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STUDIE REFERIERT
Vitamin-D-Supplementation muss ausreichend hoch dosiert werden
Metaanalyse zur Prävention von Hüftfrakturen und nichtvertebralen Knochenbrüchen
Ältere Menschen über 65 Jahre haben ein erhöhtes Risiko für Hüftund andere Frakturen. Eine universelle Vitamin-D-Supplementation ist aber bis jetzt umstritten, da die verfügbaren Studienergebnisse inkonsistent sind. Eine neue Metaanalyse versuchte die Bedeutung der tatsächlich eingenommenen Vitamin-D-Menge bei jedem einzelnen Studienteilnehmer abzuschätzen und zum präventiven Nutzen in Beziehung zu setzen.
NEJM
Rund drei Viertel der Frakturen ereignen sich bei Menschen über 65 Jahre, und mit der demografischen Entwicklung ist in den kommenden Jahrzehn-
Merksätze
❖ Eine neue Metaanalyse hat die individuellen Teilnehmerdaten aus 11 doppelblinden, randomisierten, kontrollierten Studien mit oraler Vitamin-D-Supplementation mit oder ohne Kalzium zur Prävention von Hüft- und nichtvertebralen Frakturen zusammengefasst.
❖ Eine signifikante Reduktion des Frakturrisikos ergab sich nur für Teilnehmer mit der höchsten Vitamin-D-Einnahme (≥ 800 IU/Tag).
❖ In dieser Gruppe betrug die Reduktion von Hüftfrakturen 30 Prozent und diejenige für nichtvertebrale Frakturen 14 Prozent.
❖ Dieser Nutzen war in verschiedenen Untergruppen (Alter, Wohnsituation, Ausgangs-25OH-Vitamin-D-Spiegel und zusätzliche Kalziumeinnahme) weitgehend konsistent.
ten mit einem dramatischen Anstieg zu rechnen. Eine denkbare Anwort darauf ist eine universelle Vitamin-D-Supplementation. Allerdings stimmen mehrere Metaanalysen randomisierter kontrollierter Studien auf Studienebene sowie eine Metaanalyse an gepoolten Teilnehmerdaten nicht konsistent mit diesem Ansatz überein. Sie fanden nämlich entweder eine Reduktion vom Hüft- und nichtvertebralen Frakturen bei Supplementation mit mindestens 482 IU Vitamin D pro Tag – oder keinen Effekt einer Vitamin-D-Supplementation beziehungsweise eine Hüftfrakturrisikosenkung von 7 bis 16 Prozent zusammen mit einer Kalziumsupplementation (unabhängig von der Vitamin-D-Dosierung). Diese widersprüchlichen Ergebnisse dürften zumindest teilweise durch die Unterschiede in den Studienanlagen wie Verblindung, orale oder parenterale Vitamin-D-Verabreichung oder Berücksichtigung der Nonadhärenz zur Vitamin-D-Zufuhr bedingt sein. Die vorliegende Metaanalyse wollte die Auswirkungen der Vitamin-D-Supplementation zur tatsächlichen Vitamineinnahme der einzelnen Studienteilnehmer in Beziehung setzen, anstatt bloss auf die Dosierung abzustellen, zu der randomisiert wurde.
Methodik Nach Suche in den üblichen Quellen identifizierten Prof. Heike BischoffFerrari, Zentrum Alter und Mobilität, Universitätsspital Zürich, und Mitautoren 12 Studien bei Menschen ab 65 Jahre, die kontrolliert und randomisiert eine orale Vitamin-D-Supplementation mit oder ohne Kalzium erhalten hatten. Sie konnten die individuellen Daten von 11 Studien mit 30 011 Teilnehmern erhalten, bei denen Art und Datum der Fraktur sowie Studienein-
tritt und -austritt bekannt waren. Bei 7 Studien waren Angaben zur Befolgung der präventiven Intervention (Adhärenz) für alle Teilnehmer verfügbar. Bei den 4 anderen Studien mussten die Autoren auf den mittleren Adhärenzwert Rückgriff nehmen. Primäre Endpunkte waren die Risiken für Hüft- sowie jegliche nichtvertebrale Frakturen. Die primäre Analyse verglich die tatsächliche Vitamin-D-Einnahme in Quartilen zwischen behandelten Teilnehmern und Kontrollen. Prädefinierte Subgruppenanalysen galten den Altersgruppen, der Wohnsituation individuell oder in Alters- und Pflegeinstitutionen sowie dem Ausgangswert der 25-OH-Vitamin-Konzentration (unter bzw. über 30 nmol/l) und einer zusätzlichen Kalziumsupplementation (unter bzw. über 1000 mg/l).
