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FORTBILDUNG
Oft helfen bereits Lebensstiländerungen
Management der überaktiven Blase
Einigen Patienten mit überaktiver Blase kann mit einer Reduzierung der Flüssigkeitsaufnahme, einer Vermeidung blasenreizender Nahrungsmittel sowie mit Blasentraining und Beckenbodenübungen geholfen werden. Antimuskarinika sind die Medikamente der ersten Wahl.
BMJ
Die International Continence Society definierte im Jahr 2010 das Syndrom der überaktiven Blase als charakteristisches Beschwerdebild eines starken Harndrangs (mit oder ohne Dranginkontinenz), der meist mit erhöhter Miktionsfrequenz und Nykturie verbunden ist, wobei die Beschwerden nicht im Zusammenhang mit einem Harnwegsinfekt oder einer anderen offensichtlichen Pathologie stehen. Obwohl die Prävalenz der überaktiven Blase in Europa mit geschätzten 12 bis 17 Prozent recht hoch ist, bleibt das Syndrom häufig undiagnostiziert und daher auch unbehandelt. Aus retrospektiven Studien geht hervor, dass – vor allem bei älteren und behinderten Personen – Stürze, Frakturen und Harnwegsinfekte oder auch Depressionen zu häufigen Folgeerscheinungen einer überaktiven Blase gehören. Das Beschwerdebild tritt vor allem bei Personen über 40 Jahren auf, kann aber auch bei Kindern oder jungen Erwachsenen vorkommen. Weil die Ursachen der überaktiven Blase nicht bekannt sind, ist das Syndrom schwierig zu diagnostizieren und zu behandeln.
Wie wird eine überaktive Blase evaluiert? Da beim Syndrom der überaktiven Blase meist keine nachweisbaren klinischen Zeichen vorhanden sind, ist die Anamnese das wichtigste Instrument zur Evaluierung (Kasten 1). Bei den Betroffenen kann ein imperativer Harndrang mit übermässiger Miktionsfrequenz (mehr als 8 innerhalb von 24 h) oder Nykturie (≥ 2 nächtliche Miktionen) vorliegen, der bei einigen Patienten auch mit Dranginkontinenz verbunden ist. Erkrankungen des Harntrakts wie Harnwegsinfektionen, Steinleiden oder Blasentumoren müssen vor der Diagnosestellung einer überaktiven Blase ausgeschlossen werden. Bei der Evaluierung sollte sich der Arzt zunächst nach dem Konsum von Kaffee und anderen Nahrungsmitteln erkundigen, welche die Blase reizen können. Dazu gehören auch stark gewürzte Speisen oder Zitrusfrüchte, die beide den Urin ansäuern. Weitere blasenreizende Lebensmittel sind kohlensäurehaltige Getränke und Produkte auf Tomatenbasis sowie Zuckerersatzstoffe und verarbeitete Lebensmittel mit künstlichen Inhaltsstoffen, Aromen und Konservierungsstoffen. Koffeinierte und alkoholische Getränke wirken diuretisch und können die Urinproduktion beträchtlich steigern. Die Symptome sollten im Zusammenhang mit einem Miktionstagebuch über 72 Stunden interpretiert werden. Hier notiert der Patient Informationen zur aufgenommenen Flüssigkeitsmenge, zur ausgeschiedenen Harnmenge und den Miktionszeiten sowie zu Stress- oder Dranginkontinenz und zur Schwere der Symptome. Ergänzend sind der Fragebogen der International Consultation on Incontinence, der Urinary Distress Inventory und der Inkontinenzfragebogen validierte Instrumente zur Erfassung der Symptomatik und der Lebensqualität der Betroffenen.
Merksätze
❖ Zu den konservativen Behandlungsmöglichkeiten gehören eine Modifizierung des Lebensstils sowie Blasentraining und Beckenbodenübungen.
❖ Antimuskarinika sind die Medikamente der ersten Wahl.
❖ Second-Line-Optionen sind die sakrale Neuromodulation, die Tibialnervstimulation und Botulinuminjektionen in den Detrusormuskel.
In welchen Fällen ist eine Überweisung zum Spezialisten erforderlich? In den Richtlinien des National Institute for Health and Clinical Excellence (NICE) werden eine makroskopische Hämaturie, eine mikroskopische Hämaturie bei Personen über 50 Jahre, rezidivierende Harnwegsinfekte in Verbindung mit Hämaturie bei Patienten über 40 Jahre sowie mutmasslich maligne urogenitale Tumoren als wichtigste Kriterien für eine Überweisung zum Spezialisten erachtet. Weniger bedeutsame Kriterien für eine Überweisung sind dauerhafte Schmerzen im Urogenitaltrakt, klinisch gutartige Tumoren im Beckenraum, fäkale Inkontinenz, eine potenzielle neurologische Pathologie, anhaltende Miktionsschwierigkeiten, urogenitale Fisteln oder auch eine zurückliegende
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Kasten 1:
Evaluierung der überaktiven Blase (mod. n. Marinkovic et al.)
