Transkript
MEDIEN, MODEN, MEDIZIN
Lesestoff
D as schlechte Gewissen betreffend Fortbildung ist kein Problem, wenn Ferien anstehen. Denn dort wird der eifrige Hausarzt in Ruhe all das lesen, für das er während des Jahres keine Zeit hat. Mit gut ausgeschlafenem Kopf ist es kein Problem, schwierige Rezeptortheorien zu verstehen. Die neue Strategie zu Diagnostik und Therapie von entzündlichen rheumatischen Erkrankungen memorieren – mit ferienfrischem Gehirn ein Kinderspiel. An Körper und Geist erholt und klüger denn je zuvor wird der Grundversorger zurückkehren und pfiffige neue State-of-theart-Kenntnisse zum Wohle seiner PatientInnen einsetzen. Die Ferien sind lang, das zu lernende Wissen umfangreich – daher sammelt der Hausarzt schon Monate vorher Material. Hochglanzzeitschriften der Pharmaindustrie, Infos aus standespoliitschen Organen und vor der Abreise noch schnell ein Besuch in der nächstgelegenen Universitätsstadt, um sich dort die neuesten Fachbücher und Zeitschriften zu leihen. Sechs Bücher und drei Journale darf er haben – vermutlich ein bisschen zu knapp für die drei Ferienwochen voller Wissensdurst. Die ersten drei Tage allerdings liest man noch nicht, denn Körper und Seele müssen sich erstmal akklimatisieren. Der Koffer will ausgepackt werden. Man spaziert auf der schönen Gartenanlage des Hotels herum. Nimmt sich vor, nach der Pensionierung einen Kurs über mediterrane Flora zu machen. Plaudert endlich wieder mal in Ruhe mit der Ehefrau, die bereits von den lokalen Keramik- und Handarbeitsprodukten schwärmt. So vergeht die erste Woche wie im Fluge. Langsam fängt man an zu lesen. Den Hotelprospekt mit den obszönen Preisen der Beauty- und Wellnessabteilung. Die Landkarte der Insel. Die erste Hochglanzpublikation – nein, nicht von der Pharmaindustrie, sondern das Zeug, das es gratis am Flughafen gab. Man schaut staunend, wie 28-jährige Magnaten ihre Luxusimmobilien einrichten lassen. Protestiert innerlich gegen den apodiktischen Rat des Interior-Decorators, der «Mint», ein scheussliches Blau-Türkis, zur Modefarbe deklariert, mit der man sein Wohnzimmer diesen Sommer
streichen MUSS. Plus die ganze Möblierung auswechseln, natürlich-filigrane Metallmöbel sind zurzeit «in», ausnahmslos, auch für dicke Hausärzte. Auf fünf Seiten zelebriert ein Sternekoch, von einem «Magnum»-Fotograf dokumentiert, wie man Gurken so verfremdet, dass sie kaum mehr wiederzuerkennenn sind und nach Lachs schmecken. Soviel High-Society schlägt einem auf den schon olivenölvorgeschädigten Magen und man greift zur «Schweizer Illustrierten», um ein wenig Cervelat-Prominenz zu geniessen. Aber Art Furrer erscheint im ganzen Heft nicht, Ursi Andress scheint in den Ferien zu sein, und selbst Beat Breu und Michelle Hunziker sind durch Angelina und Brad ersetzt worden. Man greift zu «Diabetes-Up-date». Lässt es erst wieder sinken, als man realisiert, dass man kein Wort aufgenommen, geschweige denn verstanden hat. Glücklicherweise gilt das nicht für den neuesten Alex Capus, den man mühelos liest. Am nächsten Morgen der nächste Versuch: «NEJM» am Pool. Ich habe Pech: Kaum will ich den langweiligen Artikel über Fettsäuren wegblättern, stellt sich der Schlanke im Liegestuhl neben mir als österreichischer Diabetologe heraus und stellt mir Fachfragen. Nach zwanzig Minuten, in denen mir das ganze Ausmass meines Nichtwissens bewusst wurde, strahlt er. «Faszinierend, nicht wahr?» Ich nicke milde. Blättere weiter zu der Bildgebung bei Koronarerkrankungen und hoffe, dass er sich nicht auch dafür interessiert. Fehlanzeige. Kardiologie ist sein Hobby. Und vis-a-vis liegt ein deutscher Kardiologe, den er holt. Zu zweit reden sie auf mich ein, patschen mit chlorwassernassen Händen auf das ausgeliehene Journal. Meine Frau rettet mich und holt mich vom Pool. «Ich habe dir einen King-Thriller gekauft!», flüstert sie und schiebt mir konspirativ eine Plastiktüte zu. «Für alles andere ist es doch zu heiss!» – «Meinst du?» frage ich mit schlechtem Gewissen. «JAWOLL!», trompetet sie. «Du sollst dich hier erholen. Lesen kannst du zuhause wieder.» Eigentlich hat sie Recht. Entspannt greife ich zum Action-Schinken und meine eigenen Koronarien weiten sich spürbar.
ARSENICUM
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ARS MEDICI 15 ■ 2012