Transkript
FORTBILDUNG
Prädiabetes und Schlaganfallrisiko
Definieren geht über Studieren
Aus einem Review mit Metaanalyse geht hervor, dass Prädiabetes das Schlaganfallrisiko erhöhen kann. Allerdings variiert dieses Risiko abhängig davon, wie man Prädiabetes definiert.
druck, Übergewicht, körperliche Inaktivität, Insulinresistenz, endotheliale Dysfunktion, ein prokoagulatorischer Status und systemische Entzündungsvorgänge. In älteren Studien wurde Prädiabetes mit einem geringfügigen Anstieg des Risikos für kardiovaskuläre Ereignisse assoziiert.
BMJ
Die epidemieartige Ausbreitung von Übergewicht in den USA ist unweigerlich auch mit einem sprunghaften Anstieg der Prädiabetesraten verbunden. Schätzungen zufolge sind bereits etwa 35 Prozent der Erwachsenen in den USA davon betroffen. Der Anteil der Prädiabetespatienten ist mehr als dreimal so hoch wie der Anteil der manifesten Diabetiker. Bedenklich ist dabei vor allem, dass sich die Mehrheit der Gefahr des Diabetesrisikos nicht bewusst ist. Prädiabetes wird meist als gestörte Nüchternglukose, als gestörte Glukosetoleranz oder eine Kombination beider Störungen verstanden. Die Amerikanische Diabetes Association (ADA) definierte 1997 eine gestörte Nüchternglukose als Plasmaglukosekonzentrationen von 110 bis 125 mg/dl (6,1–6,9 mmol/l). Im Jahr 2003 legte sie dann Plasmaglukosekonzentrationen von 100–125 mg/dl (5,6–6,9 mmol/l) als neue Grenzwerte zur Diagnose von Prädiabetes fest. Die pathophysiologischen Störungen (Insulinresistenz und gestörte Betazellfunktion), die für die Entwicklung des Diabetes Typ 2 verantwortlich sind, findet man auch bereits bei Personen mit Prädiabetes. Zudem liegen bei ihnen auch häufig die gleichen vaskulären Risikofaktoren vor wie bei Typ-2-Diabetikern mit einem hohen Risiko für makrovaskuläre Komplikationen. Dazu gehören Dysglykämie, Bluthoch-
Merksätze
❖ Inwieweit Prädiabetes und Schlaganfallrisiko korrelieren, ist abhängig von der Definition des Prädiabetes.
❖ Prädiabetes, definiert über eine gestörte Glukosetoleranz, ist mit einem erhöhten Schlaganfallrisiko verbunden.
❖ Prädiabetes entsprechend der neueren Definition einer Nüchternglukose von 100 bis 125 mg/dl ist nicht mit einem erhöhten Schlaganfallrisiko assoziiert.
Review mit Metaanalyse Eine amerikanisch-taiwanesische Arbeitsgruppe untersuchte jetzt in einer Metaanalyse die Verbindung von Prädiabetes mit dem Schlaganfallrisiko nach Abgleich mit anderen Risikofaktoren. Ausserdem prüften die Wissenschaftler, ob sich dieser Zusammenhang entsprechend dem jeweils gewählten Grenzwert für eine gestörte Nüchternglukose oder dem Einschliessen/Ausschliessen der Diagnosekriterien für eine gestörte Glukosetoleranz verändert. In der systematischen Review mit Metaanalyse wurden prospektive Kohortenstudien aus dem Zeitraum von 1947 bis 2011 einbezogen, in denen multivariat adjustierte relative Risiken (RR) sowie 95%-Konfidenzintervalle (KI) für das Auftreten von Schlaganfällen in Verbindung mit Baseline-Prädiabetes aufgeführt waren.
Ergebnisse Für die Metaanalyse wählten die Autoren 15 prospektive Kohortenstudien mit insgesamt 760 925 Teilnehmern aus. In acht Studien wurde Prädiabetes anhand der neu festgelegten Nüchternglukosewerte von 100 bis 125 mg/dl definiert. Die Gesamtschätzung entsprechend dem Zufallseffektmodell ergab hier nach Adjustierung für manifeste kardiovaskuläre Risikofaktoren kein erhöhtes Schlaganfallrisiko (RR 1,08, 95%-KI 0,94–1,23; p=0,26). In fünf Studien, in denen Prädiabetes über eine Nüchternglukose von 110 bis 125 mg/dl definiert wurde, stellten die Forscher in der Gesamtschätzung dagegen nach Adjustierung für kardiovaskuläre Risikofaktoren ein erhöhtes Schlaganfallrisiko fest (RR 1,21; 95%-KI: 1,02–1,44; p = 0,03). In weiteren acht Studien, in denen eine gestörte Glukosetoleranz oder eine Kombination aus Glukoseintoleranz und gestörter Nüchternglukose berücksichtigt wurde, ergab die Gesamtschätzung nach Adjustierung für kardiovaskuläre Risikofaktoren ebenfalls ein erhöhtes Schlaganfallrisiko (RR 1,26; 95%-KI 1,10–1,43; p = 0,001). In einer Sensitivitätsanalyse wurden Studien ausgeschlossen, in denen auch nichtdiagnostizierte Diabetiker mit aufgenommen worden sein könnten. In dieser Analyse wurde lediglich bei einer gestörten Glukosetoleranz sowie bei einer Kombination aus gestörter Nüchternglukose und gestörter
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Glukosetoleranz ein erhöhtes Schlaganfallrisiko beobachtet (RR 1,20; 95%-KI 1,07–1,53; p = 0,002). In einer Subgruppenanalyse dreier Studien, in denen die Teilnehmer Nüchternglukosewerte von 100 bis 109 mg/dl aufwiesen, stellten die Autoren kein erhöhtes Schlaganfallrisiko fest (RR 0,94; 95%-KI 0,73–1,20; p = 0,61). Insgesamt schlussfolgern die Verfasser, dass Prädiabetes – definiert als gestörte Glukosetoleranz oder eine Kombination aus gestörter Nüchternglukose und gestörter Glukosetoleranz – mit einem erhöhten Risiko für Schlaganfälle verbunden sein kann.
