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STUDIE REFERIERT
Kein Antidepressiva-Rückzug bei Demenz
In einer doppelblinden, randomisierten Studie war ein Ausschleichen von Antidepressiva bei Demenzkranken mit einer Verstärkung depressiver Symptome verbunden. Bei Vergleichspatienten, die ihre Behandlung fortsetzten, wurde dies nicht beobachtet.
BRITISH MEDICAL JOURNAL
In Norwegen leiden 80 Prozent der Pflegeheiminsassen an einer Demenz. Von diesen weisen 90 Prozent zusätzlich neuropsychiatrische Symptome auf, die meist zunächst mit nicht medikamentösen Massnahmen behandelt werden. Bleiben die Symptome dennoch bestehen, werden Medikamente empfohlen. Die Wirkung von Antidepressiva bei Demenzpatienten wurde in randomisierten, kontrollierten Studien unterschiedlicher Qualität sowie in einer Metaanalyse untersucht. In Einzelstudien zeigte sich der Trend einer Wirksamkeit von Antidepressiva bei depressiven Symptomen Demenzkranker. In der Metaanalyse konnte dies jedoch nicht nachgewiesen werden. In einem Cochrane-Review sowie einer neuen randomisierten Studie wurde zudem keine bessere Wirksamkeit von Sertralin (Zoloft® und Generika) und Mirta-
Merksätze
❖ Das Absetzen von Escitalopram, Citalopram, Sertralin oder Paroxetin führte bei Demenzkranken zur Verschlechterung der depressiven Symptomatik.
❖ Beim Ausschleichen von Antidepressiva bei Demenzpatienten sollte ein sorgfältiges Monitoring im Hinblick auf eine Verstärkung depressiver Symptome erfolgen.
zapin (Remeron® und Generika) im Vergleich zu Plazebo beobachtet. Etwa 40 Prozent der Pflegeheiminsassen in Norwegen erhalten Antidepressiva, davon etwa die Hälfte einen selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI). Da Antidepressiva manchmal mit unerwünschten Wirkungen verbunden sind und somit den Patienten schaden können, sollten auch die Auswirkungen einer Beendigung der Behandlung geprüft werden. Norwegische Wissenschaftler untersuchten deshalb in einer doppelblinden, randomisierten, plazebokontrollierten Studie die Auswirkungen des Absetzens verschiedener SSRI bei Demenzkranken mit neuropsychiatrischen Symptomen.
Methodik Die Autoren führten ihre Untersuchung mit 128 Demenzkranken aus 52 norwegischen Pflegeheimen durch. Die Patienten wurden im Zeitraum von August 2008 bis Juni 2010 rekrutiert. Die Teilnehmer litten an Alzheimer, vaskulärer Demenz oder einer Mischform entsprechend dem ICD-10 und zusätzlich an neuropsychiatrischen Symptomen, jedoch nicht an einer klinisch manifesten Depression. Die Patienten hatten vor Studienbeginn mindestens 3 Monate lang Escitalopram (Cipralex®), Citalopram (Seropram® und Generika), Sertralin (Zoloft® und Generika) oder Paroxetin (Deroxat® und Generika) erhalten. Die Studie wurde unabhängig von pharmazeutischen Unternehmen über einen Zeitraum von 25 Wochen durchgeführt. Innerhalb der ersten Studienwoche wurden die Antidepressiva bei 63 Patienten ausgeschlichen und durch ein Plazebo ersetzt (Abbruchgruppe). Die verbleibenden 65 Patienten erhielten eine aktive Studienmedikation mit dem gleichem Wirkstoff und in der gleichen Dosierung wie zuvor (Fortsetzungsgruppe). Die Autoren evaluierten die psychischen Symptome der Teilnehmer zu Studienbeginn sowie in den Wochen 4, 7, 13 und 25.
Als primäre Outcomes wurden die Scoredifferenzen zwischen den Gruppen nach 25 Wochen auf der CornellDepressionsskala bei Demenz sowie auf der Skala zum neuropsychiatrischen Inventar definiert. Auf der Cornell-Depressionsskala bei Demenz werden Punktewerte von 0–38 vergeben, wobei höhere Werte auf ausgeprägtere Symptome hinweisen. Ab 9 Punkten liegt hier eine manifeste Depression und ab 13 Punkten eine schwere Depression vor. Auf der Skala zum neuropsychiatrischen Inventar werden 10 charakteristische Symptome wie zum Beispiel Halluzinationen, Ängste, Depressionen, Reizbarkeit oder Euphorie erfasst. Für jedes Symptom werden Häufigkeit (0–4 Punkte) und Schwere (1–3 Punkte) beurteilt. Anschliessend werden beide Werte multipliziert. Ein Score ab 4 Punkten weist auf ein klinisch relevantes neuropsychiatrisches Symptom und ein Score ab 9 Punkten auf ein schweres Symptom hin. Zu den sekundären Outcomes gehörten Punktedifferenzen zwischen beiden Gruppen auf weiteren relevanten Skalen (Clinical-Dementia-Rating-Skala, Unified-Parkinson’s-Disease-Rating-Skala, Quality-of-Life-Alzheimer’s-DiseaseSkala, Physical-Self-Maintainance-Skala nach Lawton und Brody, Severe-Impairment-Battery-Skala).
