Transkript
FORTBILDUNG
Neue Empfehlungen für die Behandlung bei Typ-2-Diabetes
Gemeinsames Positionspapier der EASD und ADA
Kein starrer HbA1c-Zielwert mehr, keine Therapiealgorithmen, die genau festlegen, wann welches Antidiabetikum verabreicht werden soll: Ein von der European Association for the Study of Diabetes (EASD) und von der American Diabetes Association (ADA) gemeinsam erarbeitetes Positionspapier plädiert für ein individualisiertes, patientenzentriertes Vorgehen und gewährt bei den Therapiezielen und bei der Wahl der antihyperglykämischen Medikamente mehr Spielraum.
DIABETOLOGIA
Die Diabetestherapie ist in den letzten Jahren komplexer geworden. Neue Antidiabetika, Bedenken hinsichtlich potenzieller Nebenwirkungen und die Unsicherheit, welchen Nutzen eine strenge Blutzuckereinstellung bezüglich makrovaskulärer Komplikationen bringt, haben die Betreuung von Patienten mit Typ-2-Diabetes nicht gerade vereinfacht. Viele Ärzte fragen sich, welche Therapiestrategie für ihre Patienten am besten geeignet ist. Aus diesem Grund entschlossen sich die Fachgesellschaften ADA und EASD dazu, gemeinsam
Empfehlungen für die antihyperglykämische Therapie von Erwachsenen mit Typ-2-Diabetes zu entwickeln.
Individualisierung der Therapie entscheidend für den Erfolg Bei der Therapieentscheidung müssen der progrediente und variable Krankheitsverlauf des Typ-2-Diabetes, die spezifische Rolle jedes einzelnen Antidiabetikums, patienten- und krankheitsbezogene Faktoren sowie Komorbiditäten berücksichtigt werden. Die Individualisierung der Therapie ist entscheidend für den Erfolg, wie die Autoren betonen. Für den behandelnden Arzt bedeutet das, nicht nur die aktuelle Evidenzlage, sondern auch die Bedürfnisse und Einschränkungen jedes einzelnen Patienten zu berücksichtigen. Eine Betreuung, welche die Bedürfnisse und Präferenzen jedes einzelnen Patienten bei klinischen Entscheidungen berücksichtigt, sollte bei jeder chronischen Erkrankung selbstverständlich sein. Beim Typ-2-Diabetes ist ein patientenzentriertes Vorgehen besonders wichtig, weil es in der Hand des Patienten liegt, welche empfohlenen Lebensstiländerungen er in seinem Alltag umsetzt. Bis zu einem gewissen Grad gilt das auch für die medikamentöse Behandlung. Deshalb sollten Arzt und Patient Therapieentscheidungen gemeinsam treffen. Dies dürfte auch zu einer guten Therapieadhärenz beitragen.
Merksätze
❖ Die glykämischen Zielwerte und die blutzuckersenkenden Therapien müssen für jeden Typ-2-Diabetiker individuell definiert werden.
❖ Ernährung, Bewegung und Patientenedukation bilden die therapeutische Basis.
❖ Metformin ist in den meisten Fällen das optimale Erstlinienmedikament.
❖ Reicht Metformin nicht mehr aus, können ein bis zwei orale oder injizierbare Medikamente dazugegeben werden.
❖ Im Krankheitsverlauf benötigen die meisten Patienten für eine zufriedenstellende glykämische Kontrolle Insulin.
Glykämische Zielwerte Studien der letzten Jahre haben ergeben, dass nicht alle Patienten mit Typ-2-Diabetes von einer straffen Stoffwechseleinstellung profitieren. Deswegen plädieren EASD und ADA in ihrem Positionspapier dafür, die Therapieziele für jeden Patienten individuell zu definieren. Im Jahr 2011 empfahl die ADA in den «Standards of Medical Care in Diabetes», den HbA1c-Wert bei den meisten Patienten auf < 7,0% (< 53 mmol/mol) zu senken, um mikrovaskulären Erkrankungen entgegenzuwirken. Dies lässt sich erreichen, wenn der durchschnittliche Blutzuckerwert bei etwa 8,3 bis 8,9 mmol/l (ca. 150–160 mg/dl) liegt. Idealerweise sollten die nüchtern und präprandial gemessenen Blutglukosewerte < 7,2 mmol/l (< 130 mg/dl) und der postprandiale Wert < 10 mmol/l (< 180 mg/dl) betragen. Strengere HbA1c-Zielwerte (z.B. 6,0–6,5% [42–48 mmol/mol]) können bei selektierten Patienten (kurze Krankheitsdauer, lange Lebenserwartung, keine signifikanten kardiovaskulären Erkrankungen) erwogen werden, wenn dies ohne signifikante Hypoglykämien oder andere Nebenwirkungen der Therapie erreicht werden kann. ARS MEDICI 15 ■ 2012 771 FORTBILDUNG Umgekehrt