❖ Zunächst werden Miktionshäufigkeit, Harndrang und Dranginkontinenz sowie das Ausmass der jeweiligen Symptome erfragt.
❖ Zudem sollte sich der Arzt erkundigen, welche Faktoren die Beschwerden lindern oder verschlimmern, und ob die Symptome zu Verletzungen durch Stürze geführt haben oder der Patient aufgrund seiner Beschwerden sein Zuhause nicht mehr verlässt.
❖ Auch die Medikation des Patienten ist von anamnestischer Bedeutung. Diuretika verstärken die Symptome häufig, Alphaagonisten können den Blasenhals verschliessen und so zur Überlaufinkontinenz führen, und Alphablocker führen mitunter durch ihre entspannende und erweiternde Wirkung auf den Bereich des Blasenhalses eine Stressinkontinenz herbei.
❖ Gegenwärtige und zurückliegende medizinische Komplikationen – vor allem jene, die eine Flüssigkeitsmobilisierung verstärken – können zu Symptomen der überaktiven Blase und zur Überlaufinkontinenz führen. So resultiert beispielsweise ein schlecht eingestellter Diabetes mellitus mit Zuckerkonzentrationen > 1400 mg/l (Nierenschwelle) in einer schweren osmotischen Diurese, die nicht mit Anticholinergika behandelt werden kann, bevor der Diabetes besser kontrolliert wird. Ist dies erreicht, sollte aus den Einträgen des Miktionstagebuchs eine Verbesserung ersichtlich werden. Schlaganfälle oder neurologische Erkrankungen können ebenfalls mit einer überaktiven Blase und Inkontinenz assoziiert sein. Eine Bestrahlungstherapie im Rahmen von Krebserkrankungen des Uterus, des Darms des Rektums oder der Prostata kann die Blasenauskleidung und die Muskelwand irritieren, was häufig zu einer schlechteren Blasencompliance und zur Verringerung der Blasenkapazität führt.
❖ Chirurgische Eingriffe wie die transurethrale Resektion der Prostata, eine Burch-Kolposuspension, mitturetrhale Schlingen und eine Lasertherapie der Prostata können ebenfalls zur überaktiven Blase führen und die Behandlung komplizieren.
❖ Bei der Evaluierung ist auch die Erfassung bereits durchgeführter Behandlungen der überaktiven Blase von Nutzen. Ältere Befunde können für die Planung der Vorgehensweise und zur Verifizierung der Ergebnisse hilfreich sein.
❖ Der Patient sollte dazu angehalten werden, zwei bis drei Tage lang ein Blasentagebuch mit Notizen zur Aufnahme von Flüssigkeit sowie zur ausgeschiedenen Urinmenge und zur Schwere der Symptome zu führen.
❖ Ergänzend zur Anamnese werden eine Urinanalyse und eine Urinkultur durchgeführt. Bei mikroskopischer Hämaturie oder Symptomen von Blasenentleerungsstörungen ist auch eine Urinzytologie erforderlich.
❖ Der Glukosegehalt im Harn kann mit einem Urinteststäbchen geprüft werden. Bei positivem Ergebnis erfolgt anschliessend eine Bestimmung des Blutzuckers über drei Monate. Bleibt der Wert erhöht, wird ein Glukosetoleranztest empfohlen.
❖ Die Messung des Resturinvolumens nach der Miktion (sollte < 50 ml betragen) wird mit Ultraschall oder einem geraden Katheter durchgeführt. Liegt die letzte Miktion länger als eine halbe Stunde zurück, wird der Patient angewiesen, unmittelbar vor dem Test die Toilette aufzusuchen.
❖ Bei entsprechender Geräteausstattung kann auch eine Uroflowmetrie durchgeführt werden. Der maximale Harnfluss sollte > 15 ml/s bei einer ausgeschiedenen Mindestmenge von 150 ml betragen. Bei einer Ausscheidung von < 150 ml Urin kann die maximale Harnflussrate des Patienten nicht immer exakt bestimmt werden.
❖ Urodynamische Untersuchungen werden vom Urologen oder Gynäkologen vorgenommen.
Inkontinenzoperation, eine Krebsoperation im Beckenraum oder eine Bestrahlungstherapie des Beckens.