Resultate Von 4383 Teilnehmerinnern und Teilnehmern lag eine Ausgangsmessung der Vitamin-D-Spiegel im Blut vor. Demnach hatten 24 Prozent eine 25-OH-Vitamin-Konzentration unter 30 nmol/l, 62 Prozent unter 50 nmol/l und 88 Prozent unter 75 nmol/l. Die Intention-to-treat-Analyse zeigte eine nicht signifikante 20-prozentige Reduktion der Hüftfrakturen (Hazard Ratio [HR] 0,90, 95%-Konfidenzintervall [KI] 0,80 – 1,01), unabhängig von der verordneten Dosis, und eine Reduktion jeglicher nichtvertebraler Frakturen von 7 Prozent (HR 0,93, 95%-KI 0,87 – 0,99). Die Berücksichtigung der tatsächlichen Vitamin-D-Einnahme ergab jedoch beim höchsten Vitamin-D-Einnahmeniveau von 792 bis 2000 IU pro Tag im Vergleich mit der niedrigsten VitaminD-Einnahme (0 – 360 IU pro Tag) eine signifikante 30-prozentige Reduktion der Hüftfrakturen (HR 0,70, 95%-KI 0,58 – 0,86) und eine signifikante Reduktion der nichtvertebralen Frakturen von 14 Prozent (HR 0,86, 95%-KI 0,76 – 0,96). Sensitivitätsanalysen bestätigten diese Ergebnisse. Die Subgruppenanalysen ergaben den Hinweis, dass der Effekt der höchsten tatsächlich eingenommenen VitaminD-Dosis über die Subgruppen von Alter, Wohnsituation und Ausgangs25-OH-Vitamin-Konzentration relativ konsistent war. Allerdings stützt sich die Analyse für die Vitamin-D-Aus-
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gangswerte auf ein kleineres Kollektiv. Die Resultate lassen ausserdem vermuten, dass die tatsächliche Vitamin-DEinnahme bei ambulant lebenden Teilnehmern im Vergleich zu in Institutionen untergebrachten hinsichtlich der Verhütung nichtvertebraler Frakturen weniger effektiv ist.
Diskussion «Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass nur eine hohe Einnahme von Vitamin D zu einer signifikanten Reduktion des Frakturrisikos – 30 Prozent bei Hüftfrakturen und 14 Prozent bei nichtvertebralen Frakturen – führt», resümieren die Autoren und fahren fort: «So ist es möglich, dass die Ergebnisse typischer Intention-to-treat-Analysen den Nutzen der Vitamin-D-Supplementation unterschätzen, was sich in der nicht signifikanten 10-prozentigen Hüftfrakturrisikoreduktion und der 7-prozentigen Risikoreduktion für nichtvertebrale Frakturen auch in unserer Intention-to-treat-Analyse der gepoolten Daten widerspiegelt.» Der Nutzen des höchsten Niveaus der tatsächlichen Vitamin-D-Einnahme wurde auch in der internen Validierungsanalyse bestätigt, welche die höchste mit der tiefsten tatsächlichen Vitamin-D-Einnahme unabhängig von der Studienrandomisierung verglich. Eine Dosis-Response-Beziehung zwischen Vitamin D und Frakturrisiko wird zusätzlich gestützt durch die Analyse der 25-OH-Vitamin-D-Spiegel der Studienteilnehmer und des prospektiven Frakturrisikos. «Unsere Ergebnisse deuten darauf hin, dass einige frühere Vitamin-D-Supplementationsstudien guter Qualität entweder wegen tiefer als beabsichtigter Vitamin-D-Dosen keinen oder wegen höher als beabsichtigter Vit-
amin-D-Dosen einen unerwarteten Nutzen zeigten», schreiben die Autoren weiter. Zudem liessen die Sensitivitätsanalysen den Schluss zu, dass das Vitamin-D-Dosierungsintervall für die Frakturreduktion relevant sein könnte. Insbesondere resultierte eine kleinere Risikoreduktion, wenn eine Studie mit einmal jährlicher Vitamin-D-Gabe in die Analyse eingeschlossen wurde. Eine häufigere – tägliche oder wöchentliche – Einnahme adäquater Vitamin-DDosen ist gemäss der vorliegenden Analyse ein Weg zur Verminderung des Risikos von Hüft- und nichtvertebralen Frakturen. Die Ergebnisse dieser Metaanalyse stützen die jüngsten Empfehlung des Institute of Medicine (IOM), die für Personen ab 65 Jahre 800 IU Vitamin D pro Tag vorsehen und gleichzeitig festhalten, dass ein 25-OH-Vitamin-DSpiegel von > 60 nmol/l für die Frakturrisikoreduktion am günstigsten ist.