sind weniger straffe HbA1c-Zielwerte – beispielsweise 7,5 bis 8,0% (58–64 mmol/mol) oder sogar etwas höher – für Patienten geeignet, die schwere Hypoglykämien in der Vorgeschichte, fortgeschrittene Komplikationen, ausgeprägte Begleiterkrankungen oder eine kurze Lebenserwartung haben. Dies gilt auch für Patienten, bei denen der Zielwert trotz intensiver Patientenedukation, wiederholter Beratung und effektiver Dosierung mehrerer antihyperglykämischer Medikamente einschliesslich Insulin schlecht zu erreichen ist. Das neue Positionspapier empfiehlt, bei der Definition des individuellen Therapieziels folgende Faktoren miteinzubeziehen: ❖ Haltung des Patienten und erwartete Motivation/Adhärenz ❖ Risiken, die bei einer Hypoglykämie zu erwarten wären/ andere Nebenwirkungen ❖ Krankheitsdauer ❖ Lebenserwartung ❖ Wichtige Komorbiditäten ❖ Manifeste vaskuläre Komplikationen ❖ Ressourcen/Unterstützung des Patienten. Basis der Diabetestherapie: Lebensstilinterventionen Massnahmen, die auf Bewegung und Ernährung abzielen, sind wichtige Komponenten der Behandlung des Typ-2-Diabetes. Alle Patienten sollten – individuell oder in einer Gruppe – an einer standardisierten allgemeinen Diabetesedukation teilnehmen, wobei Ernährungsfragen und die Steigerung der körperlichen Aktivität im Mittelpunkt stehen sollten. Es ist wichtig, den Patienten bei Diagnosestellung über therapeutische Lebensstiländerungen zu informieren, doch sollte er auch im Krankheitsverlauf immer wieder eine entsprechende Beratung erhalten. Eine Gewichtsreduktion verbessert die glykämische Kontrolle und andere kardiovaskuläre Risikofaktoren. Bereits eine Gewichtsabnahme um 5 bis 10 Prozent bessert die Blutzuckereinstellung erheblich. Deshalb sollte mit dem Patienten ein Zielgewicht definiert werden. Die Ernährungsberatung muss individuell erfolgen und kulturelle Besonderheiten sowie Vorlieben des Patienten berücksichtigen. Empfehlenswert sind ballaststoffreiche Lebensmittel (wie Gemüse, Obst, Vollkornprodukte und Hülsenfrüchte), fettarme Milchprodukte und frischer Fisch. Energiereiche Lebensmittel, Nahrungsmittel mit einem hohen Gehalt an gesättigten Fettsäuren, Süssigkeiten und Snacks sollten seltener und in geringeren Mengen verzehrt werden. Wichtig ist es auch, den Patienten zu mehr Bewegung zu motivieren. Anzustreben sind wöchentlich mindestens 150 Minuten mässige körperliche Aktivität (aerobes, Widerstands- und Flexibilitätstraining). Bei älteren Patienten und Menschen mit eingeschränkter Mobilität ist jede Steigerung der körperlichen Aktivität vorteilhaft, solange keine kardiovaskulären Gründe dagegensprechen. Hoch motivierten Patienten mit nicht zu hohen HbA1c-Werten (z.B. < 7,5% [< 58 mmol/mol]) kann man die Chance geben, über einen Zeitraum von 3 bis 6 Monaten nur Lebensstilinterventionen durchzuführen, bevor man mit einer Pharmakotherapie (meist Metformin) beginnt. Bei mässiger Hyperglykämie und bei erwartetem Misserfolg von Lebensstilmodifikationen sollte man bereits bei Diagnose- stellung mit einem antihyperglykämischen Medikament beginnen (ebenfalls meist Metformin). Medikamentöse Therapie Orale Antidiabetika und GLP-1-Analoga Wenn keine Kontraindikationen oder Unverträglichkeiten bestehen, ist Metformin das optimale Erstlinienmedikament bei Typ-2-Diabetes. Eine Metformintherapie wird bei Diagnosestellung begonnen oder aber etwas später, wenn ein Behandlungsversuch mit Lebensstilinterventionen allein nicht den gewünschten Erfolg gebracht hat. Wegen häufiger gastrointestinaler Nebenwirkungen empfiehlt es sich, mit einer geringen Metformindosis zu beginnen und die Dosierung allmählich zu erhöhen. Patienten mit einem hohen HbA1c-Ausgangswert (z.B. >9,0% [≥ 75 mmol/mol]) erreichen unter einer Monotherapie nur selten einen normnahen Zielwert. In diesem Fall kann es gerechtfertigt sein, mit einer Kombinationsbehandlung mit zwei Nichtinsulin-Antidiabetika zu beginnen oder aber gleich Insulin zu geben. Wenn sich ein Patient mit ausgeprägten Hyperglykämiesymptomen und/oder mit dramatisch erhöhten Plasmaglukosewerten (z.B. > 