Transkript
NICE-Leitlinie zur stabilen Angina pectoris
FORTBILDUNG
In der NICE-Leitlinie zum Management der stabilen Angina pectoris wird darauf hingewiesen, die Betroffenen ausführlich zu ihrer Erkrankung zu beraten. Zur Behandlung der Symptome sind Betablocker und Kalziumkanalhemmer die Medikamente der ersten Wahl. Eine Revaskularisierung kann mit perkutaner Koronarintervention oder einer Bypassoperation durchgeführt werden.
BRITISH MEDICAL JOURNAL
Bei der stabilen Angina pectoris handelt es sich um eine relativ häufige Erkrankung. In Grossbritannien sind (oder waren) etwa 8 Prozent der Männer und 3 Prozent der Frauen im Alter von 55 bis 64 Jahren sowie 14 Prozent der Männer und 8 Prozent der Frauen im Alter zwischen 65 und 74 Jahren betroffen. Die stabile Angina ist mit einem niedrigen, aber relevanten Risiko für akute koronare Ereignisse und einer erhöhten Mortalität verbunden. Die neuesten Empfehlungen des National Institute for Health and Clinical Excellence (NICE) zum Management der stabilen Angina pectoris wurden in einem Übersichtsartikel im «BM»J zusammengefasst. Die Diagnose der stabilen Angina pectoris ist Gegenstand einer älteren Richtlinie.
Merksätze
❖ Der Patient sollte umfassend über seine Erkrankung und die Selbstbehandlung beim Anfall informiert werden.
❖ Betablocker und Kalziumkanalhemmer sind Medikamente der ersten Wahl.
❖ Bei Unverträglichkeit oder Kontraindikationen gegenüber einer dieser Substanzen kann mit Ivabradin, Nicorandil, Ranolazin oder einem lang wirksamen Nitrat kombiniert werden.
❖ Zur Revaskularisierung kann eine perkutane Koronarintervention oder eine Bypassoperation durchgeführt werden.
Information und Unterstützung Die Experten empfehlen, die Patienten über das Krankheitsbild der stabilen Angina sowie deren Langzeitverlauf und das Therapiemanagement aufzuklären. Ausserdem sollten Betroffene über Faktoren wie Aufregung, Stress, Kälteexposition oder schwere Mahlzeiten informiert werden, die eine Angina pectoris auslösen können. Falsche Vorstellungen zur Angina pectoris sowie zum Risiko für einen Herzanfall und bezüglich der Lebenserwartung sollten korrigiert werden. Manche Patienten profitieren auch von Gesprächen über Selbstmanagement-Strategien wie eine Anpassung ihrer Aktivitäten und Zielsetzungen oder über ein Gespräch zur Besorgnis über potenzielle Auswirkungen von Stress, Ängsten und Depressionen auf die Erkrankung. Gespräche zur körperlichen Belastbarkeit einschliesslich sexueller Aktivitäten können ebenfalls unterstützend wirken. Zur Beratung gehören auch individuelle Empfehlungen zum Lebensstil, beispielsweise zur Gewichtskontrolle, zur Ernährung, zum Einstellen des Rauchens oder zu Bewegung und Sport sowie Hinweise auf psychologische Unterstützung. Falls erforderlich, werden individuelle Behandlungsmassnahmen angeboten. Dem Patienten sollte zudem erklärt werden, dass Vitamine oder Fischöle nicht verschrieben werden, da bisher kein Nutzen im Zusammenhang mit der stabilen Angina pectoris nachgewiesen werden konnte.
Prophylaxe und Anfallsmanagement Zur Prävention und Behandlung von Anfällen empfehlen die NICE-Experten ein kurz wirksames Nitrat. Bei der Verordnung des Präparats erhält der Patient Anweisungen zur routinemässigen Anwendung sowie zum Einsatz des Nitrats während eines Anfalls oder kurz vor einer geplanten körperlichen Anstrengung. Die Aufklärung über mögliche Nebenwirkungen wie Hitzewallungen, Kopfschmerzen und Schwindel gehört ebenfalls zum Beratungsgespräch. Im Hinblick auf die Selbstbehandlung eines Anginaanfalls wird der Patient angewiesen, eine zweite Dosis zuzuführen, wenn der Schmerz nach der ersten Einnahme des Nitrats nicht abklingt, und den Notarzt zu rufen, wenn der Schmerz auch fünf Minuten nach der zweiten Dosis nicht nachlässt. Zudem wird Betroffenen geraten, bei einer plötzlichen Verschlechterung bezüglich der Häufigkeit und Schwere der Anfälle professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen.