Diskussion In ihrer Metaanalyse kamen die Autoren zu dem Ergebnis, dass bei Prädiabetes, der durch eine Nüchternglukose von 110 bis 125 mg/dl oder über eine beeinträchtigte Glukosetoleranz definiert wird, ein erhöhtes Risiko für einen Schlaganfall bestand. Die neuere, weniger stringente Definition der gestörten Nüchternglukose von 100 bis 125 mg/dl war dagegen nicht mit einem höheren Schlaganfallrisiko verbunden. Nach Ausschluss von Studien, in denen auch nichtdiagnostizierte Diabetiker eingeschlossen worden sein könnten, wurde lediglich bei gestörter Glukosetoleranz oder bei einer Kombination aus gestörter Nüchternglukose und gestörter Glukosetoleranz ein signifikanter Zusammenhang mit dem Schlaganfallrisiko festgestellt. Die in der Sensitivitätsanalyse beobachtete fehlendende Verbindung zwischen einer gestörten Nüchternglukose und dem Schlaganfallrisiko stimmt mit den Ergebnissen einer anderen neueren Metaanalyse auf der Basis individueller Patientendaten überein. Dieses Resultat untermauert die Vermutung, dass postprandiale ZweistundenPlasmaglukosewerte möglicherweise bessere Prädiktoren für makrovaskuläre Komplikationen sind als die Nüchternglukose. Das Risiko für einen Schlaganfall scheint progressiv über das Erkrankungsspektrum hinweg – von der Insulinresistenz aufgrund der gestörten Nüchternglukose über die beeinträchtigte Glukosetoleranz bis hin zum manifesten Diabetes – anzusteigen. Dies weist darauf hin, dass die Hyperglykämie einen kontinuierlichen Risikofaktor für einen Schlaganfall darstellen könnte. Insgesamt gesehen korrelierten Prädiabetes und Schlaganfallrisiko nach Ansicht der Autoren jedoch nur schwach, sodass Störfaktoren diese Resultate leicht beeinflussen könnten. Aus ihren Ergebnissen folgern die Forscher, dass die Definition des Prädiabetes im Hinblick auf das Schlaganfallrisiko von Bedeutung sein kann. Obwohl die Insulinresistenz einen
gewissen Risikofaktor im Hinblick auf einen zukünftigen Schlaganfall darstellt, scheint die gestörte Glukosetoleranz das einzige Diagnosekriterium zu sein, das eindeutig mit dem Schlaganfallrisiko verbunden ist. Für beachtenswert hielten die Wissenschaftler zudem, dass eine neue Empfehlung der ADA für das Prädiabetes-Screening mittlerweile auch die Berücksichtigung des HbA1cWerts als weitere diagnostische Option einschliesst. In diesen Empfehlungen wird konstatiert, dass ein HbA1c-Wert zwischen 5,7% und 6,4% Personen mit einem hohen Diabetesrisiko identifiziert und somit Prädiabetes vorliegt. Die Autoren konnten dieses Diagnosekriterium nicht in ihre Metaanalyse einschliessen, weil diese Empfehlungen der ADA noch nicht veröffentlicht worden waren, als die hier ausgewerteten prospektiven Kohortenstudien durchgeführt wurden.
Schlussfolgerungen und Handlungsimplikationen Die Autoren fordern, Personen mit Prädiabetes auf das erhöhte Risiko für Schlaganfälle aufmerksam zu machen. Zudem liegen bei Prädiabetes auch häufig kardiovaskuläre Risikofaktoren vor. Nach der Diagnose sollte deshalb das gesamte kardiovaskuläre Risikoprofil des Betroffenen evaluiert werden, um die Modifizierung aller vorhandenen Risikofaktoren sicherzustellen. Angesichts der engen Beziehung zwischen Prädiabetes und Übergewicht ist ein Gewichtsverlust in Verbindung mit einem gesunden Lebensstil bei Prädiabetikern mit einem verringerten Risiko für einen Übergang zu manifestem Diabetes verbunden und könnte auch das Schlaganfallrisiko reduzieren. Aus ihren Ergebnissen folgern die Autoren zudem, dass sowohl der Nüchtern-Plasmaglukosewert als auch der postprandiale Zweistunden-Plasmaglukosespiegel zur Identifizierung von Patienten mit Prädiabetes herangezogen werden sollten. Ausserdem sind nach Ansicht der Wissenschaftler randomisierte Studien erforderlich, in denen die Auswirkungen der glykämischen Kontrolle (HbA1c-Wert) auf das Schlaganfallrisiko bei Personen mit gestörter Glukosetoleranz oder einer Kombination aus gestörter Nüchternglukose und gestörter Glukosetoleranz untersucht werden sollten. ❖
Petra Stölting
Meng Lee et al.: Effect of pre-diabetes on future risk of stroke: meta-analysis. BMJ 2012; 344: e3564
Interessenkonflikte: keine deklariert
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