Transkript
FORTBILDUNG
Clusterkopfschmerzen
Diagnose, Behandlung und Prävention
Trotz charakteristischer Symptome wird die Diagnose «Clusterkopfschmerz» auch heute noch häufig verpasst und erst mit erheblicher Verzögerung gestellt. Für die Akutbehandlung werden Sauerstoff und parenterale/nasale Triptane empfohlen.
BMJ
Typischerweise treten die Schmerzen, welche von den Patienten als unvorstellbar heftig («schlimmer als eine Geburt») geschildert werden, in regelmässig wiederkehrenden Attacken auf. Die Schmerzattacken beginnen und enden abrupt. Sie dauern zwischen 15 Minuten und 3 Stunden, nur sehr selten länger. In einer britischen Studie mit 230 Clusterkopfschmerzpatienten lag das Minimum bei durchschnittlich 72 Minuten und das Maximum bei 159 Minuten. Die Attacken treten bei den meisten Patienten über mehrere Wochen gehäuft auf, danach folgen völlig symptomfreie Intervalle. Etwa jeder zehnte Patient leidet unter der chronischen Form ohne symptomfreie Zeiträume. In der oben genannten Studie hatten die meisten Patienten eine Clusterkopfschmerz-periode pro Jahr mit einer durchschnittlichen Dauer von 8,6 Wochen. Es kommt aber durchaus vor, dass Patienten mehrere Perioden pro Jahr durchleiden oder dass sie mehrere Jahre völlig schmerzfrei sind, bevor es erneut zu Attacken kommt.
Merksätze
❖ Clusterkopfweh ist extrem schmerzhaft.
❖ Bei sehr schweren, regelmässig auftretenden, einseitigen Kopfschmerzen mit einer Dauer unter drei Stunden besteht Verdacht auf Clusterkopfschmerz.
❖ Im Gegensatz zur Migräne ist Agitiertheit und das Bedürfnis umherzulaufen typisch für Clusterkopfschmerz.
❖ Konventionelle Analgetika helfen nicht.
❖ Für die Akutbehandlung werden Sauerstoff und parenterale/ intranasale Triptane empfohlen.
Die Schmerzen sind einseitig und periorbital mit folgenden Begleitsymptomen auf der gleichen Seite: Tränenfluss, gerötetes Auge, verstopfte und/oder laufende Nase, herabhängendes Lid und/oder verengte Pupille sowie periorbitales Ödem (Tabelle 1).
Der Unterschied zur Migräne In der Praxis am wichtigsten ist die Unterscheidung von der Migräne. Auch hier sind die Schmerzen einseitig und heftig, aber es gibt eine Reihe typischer Merkmale, bei denen sich Clusterkopfschmerz und Migräne klar unterscheiden. Während sich Patienten mit Migräne in der Regel zurückziehen und still liegen wollen, erscheinen Patienten mit Clusterkopfschmerzen agitiert, und häufig müssen sie geradezu zwanghaft umhergehen. In Studien berichteten 70 bis 93 Prozent der Clusterkopfschmerz-Patienten von Ruhelosigkeit und Agitation. Sie gehen herum, wiegen sich vor und zurück und schlagen ihren Kopf an Boden und Wände. Migräneattacken sind in der Regel weniger schwer, und sie dauern länger. Übelkeit, Erbrechen und Lichtempfindlichkeit sind zwar typisch für die Migräne, kommen aber auch beim Clusterkopfschmerz vor: In Studien berichteten 28 bis 50 Prozent der Patienten von Übelkeit, 23 Prozent mussten erbrechen, und 54 bis 64 Prozent waren lichtempfindlich, allerdings nur auf der betroffenen Seite. Während Clusterkopfschmerzen so gut wie ausschliesslich einseitig auftreten, sind bilaterale Schmerzen bei Migräne nicht so selten, wie oft angenommen wird. Die oben genannten autonomen Begleitsymptome (Horner-Syndrom mit Tränenfluss etc.) sind bei Migräne seltener und – falls sie überhaupt auftreten – häufig bilateral.
Weitere Differenzialdiagnosen Die Schmerzen bei einer Trigeminusneuralgie sind zwar auch einseitig und heftig, aber Schmerzdauer und Schmerzcharakter sind anders: Es handelt sich um einen sehr kurzen, stichartigen, elektrisierenden Schmerz. Die oben genannten autonomen Begleitsymptome (Horner-Syndrom mit Tränenfluss etc.) kommen hier nicht vor. Darüber hinaus gibt es seltene sekundäre Ursachen für Clusterkopfschmerz, wie Hypophysentumoren, Karotisdissektion oder Nebenhöhlenerkrankungen, die mittels MRI ausgeschlossen werden können.