Medikamentöse Behandlung Die optimale medikamentöse Erstbehandlung besteht in 1 oder 2 Medikamenten zur Behandlung der Symptome und
ARS MEDICI 13 ■ 2012
663
FORTBILDUNG
zusätzlichen Präparaten zur Sekundärprävention kardiovaskulärer Erkrankungen. Der Patient sollte über die Wirkungsweise, die Bedeutung der regelmässigen Einnahme und potenzielle Nebenwirkungen aufgeklärt werden. Das Medikament zur Behandlung der Symptome wird bis zur höchsten verträglichen Dosis auftitriert. 2 bis 4 Wochen nach Behandlungsbeginn oder nach einer Umstellung der Medikation wird das Ansprechen des Patienten überprüft.
Auswahl geeigneter Medikamente Zur Behandlung der stabilen Angina pectoris sind Betablocker oder Kalziumkanalhemmer die Medikamente der ersten Wahl. Andere Substanzen sollten nicht routinemässig als erste Option herangezogen werden. Können die Symptome mit Betablockern oder Kalziumkanalhemmern nicht ausreichend kontrolliert werden, wird zunächst auf das jeweils andere Medikament oder auf eine Kombination aus beiden umgestellt. Bei Unverträglichkeit eines Betablockers oder eines Kalziumkanalblockers wird ebenfalls zunächst auf die jeweils andere Medikamentenklasse umgestellt. Bei Patienten, die auf einen Betablocker oder einen Kalziumkanalblocker nicht ausreichend ansprechen, die andere Option aber nicht vertragen, oder wenn diese kontraindiziert ist, kann als zweites Medikament ein lang wirksames Nitrat, Ivabradin (Procoralan®), Nicorandil (Dankor® und Generikum) oder Ranolazin (Ranexa®) in Betracht gezogen werden. Kombiniert man einen Kalziumkanalblocker mit einem Betablocker oder mit Ivabradin, sollte ein Dihydropyridin-Kalziumkanalblocker gewählt werden. Dazu gehören langsam freisetzendes Nifedipin (Adalat® und Generika), Amlodipin (Norvasc® und Generika) und Felodipin (Plendil® und Generika). Werden Kalziumkanalblocker und Betablocker nicht vertragen oder sind diese kontraindiziert, ist die Monotherapie mit einem lang wirksamen Nitrat oder Ivabradin, Nicorandil oder Ranolazin eine geeignete Alternative. Kann die Angina mit zwei Medikamenten kontrolliert werden, sollte kein drittes verordnet werden. Ein drittes Medikament wird nur hinzugefügt, wenn die Symptome mit den ersten beiden Substanzen nicht kontrolliert werden können und wenn die Person auf eine Revaskularisierung wartet oder wenn die Revaskularisierung keine geeignete Massnahme darstellt. Ist eine Auswahl zwischen Medikamenten möglich, sollte diese auf der Basis von Komorbiditäten und Kontraindikationen sowie der Präferenzen des Patienten und der Kosten vorgenommen werden.
Medikamente zur Sekundärprävention Zur Sekundärprävention kardiovaskulärer Erkrankungen kann unter Berücksichtigung des Blutungsrisikos und der Komorbiditäten die Gabe von täglich 75 mg Aspirin erwogen werden. Eine Statinbehandlung oder die Behandlung von Bluthochdruck erfolgt entsprechend den NICE-Richtlinien zur Lipid- und zur Blutdruckmodifizierung. Bei Patienten mit stabiler Angina und Diabetes können ACE-Hemmer angewendet werden. Nimmt der Patient diese bereits wegen anderer Erkrankungen ein, wird die Behandlung fortgesetzt.
Untersuchungsverfahren und Revaskularisierung Können die Symptome mit Medikamenten nicht ausreichend kontrolliert werden, raten die Experten dazu, eine Revasku-
larisierung in Betracht zu ziehen und den Betroffenen eine Koronarangiografie als Basis zur Planung der weiteren Behandlungsstrategie anzubieten. Zusätzlich können zur Entscheidungsfindung weitere nichtinvasive oder invasive funktionelle Untersuchungen erforderlich sein. Zu den nichtinvasiven Verfahren gehören die Dobutamin-Stress-Echokardiografie und bildgebende Verfahren zur Untersuchung der koronaren Durchblutung. Bei der Messung der fraktionellen Flussreserve der Koronararterie handelt es sich um eine invasive Untersuchung. Kommt eine perkutane Koronarintervention oder eine koronare Bypassoperation infrage, sollten betroffene Patienten über den Nutzen und die Risiken dieser Eingriffe aufgeklärt werden. Hat der Patient keine Präferenz, kann die perkutane Koronarintervention als kostengünstigere Variante angeboten werden. Bei Mehrgefässerkrankung und Diabetes sowie bei Patienten über 65 Jahre oder bei einer komplexen Dreigefässerkrankung mit oder ohne Beteiligung des linken Hauptstamms ist der potenzielle Überlebensvorteil in Verbindung mit der Bypassoperation im Vergleich zur perkutanen Koronarintervention zu beachten.
