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FORTBILDUNG
Familiäre Hypercholesterinämie wird häufig übersehen
Die familiäre Hypercholesterinämie ist mit einem erhöhten Risiko für kardiovaskuläre Erkrankungen verbunden. Mit frühzeitiger Statinbehandlung kann das Leben Betroffener um etwa neun Jahre verlängert werden.
BMJ
Im «British Medical Journal» (BMJ) werden anhand von Fallvignetten in unregelmässiger Reihenfolge Erkrankungen vorgestellt, die häufiger vorkommen, als allgemein angenommen wird. Dazu gehört auch die familiäre Hypercholesterinämie. Bei dieser Erkrankung handelt es sich um autosomal dominant vererbte genetische Defekte, die sich bereits in jungen Jahren durch eine charakteristische hohe Cholesterinserumkonzentration bemerkbar machen. Die Erkrankung ist mit frühzeitiger kardiovaskulärer Erkrankung assoziiert, und in etwa 80 Prozent der Fälle kann eine genetische Ursache nachgewiesen werden. In Grossbritannien ist etwa 1 von 500 Personen von der heterozygoten familiären Hypercholesterinämie betroffen. Ein durchschnittlicher Hausarzt (mit etwa 8000 Patienten) betreut 16 Patienten mit familiärer Hypercholesterinämie, die sich auf etwa fünf bis sieben Familien verteilen. Bei bestimmten Bevölkerungsgruppen wird die Erkrankung
häufiger beobachtet. Dazu gehören die Buren in Südafrika (1:70 Personen) und die Frankokanadier (1:200 Personen). Die homozygote familiäre Hypercholesterinämie tritt mit einer Häufigkeit von etwa 1:1 000 000 Personen auf.
Weshalb wird die familiäre Hypercholesterinämie übersehen? Die Unterdiagnostizierung der familiären Hypercholesterinämie ist weltweit ein Problem. Die Raten der korrekten Diagnose reichen von weniger als 1 Prozent in Russland über 20 Prozent in den Niederlanden bis zu 44 Prozent in Island. In Grossbritannien haben etwa 15 Prozent der Patienten die Chance, in der Hausarztpraxis die richtige Diagnose zu erhalten. Viele Patienten erhalten in mittlerem Lebensalter die Diagnose, wenn Familienmitglieder an frühzeitigen Herzleiden erkranken. Ist die Diagnose gestellt, werden die Betroffenen vom Hausarzt meist angewiesen, ihre Verwandten zu informieren. Aus Studien geht jedoch hervor, dass dies meist nicht geschieht. Die geringe Rate an Überweisungen zur DNAAnalyse, fehlende nationale Screeningprogramme und der begrenzte Nutzen einer klinischen Evaluierung bei Verwandten könnten dazu beitragen, dass die familiäre Hypercholesterinämie so häufig nicht erkannt wird. Bei Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen ist die Wahrscheinlichkeit, diese Erbkrankheit zu übersehen, noch wesentlich grösser, da bei ihnen noch keine ausgeprägten Krankheitszeichen zu erkennen sind.
Merksätze
❖ Bei Patienten mit familiärer Hypercholesterinämie besteht ein erhöhtes Risiko für vorzeitige kardiovaskuläre Morbidität und Mortalität.
❖ Bei Patienten mit Nüchtern-Gesamtcholesterinwerten von > 7,5 mmol/l liegt wahrscheinlich eine familiäre Hypercholesterinämie vor.
❖ Bei Verwandten ersten Grades sollte ein Kaskadenscreening sichergestellt werden.
❖ Mit frühzeitiger Statinbehandlung lässt sich die Lebenserwartung Betroffener um etwa neun Jahre verlängern.
Folgen der Unterdiagnostizierung Patienten mit familiärer Hypercholesterinämie haben ein hohes Mortalitätsrisiko, weil bei ihnen bereits von Geburt an eine hohe Serumkonzentration an LDL-(Low-density lipoprotein-)Cholesterin vorhanden ist. Ohne Behandlung haben sie in der Jugend ein 100-fach höheres Risiko, aufgrund kardiovaskulärer Erkrankungen zu sterben, als andere junge Erwachsene im Alter von 20 bis 39 Jahren. Etwa 50 Prozent aller unbehandelten heterozygoten Männer erleiden im Alter von 50 Jahren und etwa 30 Prozent der unbehandelten Frauen im Alter von 60 Jahren einen Herzinfarkt. Mithilfe cholesterinsenkender Medikamente kann die kardiovaskuläre Mortalität reduziert und die Lebenserwartung der Betroffenen um etwa neun Jahre verlängert werden. Aus einer Langzeitstudie geht hervor, dass Statine die atherosklerotische Progression bei Kindern und jungen Erwachsenen mit dieser erblichen Erkrankung aufhalten können. Bei Patienten mit homozygoter familiärer Hypercholesterinämie
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FORTBILDUNG
Kasten:
Diagnosekriterien der Simon Broome Register Group (modifiziert nach Gill et al.)
❖ Zur Diagnose einer definitiven familiären Hypercholesterinämie müssen a) oder b) vorhanden sein.
