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STUDIE REFERIERT
Thromboembolierisiko bei Gelenkersatz trotz Prophylaxe hoch
Aus einem Review mit Metaanalyse geht hervor, dass postoperative venöse Thromboembolien bei Hüftoder Kniearthroplastik trotz der üblichen Prophylaxe immer noch ein bedeutendes Sicherheitsrisiko darstellen.
JAMA
Postoperative venöse Thromboembolien (VTE) – tiefe Venenthrombosen und Lungenembolien – gehören zu den bedeutendsten Sicherheitsrisiken der Versorgung im Krankenhaus. Ohne Prophylaxe gehören asymptomatische und symptomatische VTE ebenso wie Infektionen zu den häufigsten unerwünschten Ereignissen im chirurgischen Bereich, wobei die Inzidenz nach orthopädischen Operationen besonders hoch ist: Nach einem Hüftersatz beträgt die VTE-Inzidenz ohne Prophylaxe 42 bis 57 Prozent und nach einem Knieersatz 41 bis 85 Prozent. Asymptomatische VTE treten häufiger auf als symptomatische, Letztere sind jedoch immer klinisch relevant. Seit mehr als 20 Jahren wird im Rahmen von Operationen zur Minimierung des VTE-Risikos eine systematische Prophylaxe entsprechend den
Merksätze
❖ Trotz Prophylaxe besteht nach einer Knieoder Hüftarthroplastik immer noch ein hohes Risiko für venöse Thromboembolien (VTE).
❖ Die VTE-Rate während des Krankenhausaufenthalts könnte einen Orientierungswert für die Patientensicherheit darstellen.
❖ Die meisten VTE ereignen sich nach dem Krankenhausaufenthalt, sodass zur genaueren Beurteilung der Sicherheit ein Zeitraum von drei Monaten berücksichtigt werden müsste.
Empfehlungen zahlreicher Richtlinien durchgeführt. Niedermolekulares Heparin wird bereits seit 1995 zur VTEProphylaxe angewendet. Zu den neueren Prophylaxeoptionen gehören indirekte und direkte Inhibitoren der Faktoren Xa und IIa. Bis anhin standen keine Schätzwerte zum Risiko für symptomatische VTE während eines Krankenhausaufenthalts zur Verfügung, die den Patienten im Vorfeld einer informierten Entscheidung für eine Hüft- oder Kniearthroplastik hätten mitgeteilt werden können. In einem systematischen Review haben Jean Marie Januel (CHUV Lausanne) und sein Team jetzt kürzlich eine literaturbasierte Schätzung symptomatischer VTE-Raten bei Patienten vor der Entlassung aus dem Krankenhaus vorgenommen, die sich einer kompletten oder partiellen Hüft- oder Kniearthroplastik unterzogen und zudem die empfohlene Prophylaxe erhalten hatten (1).
Methodik Zunächst führten die Wissenschaftler eine systematische Literatursuche in MEDLINE, EMBASE und der Cochrane-Library über den Zeitraum von 1996 bis 2011 durch. Bei ihrer Recherche berücksichtigten sie randomisierte klinische Studien, in denen die Wirksamkeit von Prophylaxeregimen untersucht worden war, sowie Beobachtungsstudien, in denen bei Patienten ab 18 Jahren postoperativ symptomatische VTE vor der Entlassung aus der Klinik aufgetreten waren. Ausserdem wurden nur Patienten in die Analyse eingeschlossen, die eine richtliniengemässe Prophylaxe in Form von niedermolekularem Heparin oder FaktorXa- beziehungsweise Faktor-IIa-Inhibitoren erhalten hatten.
Resultate In der Metaanalyse wurden die Daten von 44 844 Patienten aus 47 Studien ausgewertet. Bei 21 369 wurde eine Hüftarthroplastik und bei 23 475 eine
Kniearthroplastik durchgeführt. Der Frauenanteil variierte in den Studien von 12 bis 85 Prozent. Das durchschnittliche Alter reichte bei den Patienten mit Kniearthroplastik von 62 bis 74 Jahren und bei denen mit einer Hüftarthroplastik von 58 bis 70 Jahren. Die Patienten hielten sich nach der Hüftoperation 8 bis 17 Tage und nach der Kniearthroplastik 8 bis 35 Tage im Krankenhaus auf. Der durchschnittliche Beobachtungszeitraum erstreckte sich über 13 Tage. ❖ In diesem Zeitraum betrugen die ge-
poolten Raten aller symptomatischen postoperativen venösen Thromboembolien bei der Kniearthroplastik 1,09 Prozent und bei der Hüftarthroplastik 0,53 Prozent. ❖ Die gepoolten Raten der tiefen Venenthrombosen lagen nach der Kniearthroplastik bei 0,63 Prozent und nach der Hüftarthroplastik bei 0,26 Prozent. ❖ Die gepoolten Raten der Lungenembolien betrugen im Rahmen der Kniearthroplastik 0,27 Prozent und bei der Hüftarthroplastik 0,14 Prozent.
