Transkript
FORUM
Phytotherapie in der Geriatrie
Phytotherapeutische Möglichkeiten bei älteren Patienten
Beim vorliegenden Beitrag
handelt es sich um Auszüge
aus einem Referat von Prof. Dr.
med. Dieter Loew, das er an der
26. Schweizerischen Tagung für
Phytotherapie am 17.11.2011 in
Baden gehalten hatte1. Es geht
um altersphysiologische Verän-
derungen sowie um Anforde-
rungen und Möglichkeiten
pflanzlicher Arzneimittel bei
älteren Patienten.
Dieter Loew
Physiologische Veränderungen, typische Krankheiten im Alter
Altern ist ein individueller, von ererbten beziehungsweise erworbenen Faktoren abhängiger Prozess, beginnt mit der Geburt, setzt sich im Lebensablauf fort und endet mit dem Tod. Ab dem 30. Lebensjahr – Wendepunkt, an dem Höhepunkt von Wachstum, Reife, Entwicklung erreicht sind – erfolgt der physiologische Alterungsprozess mit kontinuierlichem Ab- und Umbau physiologischer Funktionen, Degeneration mit Funktionseinschränkung von Organen
1 Vgl. AM thema Phytotherapie 2012 (1); 12:15 Kürzungen: Dr. C. Bachmann
und Geweben, verminderter Regenerationsfähigkeit, herabgesetzter Leistung und Adaptation sowie Beeinträchtigung spezifischer und unspezifischer Abwehr.
Altersphysiologische Veränderungen
Dazu gehören zum Beispiel Fehl-, Mangelernährung, Resorptionsstörung im MagenDarm-Trakt, atrophische Gastritis, verminderte Magen-Darm-Motilität, Reduktion der Resorptionsfläche durch Rückbildung von Darmzotten, Beeinträchtigung von Pharmakodynamik und Pharmakokinetik von Arzneimitteln.
Altersbegleitende Erkrankungen
Darunter versteht man zum Beispiel Arteriosklerose mit Folgekomplikationen, Arthrosen, Osteoporose, Sturzfrakturen, Stoffwechselstörung, hormonell verminderte Produktion oder veränderte Empfindlichkeit am Erfolgsorgan, reduzierte Immunantwort (Immunoseneszenz).
Typische Alterskrankheiten
Zu den typischen Alterskrankheiten zählen unter anderem Abnahme der Zellteilungsrate mit Altersatrophie, Funktionseinschränkung der Verdauungsorgane mit exokriner (verminderte Absorption fettlöslicher Vitamine), endokriner Pankreasinsuffizienz (Diabetes mellitus), Linsentrübung, Makuladegeneration, Schwerhörigkeit, Herzinfarkt, Schlaganfall, peripher-arterielle Verschlusskrankheit, Demenz, benignes Prostata-Syndrom, psychosomatische Erkrankungen, Depression, Suizidalität, Krebserkrankung, Inkontinenz.
Multimorbidität
Darunter versteht man Summation mehrerer Einzelerkrankungen, eingeschränkte Organreserven, Vorschäden mit Funktions-
einschränkungen von Leber, Nieren, Magen-Darm, Atemwegen, Knochen durch langjährige Einnahme von Arzneimitteln, zum Beispiel NSA, Cortison, Fremdstoffen, Interaktion von Arzneimitteln.
Anforderungen an Arzneimittel bei älteren Patienten
Bis zum Jahre 2050 werden Krankheiten wie Makuladegeneration, Glaukom, Herzinfarkt, Schlaganfall, Osteoporose, Oberschenkelhalsfraktur, Kolonkarzinom, Prostatakarzinom zunehmen. Aufgrund physiologischer, pharmakologischer, pharmakokinetischer Besonderheiten im Alter sollte die Anwendung von Arzneimitteln (Tabelle 1) kritisch überprüft werden (1,2). Zur Prophylaxe und Therapie kommen chemisch definierte und pflanzliche Arzneimittel als Monopräparate beziehungsweise als begründet fixe oder Ad-hocKombinationen infrage, wobei pflanzliche Extrakte gleich synthetischen sowie nach nationalen und europäischen Richtlinien auf Qualität, Wirksamkeit, Unbedenklichkeit geprüft sind.