Risikofaktoren und Prognose Man geht davon aus, dass etwa 0,3 Prozent der Bevölkerung unter Clusterkopfschmerz leiden. Männer sind häufiger
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ARS MEDICI 13 ■ 2012
FORTBILDUNG
Tabelle 1:
Diagnostische Kriterien für Clusterkopfschmerzen
A mindestens 5 Attacken, die die Kriterien B bis D erfüllen.
B schwere oder sehr schwere unilaterale, orbitale, supraorbitale oder temporale Schmerzen, die unbehandelt 15 bis 180 Minuten andauern.
C mindestens eine der folgenden Begleiterscheinungen: Unruhe oder Agitiertheit ipsilateral: rotes Auge und/oder Tränenfluss verstopfte und/oder laufende Nase Lidödem Stirn- und Gesichtsschweiss Miosis und/oder Ptosis
D Attackenfrequenz: täglich 1 bis 8 Attacken
E keine andere Ursache für die Beschwerden vorhanden.
betroffen als Frauen. Die Beschwerden beginnen typischerweise zwischen dem 20. und 50. Lebensjahr; es sind aber auch Fälle von 4- oder 96-jährigen Clusterkopfschmerzpatienten bekannt. Es scheint eine genetische Veranlagung zu geben, da Verwandte ersten Grades ein 14- bis 48-fach erhöhtes Risiko haben, ebenfalls an Clusterkopfschmerz zu erkranken. Das Rauchen wird zwar immer wieder als Risikofaktor genannt (65% der Clusterkopschmerzpatienten sind oder waren Raucher), aber ein kausaler Zusammenhang ist unwahrscheinlich, zumal ein Rauchstopp keinen Einfluss auf den Krankheitsverlauf hat. Wie sich ein Clusterkopfschmerz im Lauf des Lebens entwickeln wird, ist nicht vorhersehbar. Tröstlich für die Patienten ist sicher die Tatsache, dass die Beschwerden für immer verschwinden können, auch wenn niemand weiss, warum das so ist (oder warum nicht).
Therapie Die üblichen Analgetika und die Opiate sind beim Clusterkopfschmerz nutzlos. Die wichtigsten Therapeutika sind Sauerstoff und/oder parenterale Triptane. Triptan-Nasalsprays sind eine Alternative, nicht aber orale Triptane. Mittels Sauerstoffinhalation (12 l/min für 15 min) wurden in einer plazebokontrollierten Studie 78 Prozent der Patienten schmerzfrei. Der Sauerstoff sollte mindestens für 15 Minuten mit einer Hochkonzentrationsmaske (Non-RebreatherMask) inhaliert werden. Subkutanes Sumatriptan (6 mg; Imigran®, SumatriptanMepha®) führte in einer plazebokontrollierten Studie nach 15 Minuten bei 74 Prozent der Attacken zur Schmerzfreiheit oder einem Rückgang auf leichte Schmerzen. Auch für Sumatriptan-Nasalspray (20 mg; Imigran®) und Zolmitriptan-Nasalspray (10 mg; Zomig® nasal) gibt es gute Studien mit Clusterkopfschmerzpatienten. Sie sprechen für eine etwa gleichwertige Wirksamkeit beider Nasalsprays: Nach 30 Minuten waren mit Sumatriptan-Nasalspray 47 Prozent der Patienten schmerzfrei (57% mit adäquater Schmerzlinderung), bei Zolmitriptan-Nasalspray waren 50 Prozent schmerzfrei (61% mit adäquater Schmerzlinderung). Die Therapieempfehlungen der Schweizer Kopfwehgesellschaft sind in Tabelle 2 zusammengefasst.
Episoden abkürzen Mit Kortikosteroiden kann man Clusterkopfschmerzepisoden abkürzen. Die Autoren des «BMJ»-Artikels empfehlen
Triggerfaktoren Mehr als die Hälfte der Patienten gibt an, dass bereits kleine Mengen an Alkohol innert Stunden Clusterkopfschmerzattacken provozieren können, insbesondere Rotwein. Allerdings trifft das nur für Clusterkopfschmerzperioden zu, nicht für die symptomfreien Monate. Auch der Geruch flüchtiger, organischer Substanzen (Parfüm, Farben) kann Attacken triggern. Des Weiteren können die Attacken mit dem nächtlichen Schlaf assoziiert sein, bei manchen Patienten aber auch mit einem kurzen Nickerchen am Tage. Sichere Trigger sind Nitrate. Nitroglycerin wurde für das experimentelle Auslösen von Clusterkopfschmerzattacken verwendet. Auch Sildenafil kann Attacken während einer Clusterkopfschmerzperiode auslösen.
FORTBILDUNG
Tabelle 2:
Therapieempfehlungen der Schweizerischen Kopfwehgesellschaft für Patienten mit Clusterkopfschmerzen
Akut
Attackenbehandlung: Dihydroergotamin-Nasalspray Sumatriptan s.c. Sumatriptan-Nasalspray Zolmitriptan-Nasalspray 100% Sauerstoff
2 mg (bis 2x pro 24 h) 6 mg 20 mg 5–10 mg Inhalation 10–12 Liter während 15 Minuten
Clusterkopfschmerzepisoden verkürzen:
Prednisonstoss p.o.