Unter der Prophylaxe mit niedermolekularem Heparin lag die gepoolte VTEInzidenz nach einem Knieersatz bei 1,42 Prozent und nach einem Hüftersatz bei 0,58 Prozent. Unter der Prophylaxe mit einem oralen direkten Faktor-Xa- oder Faktor-IIa-Inhibitor wurde beim Knieersatz eine gepoolte Inzidenz von 0,81 Prozent und beim Hüftersatz von 0,31 Prozent beobachtet.
Diskussion Die gepoolten Schätzraten dieser Metaanalyse weisen darauf hin, dass es unter derzeit üblichen Prophylaxeregimen bei etwa 1 von 100 Patienten nach einer Kniearthroplastik und bei etwa 1 von 200 Patienten nach einer Hüftarthroplastik vor dem Verlassen der Klinik zu einem VTE-Ereignis kommt. Nach Ansicht der Autoren können diese Raten als aktuelle Orientierungswerte für Patienten und Kliniker bei der Abwägung des Nutzens und der Risiken derartiger Operationen dienen. In den meisten publizierten Studien wird jedoch beobachtet, dass ein hoher Anteil an VTE-Ereignissen nach der Entlassung aus dem Krankenhaus auftritt. In 21 Studien dieses Reviews wurden im Zeitraum von 4 bis 12 Wochen nach
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der Entlassung VTE-Raten von 0 Prozent bis 3,4 Prozent ermittelt. Konsistent mit einer älteren Studie traten symptomatische VTE während des Krankenhausaufenthalts nach einer Kniearthroplastik häufiger auf als nach einer Hüftarthroplastik. Bezieht man den Zeitraum nach der Entlassung mit ein, kommt es dagegen nach einer Hüftarthroplastik signifikant häufiger zu symptomatischen VTE als nach einem entsprechenden Eingriff am Knie. Dies könnte nach Meinung der Autoren mit dem Ort der Venenschädigung zusammenhängen. Bei einer Kniearthroplastik werden eher kleine Venen in der Wade verletzt, bei denen es schneller zur symptomatischen Thrombose kommt, während bei Hüftoperationen grosse femorale Venen betroffen sind und daher mehr Zeit bis zum Verschluss und zur entsprechenden Symptomatik vergeht. Ihre Resultate ermöglichen nach Ansicht der Autoren die Aufstellung eines Richtwerts zur Inzidenz postoperativer VTE, der als Patientensicherheitsindikator ähnlich den Patientensicherheitsindikatoren der Agency for Healthcare and Quality (AHRQ) angewendet werden könnte. Allerdings müsste dann nach Meinung der Autoren der Beobachtungszeitraum auf etwa 3 Monate ausgeweitet werden, um eine stabilere und verlässlichere Schätzung dieser Ereignisse zu erhalten.