Pflanzliche Arzneimittel
Im Gegensatz zu Synthetika sind Phytopharmaka komplexe Mehrstoffgemische mit wirksamkeitsrelevanten, agonistischen, synergistischen, komplementären sowie nach Entfernung antagonistischer und toxisch relevanter Inhaltsstoffe noch unbekannten Strukturen. Sie besitzen multiple pharmakophore Gruppen, wirken eher unselektiv an mehreren Targets (Pleiotropie) und haben durch mehrere Einzeleffekte ein breites Wirkprofil mit weniger wirkungsmechanistisch bedingten Nebenwirkungen. Als Naturstoffe unterscheiden sie sich pharmakokinetisch von den Synthetika und sind im Alter – sieht man von wenig klinisch relevanten Interaktionen, zum Beispiel Johanniskraut, ab – weitgehend
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Tabelle 1: Kriterien für die Pharmakotherapie im Alter
◆ Besteht eine begründete Verordnungsfähigkeit? ◆ Wird das richtige Arzneimittel bei Multimorbidität verordnet? ◆ Sind Pharmakokinetik, Pharmakodynamik verändert? ◆ Bestehen Arzneimittelinteraktionen? ◆ Sind Dosisänderungen erforderlich? ◆ Bedarf es der Dauertherapie, reicht symptomenorientierte Intervalltherapie aus? ◆ Kann ein Arzneimittel abgesetzt werden? ◆ Bedarf es der Polypharmakotherapie? ◆ Ist mit höheren Raten an Nebenwirkungen zu rechnen? ◆ Ist die Compliance gewährleistet? ◆ Bestehen geschlechtsspezifische Unterschiede bei Arzneimitteln? ◆ Sind gleich wirksame Phytopharmaka eine Alternative zu Synthetika?
unproblematisch mit weniger schweren Nebenwirkungen. Zu Indikationen zählen weniger akute, schwere Erkrankungen als mittelschwere bis leichte, besonders chronische Beschwerden. Wirksamkeit und Unbedenklichkeit sind unter anderem von physikalischen Stoffeigenschaften, pharmazeutischer, biopharmazeutischer Qualität, Resorption und Pharmakokinetik abhängig.
Phytopharmaka als Alternative zu problematischen Synthetika im Alter
In der 2010 im Deutschen Ärzteblatt publizierten vorläufigen PRISCUS-Liste sind po-
tenziell inadäquate Medikation (PIM) für ältere Menschen aufgeführt (3). Sie wurde nach einer zwei Runden umfassenden, strukturierten Expertenbefragung nach der Delphi-Methode erstellt. Für ältere Menschen wurden 83 Arzneistoffe aus 18 Stoffklassen als potenziell inadäquat, 46 als fraglich und 26 als unbedenklich eingestuft und mögliche Alternativen aufgezeigt. Bedauerlicherweise wurden Phytopharmaka nicht berücksichtigt, obwohl sie für gleiche Indikationen mit weniger wirkungsmechanistischen Nebenwirkungen zugelassen sind. Tabelle 2 enthält pflanzliche Extrakte als Alternative zu Syn-
thetika, wobei letztlich die Arzneimittelauswahl der ärztlichen Therapiefreiheit und Erfahrung obliegt.