Welche apparativen Untersuchungen sind notwendig? Ergänzend zur Anamnese sollte eine Uroflowuntersuchung zur Bestimmung der maximalen Harnflussrate bei einer Ausscheidung von mindestens 150 ml Urin durchgeführt werden. Zusätzlich wird mit Ultraschalluntersuchungen mehrfach der Restharn ermittelt. Mit diesen Untersuchungen wird festgestellt, ob der Patient Schwierigkeiten mit dem Halten des Urins oder mit der Entleerung der Blase hat und ob eine Überweisung zum Urologen, Gynäkologen oder zu anderen Spezialisten notwendig ist. Bei Patienten, die auf eine konservative Behandlung nicht ansprechen, können aufwendigere Verfahren wie eine urodynamische Untersuchung, eine Videourodynamik und ambulante neurophysiologische Untersuchungen erforderlich sein.
Therapeutisches Management Die European Association of Urology und die Japanese Urological Society empfehlen eine zweistufige Vorgehensweise für das Management der überaktiven Blase. Zu den wichtigsten First-Line-Optionen zählen Ernährungsmodifizierungen sowie Blasentraining und Beckenbodentraining mit oder ohne Biofeedback. Anticholinergika sind die Medikamente der ersten Wahl. Zu häufig wirksamen Ernährungsumstellungen gehören eine Reduzierung der Flüssigkeitsaufnahme und die Vermeidung von Kaffee, sauren Lebensmitteln und Alkohol. Studienergebnisse zeigen, dass auch eine Gewichtsreduktion und die Einstellung des Rauchens bei überaktiver Blase oft zu einer Verbesserung der Symptomatik führen.
Blasentraining und Beckenbodenübungen Aus einer Crossoverstudie aus dem Jahr 2000 geht hervor, dass ein Blasentraining am wirksamsten ist, wenn es mit oralen Medikamenten kombiniert wird. Zu den Hauptkomponenten des Blasentrainings gehören eine zeitlich festgelegte und verzögerte Miktion und Beckenbodenübungen. Bei der terminierten Miktion wird ein regelmässiges Zeitintervall ohne Berücksichtigung des Harndrangs definiert. Zu Beginn werden kurze Zeiträume von etwa einer halben Stunde als Intervall festgelegt. Während der nächsten Wochen wird die Zeitspanne dann allmählich verlängert, bis der Patient den Harndrang über einen Zeitraum von drei bis vier Stunden unter Kontrolle halten kann. Um wieder eine ausreichende Muskelkontrolle und Muskelstärke zu erlangen, müssen Blasentraining und Beckenbodenübungen regelmässig und möglichst täglich durchgeführt werden. Ein Blasentagebuch kann dabei helfen, den Behandlungserfolg zu überprüfen und Faktoren wie bestimmte Nahrungsmittel oder Komorbiditäten zu identifizieren, welche die Symptomatik verschlimmern.
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Kasten 2:
Die weltweit am häufigsten verschriebenen Medikamente bei überaktiver Blase
(mod. n. Marinkovic et al.)
❖ Darifenacin (M3-selektiv): Emselex®
❖ Fesoterodin (nicht selektiv): Toviaz®
❖ Oxybutynin (M3- und M1-selektiv), Transdermalpflaster: Kentera®
❖ Oxybutynin, oral: Ditropan®
❖ Oxybutynin, oral mit verzögerter Freisetzung: Lyrinel® Oros®
❖ Oxybutyninchlorid-Gel 10%: nicht im «Arzneimittel-Kompendium der Schweiz»
❖ Solifenacin (M3- und M1-selektiv): Vesicare®
❖ Trospiumchlorid XR (nicht selektiv): mit verzögerter Freisetzung nicht im «Arzneimittel-Kompendium der Schweiz»
❖ Trospiumchlorid, schnell freisetzend: Spasmo-Urgenin® Neo
❖ Tolterodintartrat, lang wirksam: Detrositol® SR
Medikamentöse Behandlung Medikamente zur Verbesserung der charakteristischen Symptome stellen den wichtigsten Bestandteil des therapeutischen Managements dar. Anticholinergika lindern die Drangbeschwerden zum einen über die kompetitive Hemmung der Bindung von Acetylcholin an die Muskulatur in der Blasenwand (Detrusormuskel) und zum anderen, indem sie sensorische Rezeptoren im Urothel hemmen und die Aktivität afferenter Nerven reduzieren. In einem Cochrane-Review aus dem Jahr 2006 mit 61 Studien und insgesamt 11 956 Patienten wurde unter der Behandlung mit Anticholinergika eine signifikante Verbesserung im Hinblick auf die Miktionshäufigkeit innerhalb von 24 Stunden im Vergleich zu Plazebo beobachtet. Studien zeigen zudem aber auch, dass der Plazeboeffekt ebenfalls einen bedeutenden Stellenwert bei der Behandlung der überaktiven Blase besitzt. Im Jahr 2009 wurde in einer Metaanalyse von plazebokontrollierten Anticholinergikastudien ein beträchtliches Ansprechen der Patienten auf Plazebo im Hinblick auf gängige klinische Endpunkte inklusive einer Reduzierung der Miktionshäufigkeit, des Harndrangs und der Dranginkontinenz festgestellt. Die meisten Patienten nehmen bereits innerhalb von drei Monaten nach Behandlungsbeginn ihre Medikamente nicht mehr regelmässig ein. Zu dieser unzureichenden Compliance kommt es vermutlich, weil oft nur eine langsame und/oder geringfügige Besserung eintritt. Eine weitere Abbruchursache sind Nebenwirkungen. Mundtrockenheit und Obstipation gehören zu den bedeutendsten unerwünschten Wirkungen von Anticholinergika. In einer prospektiven Observationsstudie wurde beobachtet, dass sie bei bis zu 50 Prozent der Patienten zum Abbruch der Behandlung führen können. Bei Obstipation sollten daher Empfehlungen zum Verzehr von mehr Ballaststoffen und stuhlauflockernde Medikamente gegeben werden.
