Transkript
STUDIE REFERIERT
FSME im Kindesalter
Wirklich selten oder eher häufig verpasst?
In Europa ist die durch Zecken übertragene Frühsommer-Meningoenzephalitis (FSME) auf dem Vormarsch. Bei Erwachsenen nimmt die Erkrankung einen relativ typischen Verlauf. Kinder sollen nur leicht erkranken, weshalb FSME in dieser Altersgruppe als weniger wichtiges Problem gilt. Stimmt das?
Methodik Die Autoren untersuchten retrospektiv die von Spitälern oder Hausärzten veranlassten Serologien zu Anti-FSME der Jahre 2003 bis 2008. Von 3635 AntiFSME-Serologien waren 998 (27%) positiv auf Anti-FSME-Immunglobulin M (IgM) und/oder IgG. Diese Patienten wurden retrospektiv aufgefordert, einen Fragebogen zu ihren Symptomen auszufüllen.
THE PEDIATRIC INFECTIOUS DISEASE JOURNAL
Das FSME-Virus gehört zur Gruppe der Flaviviren, wie unter anderem auch Dengue und Gelbfieber. Bei Erwachsenen führt die Infektion nach einer Inkubation von etwa 1 bis 2 Wochen zunächst zu unspezifischen grippeähnlichen Krankheitszeichen, danach folgen ein asymptomatisches Intervall und danach die Symptome einer Meningitis oder Meningoenzephalitis unterschiedlichen Schweregrads. Gemeinhin gilt die Infektion bei Kindern als ein relativ geringfügiges Geschehen, es gibt aber auch Fallberichte von schweren akuten FSME-Erkrankungen bei Kindern sowie Aufmerksamkeitsdefiziten und Störungen der psychomotorischen Aktivität, begleitet von EEG-Veränderungen als Folgeerscheinungen.
Merksatz
❖ Eine retrospektive Studie aus Schweden fand anamnestische und serologische Hinweise darauf, dass die durch Zecken übertragene Frühsommer-Meningoenzephalitis (FSME-) Infektion in der Kindheit oft nur vage Symptome verursacht und wohl oft verpasst wird.
Resultate 703 Patienten (70%) beantworteten den Fragebogen, 673 (67%) stimmten der Teilnahme an der Studie zu. Von den ursprünglichen 3635 Anti-FSMESerologien betrafen 699 (19,2%) Patienten unter 16 Jahren. In 296 Fällen (8,1%) legte die Serologie eine FSME nahe. Zusammen mit der Klinik wurde in 287 Fällen eine FSME-Diagnose gestellt. Von den 3635 Serologien zeigten 692 (19,1%) negative AntiFSME-IgM, aber positive Anti-FSMEIgG. Unter 444 verfügbaren Fragebogen-Informanten hatten 116 (26,3%) keine vorangegangene Flavivirusinfektion und waren auch nicht geimpft worden, bei ihnen dürfte somit die Infektion subklinisch verlaufen sein. Die meisten Kinder lebten in bekannten FSME-Endemie-Gegenden oder waren dort zu Besuch und konnten sich in 70 Prozent an einen Zeckenstich erinnern. Unspezifische Symptome wie erhöhte Körpertemperatur, Kopfweh, Malaise oder Müdigkeit waren bei Kindern häufiger. Auf eine Enzephalitis verweisende Symptome (kognitive Dysfunktion, beeinträchtigter Allgemeinzustand, motorische Störungen) waren hingegen bei Erwachsenen häufiger. Meningitische Zeichen (sensorische Ausfälle, Nackensteifigkeit) waren bei Kindern und Erwachsenen vergleichbar häufig. Ein biphasischer Verlauf war bei Kindern
im Vorschulalter seltener als bei älteren Kindern und Erwachsenen. Im Vergleich zu Kindern ohne FSME hatten diejenigen mit FSME signifikant häufiger sensorische Störungen, Nackensteifigkeit, Schwindel oder Gleichgewichtsstörungen und biphasische Verläufe. Die Hospitalisationsdauer war bei Kindern kürzer als bei Erwachsenen. FSME-Patienten in den verschiedenen Altersgruppen wiesen leicht erhöhte Entzündungsmarker auf, statistisch signifikant war aber bloss eine ausgeprägtere Leukozytose bei Kindern. Im Vergleich zu nicht bestätigten Fällen hatten die Kinder mit positiver FSMESerologie signifikant erhöhte BSR und Leukozytenzahlen sowie erhöhte Liquorglukose. Pleozytose und normale Glukosekonzentration im Liquor waren bei den meisten Patienten und ohne Unterschiede zwischen den Altersgruppen dokumentiert.
Diskussion
Die Autoren halten es für plausibel,
dass angesichts der unspezifischen
Symptomatik bei vielen Kindern und
Erwachsenen die FSME-Diagnose kli-
nisch nicht gestellt wird. Die Zahl der
Kinder im Vorschulalter war in dieser
Studie klein. Die Autoren glauben aber
– auch anhand der Literatur –, dass eine
FSME-Infektion zu selten in Betracht
gezogen wird. Einen Hinweis darauf
sehen sie in der fünfmal grösseren Häu-
figkeit von ebenfalls durch Zecken
übertragenen Borrelia-burgdorferi-In-
fekten bei Vorschulkindern im Ver-
gleich zu Älteren, die auf eine viel
höhere Exposition mit Zeckenstichen
schliessen lässt, als die FSME-Serolo-
gien nahelegen würden. Auch in dieser
Studie hatten Erwachsene ausgepräg-
tere Krankheitsbilder und Einzelsym-
ptome, was auf eine unterschiedliche
Reaktion des kindlichen Immunsystems
schliessen lässt. Auch die meist geringe-
ren Symptome lassen sich jedoch bei ex-
ponierten Kindern in Endemiegebieten
durch die Impfung vermeiden.
❖
Halid Bas
Magnus E.A. Hansson et al.: Tick-borne encephalitis in childhood: rare or missed? Pediatr Infect Dis J 2011; 30(4): 355–357.
Interessenlage: Die Studie entstand mit Unterstützung von Karolinska Institutet, Stockholm County Council, Swedish Association of Persons with Neurological Disabilities.
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ARS MEDICI 14 ■ 2012