Kommentar John A. Heit von der Mayo-Klinik in Rochester (Minnesota, USA) diskutiert im Editorial derselben «JAMA»-Ausgabe den Stellenwert dieser Ergebnisse als Orientierungswerte zur Beurteilung der Patientensicherheit im Vorfeld einer Hüft- oder Kniearthroplastik (2). Mit einer Inzidenz von 1 auf 1000 Personenjahre gehören VTE zu den bedeutendsten Problemen im Gesundheitswesen. Nahezu ein Viertel aller Patienten mit einer Lungenembolie erleiden einen plötzlichen Tod. Zudem können VTE mit Langzeitkomplikationen wie dem postthrombotischen Syndrom und pulmonaler Hypertension verbunden sein. Ein Krankenhausaufenthalt wegen einer grossen Operation ist für etwa ein Viertel aller VTE verantwortlich, und beim Hüft- und Knieersatz besteht das höchste Risiko für derartige Ereignisse. Die Agency for Healthcare and Quality
(AHRQ) erachtet deshalb die VTEProphylaxe als eine der wichtigsten Massnahmen zur Verbesserung der Patientensicherheit. Im Jahr 2002 definierte die AHRQ eine Reihe von Patientensicherheitsindikatoren inklusive der VTE-Prophylaxe für die Versorgung im Krankenhaus. Eine Abschätzung der Raten symptomatischer VTE vor der Entlassung könnte daher prinzipiell einen nützlichen Richtwert zur Qualitätsverbesserung der Versorgung darstellen. Allerdings könnte die Erfassung des Anteils symptomatischer VTE vor der Entlassung nach Meinung des Kommentators zu einem suboptimalen Sicherheitsindikator führen, da sich der Zeitraum für das Risiko einer VTE weit über die Dauer des Krankenhausaufenthalts hinaus erstreckt. In einer Auswertung kalifornischer Behördendaten von 1991 bis 1993 betrugen die kumulativen Inzidenzraten für eine symptomatische VTE innerhalb von 91 Tagen bei 19 586 Patienten nach einem Hüftersatz 2,8 Prozent und bei 24 059 Patienten nach einem Knieersatz 2,1 Prozent. Die durchschnittliche Zeit bis zum Auftreten der VTE lag hier bei 17 beziehungsweise 7 Tagen. Die Patienten hielten sich durchschnittlich etwa 7 Tage im Krankenhaus auf, sodass 76 Prozent der Hüftersatz-assoziierten VTE-Ereignisse und 47 Prozent der Knieersatz-assoziierten Ereignisse erst nach der Entlassung aus dem Krankenhaus auftraten. Obwohl diese Zahlen aufgrund der veränderten Praxis heutzutage etwas überholt sein könnten, kommen aktuelle Kohortenstudien trotz Durchführung der empfohlenen VTE-Prophylaxe zu ähnlichen Schätzwerten. Nach Ansicht des Kommentators sollte deshalb eine VTE-Inzidenz innerhalb von drei Monaten als Richtgrösse für eine Qualitätsverbesserung ausschlaggebend sein. Zur Evaluierung individueller Patientenoutcomes nach der Entlassung aus dem Krankenhaus steht jedoch bis anhin kein einfaches validiertes Erfassungsinstrument zur Verfügung. Wie verlässlich sind angesichts dieser Limitierungen die Schätzungen der VTE-Raten während des Krankenhausaufenthalts nach einem Hüft- oder Knieersatz, die von Januel und seinem Team ermittelt wurden? Mehr als 80 Pro-
zent der hier analysierten Patienten stammten aus randomisierten Studien. Ob deren klinische Ergebnisse auf alle Patienten übertragen werden können, die sich derartigen Operationen unterziehen, ist fraglich. Zudem beträgt der übliche Krankenhausaufenthalt nach einem Hüft- oder Knieersatz lediglich 3 bis 4 Tage, sodass die VTE-Raten im Hospital unter Alltagsbedingungen vermutlich niedriger sind als die von Januel für einen durchschnittlichen Follow-up von 13 Tagen ermittelten Werte. Aufgrund dieser Einschränkungen erscheint John Heit die Eignung der VTEInzidenz im Krankenhaus nach einem Hüft- oder Knieersatz als Patientensicherheitsindikator für eine Qualitätsverbesserung fragwürdig. Wie Januel in seinem Review bereits ausgeführt hat, müssten die Untersuchungszeiträume verlängert werden, damit man korrekte Zahlen erhält. Eine longitudinale elektronische Datenerfassung könnte nach Ansicht des Kommentators einen besseren Überblick über medizinische Irrtümer, Komplikationen und Ereignisse während eines Klinikaufenthalts und nach der Entlassung gewährleisten. ❖
Petra Stölting
Quellen: 1. Januel Jean-Marie et al.: Symptomatic in-hospital
deep vein thrombosis and pulmonary embolism following hip and knee arthroplasty among patients receiving recommended prophylaxis, JAMA 2012; 307(3): 294–303. 2. Heit John A: Estimating the incidence of symptomatic postoperative venous thromboembolism, JAMA 2012; 307(3): 306–307.
Interessenkonflikte: in beiden Quellen keine deklariert.
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