«Ist einmal eine adäquate Konzentration erreicht, hat eine zusätzliche Einnahme keine Wirkung» Ein begleitendes Editorial im «New England Journal of Medicine» würdigt die Ergebnisse der neuesten Metanalyse von Bischoff-Ferrari und Mitautoren als kongruent mit den neuesten Empfehlungen der Endocrine Society, die auf 1500 bis 2000 IU Vitamin D pro Tag lauten (2). Dass Dutzende von randomisierten, kontrollierten Studien zur Vitamin-DSupplementation und Frakturrisikoreduktion positive, neutrale oder sogar negative Resultate lieferten und auch viele Metaanalysen inkonsistente Ergebnisse zeigten, hat sicher mit unterschiedlichen Einschlusskriterien und der unterschiedlichen Berücksichtigung der Adhärenz zu tun, aber auch
mit dem Umstand, dass Vitamin D die
Art der Dosis-Response-Beziehung mit
den meisten Nahrungsbestandteilen ge-
mein hat. Eine Therapie- beziehungs-
weise Supplementationsantwort hängt
von der Ausgangskonzentration des
Wirkstoffs im Körper ab. Leider wurde
der Ausgangssituation in den meisten
Vitamin-D-Supplementationsstudien
keine Beachtung geschenkt. Auch Bi-
schoff-Ferrari und Mitautoren fanden
unter 31 022 Patienten gerade einmal
4383, bei denen die Ausgangskonzen-
tration von 25-OH-Vitamin-D greifbar
war. «Nahrungsbestandteile sind in vie-
lerlei Hinsicht nicht wie Medikamente.
Ist einmal eine adäquate Konzentration
erreicht, hat eine zusätzliche Einnahme
keine Wirkung», schreibt der Editoria-
list. Diese Binsenwahrheit sei nicht viel
mehr als eine Bekräftigung der traditio-
nellen Skepsis vieler Mediziner gegen-
über dem angeblichen Nutzen vieler
Nahrungsergänzungsmittel und auch
die Basis für die Empfehlung des IOM
zu 800 IU Vitamin D pro Tag ab 65 Jah-
ren.
Allerdings gibt es auch Argumente für
höhere Dosen, wie sie die Endocrine So-
ciety vorschlägt (1500 – 2000 IU pro
Tag). Deshalb sei wohl eine tägliche Vit-
amin-D-Dosis im oberen Bereich des
höchsten Einahmeniveaus dieser Me-
taananlyse (792–2000 IU pro Tag)
sinnvoll.
❖
Halid Bas
1. Heike A. Bischoff-Ferrari et al.: A pooled analysis of vitamin D dose requirements for fracture prevention. N Engl J Med 2012; 367: 40–49. 2. Robert P. Heaney: Vitamin D – baseline status and effective dose. N Engl J Med 2012; 367: 77–78.
Interessenlage: Die Studie wurde unterstützt vom Schweizerischen Nationalfonds.
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