(100)/75/50/25 mg pro Tag, je 5 Tage, morgens
Infiltration des N. occipitalis major nur durch den Neurologen
Langzeitprophylaxe* Verapamil Topiramat Valproat, Lithium
240–600 mg 200 mg nur in Absprache mit dem Neurologen
*gemeinsame Betreuung des Patienten mit dem Neurologen. Quelle und weitere Informationen: www.headache.ch
Dosiserhöhung bedacht werden, wobei insbesondere auf die PQ-Dauer zu achten ist (AV-Block-Risiko unter Verapamil). Nach Empfehlung der «BMJ»-Autoren sollte man mit einer Verapamildosis von 3 ×/tgl. 80 mg beginnen (240 mg pro Tag) und die Dosis alle zwei Wochen um 80 mg/tgl. steigern. Für eine adäquate Kontrolle benötigt man in der Regel 480 mg pro Tag, manchmal sind bis zu 960 mg pro Tag nötig. Insbesondere bei höheren Verapamildosen kann es zu Nebenwirkungen wie Obstipation, Schwindel oder peripheren Ödemen kommen. Wenn angenommen werden darf, dass die jährliche Clusterkopfschmerzperiode vorüber ist (viele Patienten haben nur eine Periode pro Jahr), kann man Verapamil ausschleichen und absetzen beziehungsweise mit einer niedrigen Dosis fortführen, um «Durchbrüche» zu vermeiden. Auch Lithium kann nützlich sein, wird aber wegen seiner Nebenwirkungen eher nicht empfohlen, zumal es weniger gut wirkt als Verapamil. Des Weiteren nennen die «BMJ»Autoren die Substanzen Topiramat, Valproat und Gabapentin, die gelegentlich mit Erfolg zur Prävention von Clusterkopfschmerzen angewendet werden; Studiendaten liegen jedoch kaum vor. In der Schweiz wird neben Verapamil Topiramat empfohlen sowie, nur in Absprache mit einem Neurologen, Valproat und Lithium (Tabelle 2). Gemäss einer kleinen, doppelblinden Pilotstudie, welche bereits 1996 publiziert wurde, kann Melatonin in einer Dosierung von 9 bis 15 mg (abends) nützlich sein. Scheitern bei einem Patienten mit chronischem Clusterkopfschmerz alle medikamentösen Versuche zur Prophylaxe, bleibt als letzte Option ein neurochirurgischer Eingriff (Elektroden am N. occipitalis major oder tiefe Hirnstimulation).
Prednison 1 mg/kg Körpergewicht (max. 60 mg) für 5 Tage mit einem Ausschleichen der Medikation (alle 3 Tage je 10 mg weniger). Diese Empfehlung beruht auf Erfahrung und dem Konsens von Kopfschmerzspezialisten; es gibt dazu nur eine kleine randomisierte Studie. Eine Neurologen und Schmerzspezialisten vorbehaltene Therapie zur Verkürzung einer Clusterkopfschmerzepisode ist die Infiltration des N. occipitalis major mit einem Lokalanästhetikum-Kortison-Gemisch. Aus spezialisierten Zentren wurden auch gute Erfahrungen mit Dihydroergotamininfusionen berichtet.
Langzeitprävention Die wichtigste Substanz zur Langzeitprävention ist das Verapamil (Isoptin® und Generika). Diese Empfehlung stützt sich auf Expertenkonsens und eine kleine plazebokontrollierte Studie. Am Beginn steht ein EKG, dies sollte jeweils 10 Tage nach einer Dosisanpassung wiederholt und vor jeder
Empfehlungen für die Praxis
❖ Bei allen Patienten mit regelmässig auftretenden, schwe-
ren, einseitigen Kopfschmerzen, die weniger als drei Stun-
den anhalten, sollte man an Clusterkopfschmerz denken.
❖ Agitiertheit und Bewegungsdrang sind typisch und helfen
bei der Unterscheidung von der Migräne, welche norma-
lerweise mit dem Wunsch nach Ruhe verbunden ist.
❖ Konventionelle Analgetika nützen nichts und brauchen
erst gar nicht versucht zu werden.
❖ Alle Clusterkopfschmerzpatienten sollten Sauerstoff und
parenterale oder nasale Triptane bekommen.
❖
Renate Bonifer
Quelle: Nesbitt AD, Goadsby PJ: Cluster headache. BMJ 2012; 344:e2407 doi: 10.1136/bmj.e2407
Interessenkonflikte: A.D. Nesbitt gibt keine Interessenkonflikte an. P.J. Goadsby hat als Berater oder Referent sowie durch Forschungssponsoring Beziehungen zu praktisch allen Herstellern von Kopfschmerzmedikamenten.
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