❖ Eine potenzielle familiäre Hypercholesterinämie erfordert den Nachweis von a) plus c) oder von a) plus d).
a) Mindestens zwei bestätigte Gesamtcholesterinwerte von > 7,5 mmol/l und LDL-Cholesterin > 4,9 mmol/l bei Erwachsenen. Bei Kindern unter 16 Jahren: Gesamtcholesterin > 6,7 mmol/l und LDL-Cholesterin > 4,0 mmol/l
b) Sehnenxanthome oder eine DNA-basierte Diagnose der familiären Hypercholesterinämie bei Verwandten ersten oder zweiten Grades
c) Herzinfarkte im Alter unter 50 Jahren bei Verwandten zweiten Grades oder im Alter unter 60 Jahren bei Verwandten ersten Grades
d) Hohe Cholesterinwerte bei Verwandten ersten Grades oder Werte von > 7,5 mmol/l bei Verwandten zweiten Grades
ist das Risiko für eine koronare Herzerkrankung noch beträchtlich höher als bei heterozygotem Erbgang.
Untersuchungsverfahren Eine familiäre Hypercholesterinämie sollte bei Erwachsenen mit einem Nüchterngesamtcholesterin von > 7,5 mmol/l und bei Kindern unter 16 Jahren bei einem Gesamtcholesterinwert von > 6,7 mmol/l in Betracht gezogen werden. Die Triglyzeridwerte liegen meist im Normalbereich. Alle Messungen werden aufgrund biologischer und analytischer Schwankungen mindestens zweimal bestätigt. Zudem sind gängige Ursachen einer sekundären Hypercholesterinämie wie Schilddrüsenunterfunktion, Diabetes mellitus, Schwangerschaft und die Einnahme bestimmter Medikamente (z.B. Thiaziddiuretika und Steroidhormone) vor Diagnosestellung auszuschliessen. Eine Ultraschalluntersuchung der Achillessehnen im Hinblick auf Xanthome wird vom NICE nicht empfohlen. Bei Patienten mit definitiver oder potenzieller familiärer Hypercholesterinämie sollte bei Verwandten ersten Grades ein Screening entsprechend den Diagnosekriterien der Simon Broome Register Group vorgenommen werden (siehe Kasten). Das Kaskadenscreening ist eine kosteneffektive Methode zum Nachweis erhöhter Cholesterinwerte bei Verwandten. Genetische Untersuchungen bezüglich einer familiären Hypercholesterinämie können zur Identifizierung Betroffener und im Rahmen des Kaskadenscreenings von Nutzen sein, haben aber vermutlich nur einen begrenzten Wert im Hinblick auf das klinische Management.
Wie wird die familiäre Hypercholesterinämie diagnostiziert? Bis anhin existiert kein diagnostischer Test mit ausreichender Spezifität und Sensitivität für einen verlässlichen Nachweis der familiären Hypercholesterinämie. Deshalb haben drei internationale Expertenteams diagnostische Instrumente, basierend auf klinischen Zeichen, Familienanamnese und Cholesterinwerten, entwickelt. In der Leitlinie von NICE (National Institute for Health and Clinical Excellence) zur Identifizierung und zum Management der familiären Hypercholesterinämie wird empfohlen, die diagnostischen Kriterien der Simon Broome Register Group anzuwenden (siehe Kasten).
Klinische Evaluierung Zunächst sollte nach Verwandten mit frühzeitiger koronarer Herzerkrankung gefragt werden. Bei der körperlichen Untersuchung wird auf Sehnenxanthome oder gelb gefärbte Cholesterinablagerungen geachtet, die meist hart sind. Die Ablagerungen befinden sich am häufigsten auf dem Handrücken und an den Achillessehnen und seltener am langen Grosszehenstrecker (Musculus extensor hallucis longus) oder an den Trizepssehnen. Der diagnostische Wert der Xanthome ist schwer einzuschätzen. In einer Studie an 825 Patienten, die wegen eines Verdachts auf eine familiäre Hypercholesterinämie zum Spezialisten überwiesen worden waren, erhöhte sich die Anzahl nachgewiesener relevanter Mutationen bei Vorliegen einer entsprechenden Familienanamnese um den Faktor 7,8 und bei Vorliegen von Xanthomen um den Faktor 3,7. Allerdings treten Sehnenxanthome üblicherweise nicht vor dem dritten Lebensjahrzehnt auf, sodass die Evaluierung für eine Diagnosestellung bei jüngeren Betroffenen nicht hilfreich ist.
Management
Instrumente zur Risikoabschätzung wie der Framingham-
Risk-Score sind bei Patienten mit familiärer Hypercholesterin-
ämie nicht von Nutzen, da bei ihnen mit diesen Tools das
erhöhte Risiko für eine vorzeitige Herzerkrankung zu gering
eingeschätzt wird.
Der Arzt sollte dem Patienten Hinweise für eine Änderung
der Lebensweise geben (Ernährung, körperliche Aktivität,
Einstellung des Rauchens) und gleichzeitig mit einer hoch do-
sierten Statinbehandlung (80 mg Simvastatin [Zocor® und
Generika] oder 40 mg Atorvastatin [Sortis® und Generika])
beginnen. Die Behandlung hat das Ziel, die LDL-Cho-
lesterinserumkonzentration um 50 Prozent zu senken. Dazu
können auch weitere Medikamente erforderlich sein. An-
schliessend sind jährliche Kontrollen der kardiovaskulären
Risikofaktoren und Symptome sowie eine entsprechende
Behandlung erforderlich. Kinder und Erwachsene mit
besonders hohem Risiko und Patienten, die nicht auf die
Behandlung ansprechen, werden zum Spezialisten überwie-
sen, um weitere Therapieoptionen wie eine medikamentöse
Kombinationstherapie oder eine Lipoproteinapherese zu
erwägen.
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Petra Stölting
Quelle: Peter J Gill et al.: Familial hypercholesterolaemia. BMJ 2012; 344: e3228 Interessenkonflikte: keine deklariert
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