Transkript
INTERVIEW
«Der Hausarzt ist schon bald ein ‹Basler Dybli›»
Die Ökonomisierung des Gesundheitswesens
Ein Interview mit Dr. med. Peter Wiedersheim über Hintergründe, Folgen und notwendige Massnahmen angesichts der zunehmenden Ökonomisierung des Gesundheitswesens unter besonderer Berücksichtigung der Situation der Hausärzte.
ARS MEDICI: Im Rahmen einer Veranstaltung über die Ökonomisierung des Gesundheitswesens haben Sie kürzlich sehr pointiert die Situation der Hausärzte dargestellt. Was hat Sie dazu bewogen? Dr. med. Peter Wiedersheim: Die Gesundheitspolitik der vergangenen Jahre entwickelt sich in die falsche Richtung – wir brauchen kein DRG-Wettrüsten der Kliniken und noch weniger ein permanentes Abstrafen der praktizierenden Ärzteschaft, insbesondere der Hausarztmedizin. Die demografische Entwicklung und die Zunahme chronischer Erkrankungen bedingen eine tendenziell weniger intensive, dafür aber vor allem eine kontinuierliche, wohnortnahe, möglichst breite medizinische Behandlung. Ihre Zukunft ist deshalb eine optimale basisnahe Versorgung unserer Bevölkerung. Auch der OECD-Bericht 2011 empfiehlt, das System stärker auf Grundversorgung und Prävention auszurichten. Dafür müssen wir uns im Interesse unserer Patientinnen und Patienten voll engagieren!
ARS MEDICI: Trotz viel politischem Lob für die Hausärzte wurde bis jetzt von der Politik real wenig für sie getan. Vielmehr wird beispielsweise vonseiten des Preisüberwachers eine massive Margensenkung in der Selbstdispensation verlangt – und zwar unter dem Vorwand der «falschen Anreize» bei der direkten ärztlichen Medikamentenabgabe. Wie beurteilen Sie das Sagen und Handeln der «Politik»? Wiedersheim: Es demonstriert ihre Hilflosigkeit. Das Gesundheitssystem der Schweiz hat mehrere fundamentale Fehler, solange diese nicht behoben sind, gibt es wohl kaum eine gute Lösung. ❖ Wir haben so zum Beispiel kein nationales Gesundheitsge-
setz, dafür 26 kantonale Gesundheitsgesetze. ❖ Viele der kantonalen Gesundheitsdirektionen tragen zu
viele Hüte, nicht zu Unrecht hat auch Economiesuisse 2011 gefordert: Wer Regulator ist, darf kein Player sein! ❖ Die Politik und der Preisüberwacher verrennen sich immer mehr in einer fokussierten sektoriellen Kostenbetrachtung, die Nutzenbeurteilung ist ganz im Hintergrund. ❖ Es mangelt an der nötigen Versorgungsforschung, es fehlen die nötigen Messgrössen und die nötige Transparenz.
❖ Die volkswirtschaftliche Gesamtkostenoptik ist inexistent – auch in der Prävention fristet die Schweiz ein trauriges Mauerblümchendasein!
Es gibt also viele Hausaufgaben für die Politik, die sie aber nicht selbst lösen kann. Es braucht den nötigen Willen, das Vertrauen sowie die gute und glaubwürdige Zusammenarbeit von allen Beteiligten – nur so ist der gordische Knoten zu lösen. Die Ärzteschaft ist der Kompetenzpartner in Gesundheitsfragen – dies verpflichtet sie aber auch zu Leadership in der Gesundheitspolitik, speziell zu konkreten Lösungsvorschlägen.
ARS MEDICI: Was halten Sie von den Margenvorstellungen des Preisüberwachers? Wiedersheim: Sie sind indiskutabel und ein typisches Beispiel, das gut zur obigen Antwort passt. In einem fokussierten theoretischen Ansatz liegt Herr Meierhans mit dem Vorwand der «falschen Anreize» zwar richtig, aber die Praxis zeigt ein ganz anderes Bild. In den Kantonen mit einer ärztlichen Medikamentenabgabe (AMA) sind nicht nur die Medikamentenkosten tiefer, sondern auch die Kosten der ärztlichen Behandlung. Diese Kantone haben auch einen durchschnittlich tieferen Taxpunktwert, was nicht zuletzt den Prämienzahlern zugute kommt. Dass die AMA in diesen Kantonen einen Teil des Einkommens der praktizierenden Ärzteschaft darstellt, ist unumstritten, so hat auch die Regierung des Kantons St. Gallen die AMA befürwortet und festgehalten, dass bei einem Wegfall der AMA ein höherer Taxpunktwert resultieren müsste. Die AMA wird zudem von der Bevölkerung klar gewünscht, wie auch die Abstimmungen im Kanton Zürich trotz aller Polemik mehrfach gezeigt haben. Mit anderen Worten: Die Margensenkung von Herrn Meierhans ist ein «Sargnagel» für die AMA und die Hausarztmedizin. Seine Idee führt zu einem schlechteren Service für die Bevölkerung, zu einer Schwächung der dringend zu fördernden Grundversorgung und last, but not least sogar zu höheren Krankenkassenprämien.
