Transkript
STUDIE REFERIERT
Leichte Schilddrüsenfunktionsstörungen als kardiovaskulärer Risikofaktor
Neue Daten zu subklinischer Hyper- und Hypothyreose
Die Behandlungsbedürftigkeit bei subklinischer Hyper- oder Hypothyreose wird kontrovers diskutiert. Zwei Publikationen liefern nun neue Daten, die unter bestimmten Bedingungen für eine Behandlung sprechen. Gleichzeitig unterstreichen sie die Notwendigkeit randomisierter Studien, um künftig eine bessere Entscheidungsgrundlage für die Praxis zu erlangen.
ARCHIVES OF INTERNAL MEDICINE
Subklinische Hyperthyreose Bei Personen mit einer subklinischen Hyperthyreose ist das Mortalitäts- und das kardiovaskuläre Risiko erhöht. Dies ist das Resultat einer internationalen Studie unter der Leitung von Nicolas Rodondi, Inselspital Bern, und Thin Hai Collet, Universität Lausanne (1). Die Studienautoren werteten die individuellen Daten von Teilnehmern publizierter Kohortenstudien aus, beispielsweise zu Herz-Kreislauf-Krankheiten
Merksätze
❖ Eine subklinische Hyperthyreose (TSH unter 0,45 mU/l, freies Thyroxin normal) ist mit einem leicht erhöhten kardiovaskulären Risiko verbunden. Ob eine Therapie dieses Risiko senken würde, ist nicht bekannt.
❖ 40- bis 70-Jährige mit subklinischer Hypothyreose (TSH 5–10 mU/l) können hinsichtlich ihres Risikos für ischämische Herzerkrankungen von Levothyroxin profitieren, bei älteren Patienten scheint das nicht der Fall zu sein.
oder Ernährung, bei denen zu Beginn auch die Schilddrüsenwerte mit einem zuverlässigen, sensitiven Verfahren gemessen worden waren. Die subklinische Hyperthyreose war folgendermassen definiert: TSH unter 0,45 mU/l, freies Thyroxin normal, keine die Schilddrüsenfunktion beeinträchtigenden Medikamente. Das durchschnittliche Follow-up betrug 8,8 Jahre. Tod, kardiovaskuläres Ereignis oder Vorhofflimmern waren die Endpunkte. Von den insgesamt 52 675 Personen, deren Daten einbezogen wurden, hatten 4,2 Prozent eine subklinische Hyperthyreose (n = 2188), wobei 3,2 Prozent ein TSH zwischen 0,1 und 0,44 mU/l aufwiesen und 0,6 Prozent einen TSHWert unter 0,1 mU/l. Von den euthyreoten 50 485 Personen starben im Beobachtungszeitraum 8129 (16,1%), von den Personen mit subklinischer Hyperthyreose waren es 398 von 2188 (18,2%). Bereinigt um die allgemeinen Risikofaktoren Alter und Geschlecht und hochgerechnet auf Personenjahre ergab sich ein um 24 Prozent erhöhtes Risiko für die Personen mit subklinischer Hyperthyreose (HR 1,24; 95%-Konfidenzintervall [KI]: 1,06–1,46). Betrachtete man nur die kardiovaskulär bedingten Todesfälle (n = 1896), so zeigte sich auch hier ein erhöhtes Risiko (HR: 1,29; 95%-KI: 1,02–1,62). Für die Analyse bezüglich kardiovaskulärer Ereignisse wurden 22 437 Personen einbezogen. Von diesen erlitten 3653 kardiovaskuläre Ereignisse (16,3%), nämlich 3545 von 21 714 euthyreoten Personen (16,3%) und 108 von 723 Personen mit subklinischer Hyperthyreose (14,9%). Obwohl es auf den ersten Blick nicht danach aussieht, ergab sich nach Bereinigung gemäss Alter und Geschlecht und dem Hochrechnen auf Personenjahre ein
um 21 Prozent erhöhtes Risiko kardiovaskulärer Ereignisse für die Personen mit subklinischer Hyperthyreose (HR 1,21; 95%-KI: 0,99–1,46). Das Risiko für das Entwickeln von Vorhofflimmern wurde auf der Grundlage von 8711 Personen errechnet. 785 waren davon betroffen (9%): 751 von 7901 euthyreoten Personen (9,5%) und 34 von 810 mit subklinischer Hyperthyreose (4,2%). Auch hier sieht es auf den ersten Blick anders aus als die bereinigte Statistik verrät: Das relative Risiko war für diejenigen mit subklinischer Hyperthyreose um 68 Prozent erhöht (HR 1,68; 95%-KI: 1,16–2,43). Allfällige kardiovaskuläre Vorerkrankungen, Alter und Geschlecht hatten keinen Einfluss auf die mit der subklinischen Hyperthyreose verbundenen, oben genannten Risiken. Für die kardiovaskuläre Mortalität und das Vorhofflimmern zeigte sich eine weitere Risikosteigerung bei TSH-Werten unter 0,1 mU/l, für die anderen Risiken war dieser Trend nicht zu erkennen.