Pharmakologische, pharmakokinetische Empfehlungen für die tägliche Praxis
Die Zunahme älterer Menschen sowie multimorbider Patienten stellt die Gesundheitspolitik vor sozioökonomische und die klinische Forschung vor bisher vernachlässigte Probleme. Es stellen sich unter anderem Fragen zur begründeten Verordnungsfähigkeit, der richtigen Arzneimittelauswahl bei Multimorbidität, Veränderungen von Pharmakodynamik, Pharmakokinetik im Alter, Interaktionen bei Polypharmakotherapie, altersangepasster Dosis, Arzneimittelsicherheit und Compliance. Auf einige dieser Fragen wird aus klinisch pharmakologischer und pharmakodynamischer Sicht eine Antwort gegeben. Pflanzliche Arzneimittel erfüllen wie chemisch definierte Substanzen nationale und internationale Anforderungen an Qualität, Wirksamkeit, Unbedenklichkeit. Als komplexe Mehrstoffgemische mit wirksamkeitsrelevanten, agonistischen, synergistischen, komplementären, zum Teil unbekannten und nach Entfernung toxisch relevanter Fraktionen besitzen sie multiple pharma-
Tabelle 2: Phytopharmaka als Alternative zu Synthetika bei älteren Patienten
Indikation Chron. Herzinsuffizienz NYHA II
Chron. Herzinsuffizienz NYHA II-III Unruhe, Schlafstörung Leichte und mittlere Depression
Hirnleistungsstörung
Periphere arterielle Verschlusskrankheit
Reizmagen-Reizdarm Syndrom
Benignes Prostata-Syndrom
Klimakterische Beschwerden
Spannungskopfschmerz Arthrosen, Wirbelköper-Syndrom. Myalgie
Chemisch-definierte Substanz Diuretika, Betablocker, ACE-Hemmer AT1-Antagonisten
Diuretika, Betablocker, ACE-Hemmer, AT1-Antagonisten, Digitalis Hypnotika, Benzodiazepine Tri-,Tetrazyklika, SSRI, SNRI, SSNRI, MAO-Hemmer
Acetylcholinesterase-Hemmer, Memantin
Buflomedil, Naftidrofuryl, Pentoxifyllin
Metoclopramid, Domperidon, Alizaprid
α-Rezeptorenblocker, α-Reduktasehemmer
Östrogene, Gestagene
ASS, Paracetamol Nichtsteroidale Antiphlogistika, Analgetika, Myotonolytika
Pflanzliches Arzneimittel Crataegus-Blätter mit Blüten Dosis: 3 x 300 beziehungsweise 2 x 450 mg Standard, statt Digitalis Crataegus-Blätter mit Blüten Baldrian, Baldriankombination Hypericum-Extrakt Dosis: 3 x 300 mg, 2 x 450 mg Ginkgo-biloba-Extrakt Dosis 240 mg/Tag Ginkgo-biloba-Extrakt Dosis 240 mg/Tag Iberogast®, Pfefferminzöl, Pfefferminzöl und Kümmelöl Sägepalme, Brennesselwurzel, Roggenpollen, Kürbissamen Cimicifuga-Wurzelstock, Sibirischer Rhabarber lokal 10%iges Pfefferminzöl Teufelskralle, Weidenrinde, Capsicum
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kophore Gruppen, wirken eher unselektiv an mehreren Targets (Pleiotropie) und entfalten durch Addition mehrerer Einzeleffekte ein breites Wirkprofil mit weniger wirkungsmechanistisch bedingten Nebenwirkungen. Als Naturstoffe unterscheiden sie sich pharmakokinetisch im Hinblick auf Resorption, Biotransformation, Proteinbindung und Elimination von den Synthetika und sind im Alter – sieht man von wenig
klinisch relevanten Interaktionen zum
Beispiel Johanniskraut ab – weitgehend
unproblematisch mit weniger Nebenwir-
kungen und damit eine Alternative zu
potenziell inadäquaten Synthetika.
◆
Anschrift des Referenten Prof. Dr. med. dent. Dr. med. Dieter Loew Am Allersberg 7 D-65191 Wiesbaden Fax: 0049 611 9545099
Literatur:
1. Loew D.: Phytopharmaka in der Geriatrie (1). Was ist im Alter anders? Der Allgemeinarzt 2010 (2): 16–19, ARS Medici. Nr 3/, 14–15, 2010.
2. Rietbrock, N. Belz G.G.: in Klinische Pharmakologie, 4. Auflage, Rietbrock N., Staib H., Loew D. (Hrsg), Steinkopff 2004.
3. Holt St., Schmiedl S., Thürmann P.: 2010: Potenziell inadäquate Medikation für ältere Menschen: Die PRISCUS-Liste. Dtsch Arztebl. Int; 107(31–32) 543–551.
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