ARS MEDICI: Ist die ebenfalls diskutierte Einführung einer margenunabhängigen Vergütung der ärztlichen Medikamentenabgabe ohne gleichzeitige Korrektur der Taxpunktwerte überhaupt möglich? Wiedersheim: Die Ärzteschaft hat hier eine durchaus gute, Taxpunktwert-neutrale Lösung präsentiert, die auch mit dem Vorwurf der falschen Anreize aufräumt. Dass Santésuisse nun aber mit dem Wechsel zur margenunabhängigen ärztlichen Medikamentenabgabe ein Sparvolumen von über 200 Millionen Franken einfordert, ist inakzeptabel.
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ARS MEDICI 13 ■ 2012
INTERVIEW
Zur Person
Dr. med. Peter Wiedersheim, MBA, ist Präsident der Ärztegesellschaft des Kantons St. Gallen und der Konferenz der Ostschweizer Ärztegesellschaften sowie Co-Präsident der Kantonalen Ärztegesellschaften (KKA).
ARS MEDICI: Wie sehen Sie die Chancen für das wirtschaftliche Überleben eines freien Ärztestands in der Grundversorgung? Wiedersheim: Angesichts der demografischen Entwicklung und der massiven Zunahme von chronischen Krankheiten geht die Grundversorgung vonseiten des Bedarfs goldenen Zeiten entgegen. Die Tatsache, dass wir in der Schweiz betreffend Ärzteausbildung den drittletzten Platz aller OECD-Länder einnehmen, steigert den «Marktwert» insbesondere der künftigen Ärztinnen und Ärzte in unserem Land weiter. Die Praxisstrukturen müssen sich aber dem gesellschaftlichen Wandel gerade auch vonseiten der Ärzteschaft anpassen. Stichworte sind etwa: Gruppenpraxen mit Teilzeitpensen, Steuerung der Patientenströme, optimierte Notfalldienstregelungen. Wenn der Nutzen für unsere Patientinnen und Patienten im Vordergrund unseres Handelns steht, darf sich eine Hausärztin oder ein Hausarzt wohl schon bald mit dem «Basler Dybli» einer Briefmarkensammlung vergleichen!
ARS MEDICI: Wie schon früher beim Röntgen wurde auch bei den Labortarifen die Sparschraube massiv angezogen, leider wieder auf dem Buckel der freien Praxis. Wie beurteilen Sie das Ergebnis, und sehen Sie eine Chance für eine Korrektur der Tarife der Analysenliste durch das BAG? Wiedersheim: In den Praxen hat die Korrektur der Tarife der Analysenliste zu Einbussen von 18 bis 30 Prozent im Laborbereich geführt. Hauptverlierer (nach unseren Zahlen mit über 60 Millionen Franken) sind die in eigener Praxis überwiegend in der Basisversorgung tätigen Ärztinnen und Ärzte. Die zwischenzeitlich auf dem Tisch liegenden Fakten sind so erdrückend, dass eine Korrektur vonseiten des BAG resultieren muss, wenn dieses Bundesamt nicht jede Glaubwürdigkeit verlieren will.
ARS MEDICI: In den letzten Jahren haben die Spitäler ihr ambulantes Angebot massiv ausgeweitet (mit entsprechendem Kostenanstieg in diesem Sektor). Was bedeutet das für die Ärzte in der freien Praxis, und welche Verantwortung trägt die Ärzteschaft allenfalls dafür? Wiedersheim: Angesichts der dualen Finanzierung im stationären Bereich und der monistischen Finanzierung im ambulanten Spitalbereich sowie der DRG-Einführung ist eine Verlagerung in den ambulanten Spitalbereich eine logische Konsequenz, ich habe davor auch aufgrund der Erfahrungen in Deutschland wiederholt gewarnt. Es erstaunt aber wohl nicht, dass der Regulator nicht eingreift, wenn er damit als Player ein «eigenes» Geschäftsfeld fördern kann. Selbstverständlich ist diese Entwicklung für die praktizierende Ärzteschaft eine Konkurrenz mit ungleich langen Spiessen, die leider einmal mehr mit höheren Gesamtkosten (somit auch höheren Krankenkassenprämien) einhergeht. Im Zusammenhang mit dem massiven Kostenanstieg der Spitalambulatorien sei aber nicht unerwähnt, dass zum Beispiel auch diverse neuere Operationstechniken dazu geführt haben, dass verschiedene Eingriffe nicht mehr stationär, sondern ambulant durchgeführt werden können. Diese volkswirtschaftlich gesehen sicher gesunde Kostenverlagerung ist aber von den Kosten im Zusammenhang mit dem Ausbau und Betrieb der oft unnötigen zusätzlichen ambulanten Dienstleistungsangebote der Kliniken klar zu trennen.