16,7–19,4 mmol/l [> 300–350 mg/dl]) oder mit sehr hohem HbA1c (z.B. ≥ 10,0–12,0% [86–108 mmol/mol]) vorstellt, sollte von Anfang an unbedingt eine Insulintherapie erwogen werden. Bei Zeichen einer katabolen Stoffwechsellage oder bei Ketonurie (die einen ausgeprägten Insulinmangel widerspiegelt) ist eine Insulintherapie obligatorisch. Wenn sich die Symptome zurückgebildet haben und die Stoffwechsellage stabilisiert ist, kann das Insulin dann wieder reduziert oder ganz abgesetzt und eine Therapie mit anderen antihyperglykämischen Medikamenten begonnen werden. Falls Metformin nicht eingesetzt werden kann, empfehlen die Autoren ein anderes Antidiabetikum wie Sulfonylharnstoff/Glinid, Pioglitazon oder einen DPP-4-Inhibitor. Gelegentlich kann auch eine Initialtherapie mit einem GLP-1Analogon sinnvoll sein, beispielsweise wenn Gewichtsabnahme ein wichtiger Gesichtspunkt ist. Wenn der HbA1c-Zielwert unter einer Monotherapie über einen Zeitraum von etwa 3 Monaten nicht erreicht/aufrechterhalten werden kann, sollte zusätzlich ein zweites orales Antidiabetikum, ein GLP-1-Analogon oder Basalinsulin gegeben werden. Je höher der HbA1c ist, desto eher ist Insulin erforderlich. Im Allgemeinen erreicht man mit einem zweiten Antidiabetikum eine weitere HbA1c-Senkung um etwa 1 Prozent (11 mmol/mol). Es gibt aber Non-Responder: Wird keine klinisch relevante Korrektur der Glykämie erreicht, sollte man die Substanz absetzen und ein anderes Antidiabetikum mit einem anderen Wirkmechanismus verabreichen. Es gibt keine einheitliche Empfehlung, welche Substanz für die Kombination mit Metformin am besten geeignet ist, da es kaum vergleichende Langzeitstudien gibt. Daher sollte man bei jedem Patienten die Vor- und Nachteile der verschiedenen Antidiabetika gegeneinander abwägen. Wird mit einer Zweifachkombination der individuell angestrebte Zielwert nicht erreicht, kann eine Dreifachtherapie infrage kommen. Doch benötigen viele Patienten aufgrund des progredienten Betazellverlusts im Krankheitsverlauf Insulin. Bei ausgeprägter Hyperglykämie (HbA1c ≥ 8,5%) ist es unwahrscheinlich, dass die zusätzliche Gabe einer weiteren (oralen) Substanz ausreicht.
ARS MEDICI 15 ■ 2012
773
FORTBILDUNG
Insulinbehandlung Viele Diabetespatienten stehen einer Insulintherapie wegen der notwendigen Injektionen skeptisch gegenüber. Hier kann eine entsprechende Edukation und Motivation die Bedenken meist ausräumen. Häufig wird die Insulintherapie mit der einmal täglichen Injektion eines Basalinsulins begonnen. Bei postprandial deutlich erhöhten Blutzuckerwerten (z.B. > 10,0 mmol/l [> 180 mg/dl]) sollte die zusätzliche Gabe eines prandialen Insulins erwogen werden – insbesondere dann, wenn die Nüchternblutzuckerwerte im Zielbereich liegen, aber der HbA1c-Wert nach einer 3- bis 6-monatigen Therapie mit Basalinsulin erhöht bleibt. Eine flexible Behandlungsoption ist die Basal-Bolus-Insulintherapie, bei der zusätzlich zum Basalinsulin präprandial ein rasch wirksames Analoginsulin gespritzt wird. Eine andere – bequeme, aber weniger anpassungsfähige – Methode ist die Behandlung mit Mischinsulin. Dieses besteht
aus einer Kombination aus Intermediärinsulin und Norma-
linsulin oder rasch wirksamem Analoginsulin. Mischinsuline
werden zweimal täglich gespritzt – vor dem Frühstück und
vor dem Abendessen. Die Therapie mit einem Mischinsulin
führt im Vergleich zur alleinigen Gabe von Basalinsulin zu
einer ausgeprägteren HbA1c-Senkung. Die Gefahr von Hypo-
glykämien und Gewichtszunahme ist jedoch unter Misch-
insulintherapie etwas höher.
❖
Andrea Wülker
Silvio E. Inzucchi et al.: Management of hyperglycemia in type 2 diabetes: a patientcentered approach. Position statement of the American Diabetes Association (ADA) and the European Association for the Study of Diabetes (EASD). Diabetologia 2012; 55: 1577–1596.
Interessenkonflikte: Die Autoren geben an, für verschiedene pharmazeutische Unternehmen als Berater oder Referent tätig zu sein bzw. von bestimmten Pharmaunternehmen Forschungsstipendien erhalten zu haben.
774
ARS MEDICI 15 ■ 2012