Antimuskarinika können – vor allem bei älteren Menschen – auch mit schweren unerwünschten Wirkungen wie Verwirrung und kognitiven Defiziten verbunden sein. Bei älteren Menschen kann es zusätzlich zu zerebrovaskulären Erkrankungen und anderen Krankheiten, welche die Durchlässigkeit der Blut-Hirn-Schranke beeinflussen, zu einer ausgeprägten ZNS-Toxizität kommen. Der Einsatz von Substanzen, die die Blut-Hirn-Schranke in geringerem Ausmass passieren, wie Trospium und Darifenacin, könnte bei diesen Patienten kognitive Beeinträchtigungen verhindern. Vagolytische Wirkungen im kardiovaskulären Bereich können zu Veränderungen von Herzfrequenz und Blutdruck führen. Bei Patienten mit bekannter Herzerkrankung sollte daher vorzugsweise eine M3-selektive (M = muskarinischer Acetylcholinrezeptor) Substanz gewählt werden. Für Patienten mit Schluckschwierigkeiten stehen OxybutyninchloridGel oder transdermale Pflaster als geeignete Darreichungsformen zur Verfügung. Im Zusammenhang mit der Verschreibung ist darauf zu achten, auch über Kontraindikationen zu sprechen, da Patienten ihrem Arzt häufig nicht alle medizinischen Probleme von sich aus mitteilen. Zu den Kontraindikationen für Anticholinergika gehören Überempfindlichkeiten gegenüber bestimmten Wirkstoffen, ein unbehandeltes Engwinkelglaukom, partielle oder vollständige gastrointestinale Obstruktionen sowie Hiatushernien, gastroösophagealer Reflux, intestinale Atonie, paralytischer Ileus, ein toxisches Megakolon, schwere Kolitis, Myasthenia gravis und Harnwegsobstruktionen.
Was tun bei einer therapieresistenten überaktiven Blase?
Kann mit Anticholinergika kein Erfolg erzielt werden, stehen
minimalinvasive Eingriffe zur Second-Line-Behandlung zur
Verfügung. Dazu gehört die mehrfache Injektion von Botuli-
numtoxin in den Detrusormuskel. Die Wirkung lässt jedoch
meist nach sechs bis neun Monaten nach, sodass die Injek-
tionen erneut vorgenommen werden müssen. Die sakrale
Neuromodulation und die perkutane Tibialnervstimulation
sind derzeit in den USA die einzigen zur Behandlung der über-
aktiven Blase zugelassenen Second-Line-Verfahren.
Aus Phase-III-Studien geht hervor, dass ein chirurgischer Ein-
griff zur Vergrösserung der Blase bei bestimmten Patienten
mit therapieresistenter überaktiver Blase ebenfalls von Nut-
zen sein kann. Allerdings handelt es sich dabei um einen gros-
sen Eingriff, und es ist nicht vorhersehbar, welche Patienten
davon profitieren. Zudem kommt es dabei häufig zu Folge-
komplikationen. Die operative Blasenvergrösserung stellt
daher eine Third-Line-Option dar.
❖
Petra Stölting
Quelle: Serge P Marinkovic et al.: The management of overactive bladder syndrome. BMJ 2012; 344: e2365.
Interessenkonflikte: Die Autoren erklären, dass keine Interessenkonflikte vorliegen.
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