ARS MEDICI: Bringt Managed Care dem Grundversorger eine bessere (wenigstens sicherere?) wirtschaftliche Zukunft oder doch nur grössere Abhängigkeit von Staat und Versicherern? Wiedersheim: Sehen wir einmal von der die ärztlichen Geister spaltenden MC-Vorlage des Bundes und der heutigen gesetzlichen Regelung von MC ab, so bietet MC nicht nur für die Grundversorgung das Potenzial für bessere wirtschaftliche Rahmenbedingungen und weniger Abhängigkeit von Staat und Versicherungen. MC hat sehr viel mit Leadership zu tun. Dies heisst aber auch Verantwortung – wer diese trägt, muss auch das Sagen haben! Wer versteht unser Handwerk besser als wir?
ARS MEDICI: Unproduktive Kosten machen einen immer grösseren Teil an den Gesamtkosten des Gesundheitswesens aus (Stichwort: Bürokratie). Lässt sich dieser unproduktive Teil in der Honorierung der ärztlichen Tätigkeit besser berücksichtigen, oder müssen wir uns damit abfinden, dass immer mehr organisatorisch, administrativ und kontrollierend Tätige einen immer grösseren Teil am «Gesamtkuchen» für sich beanspruchen? Wiedersheim: Die aktuelle Pseudoökonomisierung der Gesundheitswirtschaft führt in der Tat zu einer immer groteskeren Bürokratie, meist ohne jeden Nutzen für die Patientinnen und Patienten. Ohne Systemänderung sehe ich momentan keinen Ausweg. Die Ärzteschaft muss künftig mehr Führungsverantwortung übernehmen und bessere Lösungen auf den Verhandlungstisch legen, nur so ist mehr Mitspracherecht zu gewinnen, und nur so sind die nötigen Verbesserungen möglich. (PS: In einem guten Netzwerk braucht es keinen externen vertrauensärztlichen Dienst, es ermöglicht auch Tarmed-unabhängige Leistungen und eine wesentlich schlankere Bürokratie.)
ARS MEDICI: Lassen sich in der heutigen Gesundheitspolitik die Partikularinteressen aller «Mitspieler» überhaupt unter einen Hut bringen? Wie könnten dafür neue Ansätze aussehen? Wiedersheim: Entschuldigung, bei mir ist das die falsche Frage. Für mich steht der Nutzen unserer Patientinnen und Patienten im Zentrum. Wenn es ihnen, nicht nur durch die Brille von Partikularinteressen gesehen, sondern in der eigentlichen volkswirtschaftlichen Gesamtschau, gut geht, dann geht es auch allen anderen Playern gut.
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INTERVIEW
Herbstprognose der Gesundheitsausgaben 2008–2011
Ambulante Behandlung Die teuren Spitalambulatorien boomen immer mehr.
Absolute und prozentuale Zunahme der Bruttoleistungen pro Versicherten in der Grundversicherung 2010
Das prozentual höchste Kostenwachstum pro Versicherten weist mit 14,9% der Kostenblock «Übrige» auf. Dies ist darauf zurückzuführen, dass die prozentuale Zunahme in den kleineren Kostenblöcken wie etwa Ergotherapie, MiGel und so weiter überdurchschnittlich stark ist, diese aber absolut ein relativ tiefes Kostenvolumen ausweisen. Quelle: Santésuisse-Datenpool Jahresdaten, nach Abrechnungsdatum, Mandantenkreis Santésuisse.
Prämien sind nicht gleich Kosten, wie uns das Santésuisse immer wieder einreden will!
Keine Explosion der Gesundheitskosten, aber überproportionales Wachstum der Krankenkassenprämien
Entwicklung des Durchschnitts des ärztlichen Einkommens der freien Ärzteschaft 1971–2006
ARS MEDICI: Trauen Sie der FMH zu, in Zukunft die Interessen der Grundversorger gegenüber den andern «Mitspielern», aber auch gegenüber den spezialisierten Kollegen angemessen zu vertreten? Wiedersheim: Die Ärztekammer hat am 6.12.2007 mit über 95 Prozent Ja-Stimmen dem neuen Führungsmodell der FMH zugestimmt. Bis heute ist aber das dort klar positionierte Ressort «Praktizierende Ärzte» nicht einmal ansatzweise umgesetzt, auch wenn ich dies wiederholt gefordert habe und die Ärztekammer 2011 diesem Ressort nochmals klar zugestimmt hat. Als Leiter der Arbeitsgruppe dieses Führungsmodells muss ich Ihre Frage deshalb bei der Führung der FMH bis zur ÄK vom 7. Juni 2012 mit einem Nein beantworten. Ich hoffe aber, dass der neuen Crew diese wichtige Vertretung gelingt!
ARS MEDICI: Und zum Schluss noch die Gretchenfrage: Wie würden Sie junge Kolleginnen und Kollegen motivieren, in die Hausarztpraxis einzusteigen? Wiedersheim: Denkt bitte an die künftigen Bedürfnisse der Medizin und meinen Vergleich mit dem «Basler Dybli» – nutzt eure Chancen, aber engagiert euch bitte mehr in der Standespolitik, die Zukunft gehört euch, sie sollte nicht nur von mehrheitlich über 50-Jährigen gestaltet werden – meine Türen stehen für euch weit offen!
ARS MEDICI: Herr Dr. Wiedersheim, besten Dank für das
interessante Gespräch.
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Das Interview führte Dr. med. Richard Altorfer.
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