ansonsten zu empfehlen?
flusst. Schnelltests auf GAS-Antigen haben gegenüber der Kultur eine Spezifität von 95 Prozent, während die Sensitivität mit 70 bis 90 Prozent deutlich niedriger ist (3). Im oben genannten Fall beträgt der Centor-Score 2, das heisst, die Wahrscheinlichkeit von GAS im Abstrich liegt bei nur zirka 15 Prozent. Zur Frage «Antibiotikum: ja oder nein?» schlägt die Leitlinie der DEGAM (Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin) einen Algorithmus vor (Abbildung 1). Ein Rachenabstrich ist bei einem solchen mittleren Score vertretbar. In unserem Fall fällt er negativ aus. Wird ein Antibiotikum als klinisch nützlich eingeschätzt, was bei unserer Patientin nicht der Fall ist, wäre Penicillin das Mittel der ersten Wahl und eine Behandlung über 7 Tage ausreichend (9). Bei der Medizinstudentin wird aber auf Antibiotika verzichtet und werden Salbeipastillen und Paracetamol empfohlen. Bei vielen Patienten mit Antibiotikawunsch liegt ein Missverständnis vor, sie wünschen sich eigentlich eine Schmerztherapie (8). Die Wirkung von Antibiotika ist allenfalls moderat, jedoch etwas ausgeprägter bei klinischen Zeichen einer GAS-Pharyngitis. Für Patienten mit Halsschmerzen und 3 Centor-Kriterien lässt sich für eine orale Penicillinbehandlung eine NNT (number needed to treat: so viele Patienten müssen behandelt werden, damit einer profitiert) von 5 bis 6 für Symptomfreiheit am 3. Behandlungstag annehmen. Die Krankheitsdauer wird um 1 bis 1½ Tage verkürzt (5, 9).
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Bei zusätzlichem Nachweis von GAS lässt sich für eine orale Penicillinbehandlung eine NNT von 4 für Abklingen der Halsschmerzen am 3. Behandlungstag annehmen.
Centor-Score
Er dient zur Abschätzung der Wahrscheinlichkeit, dass eine Pharyngitis mit Gruppe-A-Streptokokken (GAS) vorliegt.
4 Kriterien: – Fieber in Anamnese – Fehlen von Husten – geschwollene vordere Halslymphknoten – Tonsillenexsudate
Anzahl Kriterien
4 3 2 1 0
Wahrscheinlichkeit von GAS im Rachenabstrich
zirka 50 – 60% zirka 30 – 35%
zirka 15% zirka 6 – 7% zirka 2,5%
LR 6,3 LR 2,1 LR 0,75 LR 0,3 LR 0,16
LR: Likelihood Ratio; diese gibt an, um wie viel mal häufiger ein positives Testresultat bei Personen mit Erkrankung vorkommt im Vergleich zu Personen ohne Erkrankung; auch Personen ohne Erkrankung können einen positiven Test aufweisen; siehe auch: www.evimed.ch/glossar/
Ist eine nicht antibiotisch behandelte GAS-Pharyngitis risikoreich? Nicht eitrige Komplikationen sind das akute rheumatische Fieber (ARF) und die akute Poststreptokokken-Glomerulonephritis (APSGN) (4). Das ARF ist in Industrieländern extrem selten geworden, sodass die Prävention des ARF gegenwärtig kein Argument für eine Antibiotikaverordnung ist. Es gibt keine Evidenz für die Prävention einer APSGN durch Antibiotika. Die meisten Fälle verlaufen symptomarm mit einer Mikrohämaturie und heilen unbemerkt aus. Daher wird eine routinemässige Untersuchung des Urins nach Streptokokkeninfekten nicht mehr empfohlen.
Welche symptomatische Therapie?
Paracetamol oder Ibuprofen lindert Halsschmerzen (1, 6).
Für viele Haus- und Naturheilmittel oder rezeptfreie Medi-
kamente gibt es keinen Nutzennachweis. Unspezifische
Massnahmen wie viel trinken, gurgeln mit Salzwasser oder
Tee, lutschen nicht medizinischer Bonbons oder Halswickel
können mit Einschränkung empfohlen werden. Medizinische
Lutschtabletten, Gurgellösungen und Rachensprays mit
Lokalantiseptika und/oder Lokalanästhetika werden nicht
empfohlen. Lokalantiseptika wirken nur an der Oberfläche,
während sich die Infektion in der Tiefe abspielt (7). Pflanz-
liche und homöopathische Mittel können bei ausgeprägtem
Therapiewunsch oder unzureichender Wirksamkeit besser
belegter symptomatischer Massnahmen mit Einschränkung
empfohlen werden.
❖
Korrespondenzadressen: Prof. Dr. med. Jean-François Chenot, MPH Abteilung Allgemeinmedizin Institut für Community Medicine Universitätsmedizin Greifswald, Körperschaft des öffentlichen Rechts Ellernholzstrasse 1–2 D-17487 Greifswald
Dr. med. Hannelore Wächtler Ärztin für Allgemeinmedizin – Psychotherapie D-23701 Eutin
Literatur: 1. Burnett I, Schachtel B, Sanner K et al.: Onset of analgesia of a paracetamol tablet containing
sodium bicarbonate: A double-blind, placebo-controlled study in adult patients with acute sore throat. Clin Ther 2006; 28: 1273–1278. 2. Centor RM, Witherspoon JM, Dalton HP et al.: The Diagnosis of Strep Throat in Adults in the Emergeny Room. Med Decision Making 1981; 1: 239–246. 3. Gerber MA, Shulman ST: Rapid diagnosis of pharyngitis caused by group A streptococci. Clin Microbiol Rev 2004; 17: 571–580. 4. Lamagni TL, Efstratiou A, Vuopio-Varkila J et al.: The epidemiology of severe streptococcus pyogenes associated disease in Europe. Euro Surveill 2005; 10: 179–184. 5. Spinks A, Glasziou PP, Del Mar C: Antibiotics for sore throat. Cochrane Database of Systematic Reviews 2006, Issue 4. Art. No.: CD000023. DOI: 10.1002/14651858. CD000023.pub3. 6. Thomas M, Del Mar C, Glasziou P: How effective are treatments other than antibiotics for acute sore throat? Brit J Gen Pract 2000; 50: 817–820. 7. Wie lange noch unnötige Rachentherapeutika? arzneimitteltelegramm 2002; 33: 107. 8. van Driel ML, De Sutter A, Deveugele M et al.: Are sore throat patients who hope for antibiotics actually asking for pain relief? Ann Fam Med 2006; 4: 494–499. 9. Zwart S, Sachs APE, Ruijs GJHM et al.: Penicillin for acute sore throat: randomised double blind trial of seven days versus three days treatment or placebo in adults. BMJ 2000; 320: 150–154.
Interessenkonflikte: keine deklariert
Abbildung: Algorithmus zur Entscheidungsfindung für die Therapie bei Pharyngitis (GAS: Gruppe-A-Streptokokken)
Diese Arbeit erschien zuerst in «Der Allgemeinarzt» 10/2011. Die Übernahme erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Verlag und Autoren. Anpassungen an die Schweiz erfolgten durch die Redaktion von ARS MEDICI.
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