Sollte man bei subklinischer Hyperthyreose behandeln? Rodondi und sein Team betonen, dass ihre Studie diese Frage nicht beantworten kann. Letztlich könnte nur eine grosse randomisierte Therapiestudie Aufschluss darüber geben, ob eine Therapie bei subklinischer Hyperthyreose die kardiovaskulären Risiken wirklich senken würde. Bis anhin gibt es solche Studien nicht, und sie scheinen auch für die nähere Zukunft unwahrscheinlich. Die subklinische Hyperthyreose ist recht selten, und die Behandlung ist mit Nebenwirkungen verbunden (Thyreostatika), oder sie kann die Schilddrüse irreversibel schädigen (Radioiod). Gemäss den aktuellen US-amerikanischen Richtlinien sollte für Personen ab 65 Jahren eine Behandlung «ernsthaft in Betracht gezogen» werden, wenn der TSH-Wert dauerhaft unter 0,1 mU/l liegt; für dauerhaft subklinisch hyperthyreote Personen der gleichen Altersgruppe mit einem TSH über 0,1 mU/l sei diese «in Betracht» zu ziehen. In einem Kommentar in der gleichen Ausgabe der «Archives of Internal Medicine» (2) rät der Endokrinologe Kenneth D. Burman, Patienten mit subklinischer Hyperthyreose umfassend zu untersuchen, um allfällige Ursachen für die Schilddrüsenüberfunktion abzuklären.
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STUDIE REFERIERT
Falls sich herausstellt, dass tatsächlich eine endogene subklinische Hyperthyreose vorliegt, sollten die Schilddrüsenwerte vor Beginn einer Behandlung und nach drei und sechs Monaten gemessen werden, da eine subklinische Hyperthyreose häufig von selbst verschwindet; nur in etwa 1 Prozent der Fälle verschlimmert sie sich zu einer klaren Hyperthyreose.
Subklinische Hypothyreose Auch die symptomlose Unterfunktion der Schilddrüse ist mit kardiovaskulären Risiken verbunden. Wann eine Therapie mit Levothyroxin (Eltroxin®-LF, Euthyrox®, Tirosint®) begonnen werden sollte, wird kontrovers diskutiert (s. auch «Subklinische Schilddrüsenerkrankungen. Wann danach suchen, wann behandeln?» ARS MEDICI 2012; 9: 460–464.). In einer retrospektiven Studie zeigte sich, dass 40- bis 70-Jährige mit einem
TSH-Wert von 5 bis 10 mU/l von einer Levothyroxintherapie hinsichtlich ihres Risikos für ischämische Herzerkrankungen profitieren (3). Grundlage waren die Daten des britischen Registers General Practitioner Research Database von insgesamt 4725 Personen mit subklinischer Hypothyreose (1642 von ihnen >70 Jahre). Das durchschnittliche Follow-up betrug 7,6 Jahre. Etwa die Hälfte der Personen in beiden Altersgruppen wurde mit Levothyroxin behandelt. Bei den 40- bis 70-Jährigen waren ischämische Herzerkrankungen mit Levothyroxin seltener (4,2 vs. 6,6%; HR: 0,61; 95%KI: 0,39–0,95). Bei den über 70-Jährigen zeigte sich in dieser Hinsicht kein Nutzen der Levothyroxingabe: Mit dem Medikament trat bei 12,7 Prozent eine ischämische Herzerkrankung auf, ohne das Medikament waren es 10,7 Prozent. Um dieser Frage gezielt nachzugehen, brauche es jetzt eine grosse
randomisierte Studie, forderten die
Autoren.
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Renate Bonifer
1. Collet TH et al.: Subclinical Hyperthyroidism and the Risk of Coronary Heart Disease and Mortality. Arch Intern Med 2012; 172(10): 799–809.
2. Burman KD: What Is the Clinical Importance of Subclinical Hyperthyroidism? Arch Intern Med 2012; 172(10): 809–810.
3. Razvi S et al.: Levothyroxine Treatment of Subclinical Hypothyroidism, Fatal and Nonfatal Cardiovascular Events, and Mortality. Arch Intern Med 2012; 172(10): 811–817.
Interessenkonflikte: In den Publikationen von Collet et al. und Burman werden keine finanziellen Interessenkonflikte deklariert; die Hyperthyreosestudie wurde vom Schweizer Nationalfonds finanziert (Studienleiter: Nicolas Rodondi, Universität Bern). Die Studie von Razvi et al. wurde vom britischen Medical Research Council finanziert; einer der Koautoren deklariert ein Referentenhonorar von Merck Serono.
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