Vorgehen bei erfolgreicher medikamentöser Kontrolle Bei erfolgreicher medikamentöser Kontrolle raten die Experten dazu, mit dem Patienten bestimmte Gesichtspunkte wie die Prognose ohne weitere Untersuchungen und die geringe Wahrscheinlichkeit einer linksseitigen Hauptstammerkrankung oder einer proximalen Dreigefässerkrankung durchzusprechen. Zudem sollte er auf die Möglichkeit einer Bypassoperation bei linksseitiger Hauptstammerkrankung oder proximaler Dreigefässerkrankung und die damit verbundenen Vorteile und Risiken aufmerksam gemacht werden. Nach dem Gespräch sollten funktionelle Tests oder nichtinvasive Untersuchungen (computertomografische Angiografie) zur Identifizierung von Patienten überdacht werden, die einen Überlebensvorteil durch die Operation haben könnten. Möglicherweise liegen dazu bereits geeignete Untersuchungsergebnisse von der Diagnosestellung vor. Weisen die Untersuchungsergebnisse auf eine ausgeprägte Ischämie oder die Wahrscheinlichkeit einer Hauptstamm- oder einer proximalen Dreigefässerkrankung hin und erscheint eine Revaskularisierung sinnvoll, sollten eine Koronarangiografie und – bei entsprechendem Ergebnis – eine Bypassoperation in Betracht gezogen werden.
Hinweise zur Revaskularisierung Der individuelle Nutzen und die Risiken einer Revaskularisierung sollten anhand der Schwere und Komplexität der Erkrankung und anderer relevanter Faktoren wie Komorbiditäten systematisch abgewogen werden. Dazu ist auch eine regelmässige Diskussion der medikamentösen und chirurgischen Optionen in einem interdisziplinären Team mit Herzchirurgen und Kardiologen erforderlich. Die Behandlungsstrategie sollte vor allem bei Patienten mit Hauptstammoder Dreigefässerkrankung und bei Zweifeln aufgrund der Komplexität einer Erkrankung diskutiert werden. Zudem sollte sichergestellt werden, dass der Patient über alle Aspekte der Behandlungsoptionen ausgewogen informiert wird und Gelegenheit zur Diskussion erhält, sodass er informierte Entscheidungen für sich treffen kann. Ist die Revaskularisierung
664
ARS MEDICI 13 ■ 2012
eine geeignete Option, wird der Patient darüber aufgeklärt, dass die Bypassoperation oder die perkutane Koronarintervention die Symptome wirksam reduzieren können, gelegentlich aber wiederholt werden müssen, und dass bei beiden Verfahren ein Schlaganfall als seltene Komplikation auftreten kann. Bei einer Mehrgefässerkrankung wird der Patient auf den potenziellen Überlebensvorteil im Zusammenhang mit der Bypassoperation aufmerksam gemacht. Zu den notwendigen Informationen über praktische Aspekte der Bypassoperation gehören Erläuterungen, auf welche Weise Venen oder Arterien gewonnen werden, Hinweise zur Dauer des Krankenhausaufenthalts und der Erholungszeit sowie Auskünfte zur medikamentösen Behandlung nach dem Eingriff.
Stabile Angina pectoris,
die auf Behandlung nicht anspricht
Patienten, die auf die medikamentöse Therapie und/oder die
Revaskularisierung nicht ansprechen, sollte eine umfassende
Neuevaluierung und Beratung angeboten werden. Dazu
kann eine Überprüfung des Krankheitsverständnisses des
Patienten oder eine Evaluierung der Auswirkungen der
Symptome auf die Lebensqualität vorgenommen werden.
Ausserdem raten die NICE-Experten zur Überprüfung der
Diagnose unter Erwägung nicht ischämischer Schmerzursa-
chen sowie einer Überprüfung der medikamentösen Behand-
lung und der Evaluierung zukünftiger Behandlungs- und
Revaskularisierungsmöglichkeiten. Zur erneuten Beratung
gehören auch Erläuterungen zum Selbstmanagement der
Schmerzen und zur Rolle psychologischer Faktoren im
Zusammenhang mit Schmerz. Die transkutane elektrische
Nervenstimulation, die verstärkte externe Gegenpulsation
oder die Akupunktur sollten im Management der stabilen
Angina pectoris nicht angewendet werden, da für diese Ver-
fahren kein Nachweis für eine Wirksamkeit zur Reduzierung
der Anfälle vorliegt.
❖
Petra Stölting
O’Flinn Norma, Timmis Adam, Henderson Robert et al.: Management of stable angina: summary of NICE guidance, BMJ 2011; 343: d4147
Interessenkonflikte: Manche Autoren haben Gelder von verschiedenen Pharmaunternehmen erhalten.