Ergebnisse Von den 128 Patienten hatten vor Studienbeginn 72 (56%) Escitalopram, 47 (37%) Citalopram, 5 (4%) Sertralin und 4 (3%) Paroxetin erhalten, was der allgemeinen Applikationsverteilung von Antidepressiva in norwegischen Pflegeheimen entspricht. Das durchschnittliche Alter betrug in der Abbruchgruppe 85,3 Jahre und in der Fortsetzungsgruppe 86,1 Jahre. Der Frauenanteil lag in der Abbruchgruppe bei 78 Prozent und in der Fortsetzungsgruppe bei 72 Prozent. Zu Studienbeginn wiesen die Teilnehmer der Abbruchgruppe auf der Cornellskala einen Wert von 4 (InterquartilBereich 1,5–6,5) und die Patienten der Fortsetzungsgruppe einen Wert von 5 (1,5–8,5) Punkten auf. Die durchschnittlichen Ausgangswerte auf der Skala zum neuropsychiatrischen Inventar lagen in der Abbruchgruppe bei 13 (3,5–22,5) und in der Fortsetzungs-
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gruppe bei 16 (6,5–25,5) Punkten für die 10 Symptombereiche. Nach 25 Wochen wiesen die Teilnehmer der Abbruchgruppe signifikant höhere Punktewerte auf der Cornell-Skala auf als die Patienten der Fortsetzungsgruppe (Differenz: -2,89; 95%-Konfidenzintervall [KI] -4,76 bis -1,02; p = 0,003). Ein ähnliches Ergebnis wurde bezüglich des neuropsychiatrischen Inventars beobachtet, allerdings erreichten die Ergebnisse hier keine Signifikanz (-5,96; 95%-KI -12,35 bis -0,44; p = 0,068). Im Hinblick auf die sekundären Studienendpunkte wurden keine Unterschiede zwischen beiden Gruppen beobachtet. Die Ergebnisse wurden durch eine Non-Response-Analyse (> 30% Verschlechterung auf der Cornell-Skala) bestätigt. In der Abbruchgruppe verschlechterten sich die Symptome bei signifikant mehr Patienten (32 [54%]) als in der Fortsetzungsgruppe (17 [29%]; p = 0,006). Aus der Studienpopulation beendeten 47 Personen (37%) die Studie vorzeitig. Dabei handelte es sich um 28 Patienten aus der Abbruchgruppe (44%) und 19 Patienten aus der Fortsetzungsgruppe (29%). Der einzige Grund für den Studienabbruch, der sich zwischen beiden Gruppen signifikant unterschied, war eine Verstärkung der neuropsychiatrischen Symptome. Dies wurde bei 13 Patienten (21%) der Abbruchgruppe und bei 4 Personen (6%) der Fortsetzungsgruppe beobachtet.
Diskussion Aufgrund älterer Studienergebnisse waren die Autoren davon ausgegangen, dass das Ausschleichen der Antidepressiva sich nicht auf die depressive Symptomatik der Patienten auswirken würde. In ihrer eigenen Studie beobachteten sie jedoch bei den Patienten der Abbruchgruppe eine signifikante Verstärkung depressiver Symptome im Vergleich zur Fortsetzungsgruppe. Als Stärken ihrer Studie werten die Autoren das randomisierte, kontrollierte, doppelblinde Design sowie die Anwendung international anerkannter Evaluierungstools und die Studiendauer von 25 Wochen. Als Hauptlimitierung betrachten sie, dass bei der Rekrutierung nicht in allen Fällen sicher ausgeschlossen werden konnte, ob eine klinische Depression vorlag. Somit könnten manifest depressive Teilnehmer – die entsprechend dem Design nicht in die Studie eingeschlossen werden sollten – dennoch das Ergebnis verzerrt haben. Eine weitere Einschränkung stellt die hohe Abbruchrate dar, die dazu führte, dass nur 63 Prozent der Teilnehmer die Studie beendeten. Zudem erfolgte das Ausschleichen der Antidepressiva in der ersten Studienwoche relativ schnell, weshalb manche Patienten möglicherweise eher unter Abbruchsymptomen als an einer Verstärkung depressiver Symptome gelitten haben.
Fazit In dieser Studie war das Absetzen der Antidepressiva nach 25 Wochen mit einer signifikanten Verstärkung depressiver Symptome verbunden, während bei Patienten, die ihre Behandlung weitergeführt hatten, eine leichte Verbesserung dieser Symptomatik beobachtet wurde. Somit könnte die Verstärkung depressiver Symptome nach Absetzen der Antidepressiva auf eine Wirksamkeit dieser Medikamente bei Demenzkranken mit neuropsychiatrischen Symptomen hinweisen. Allerdings vertrugen 86 Prozent der Patienten aus der Abbruchgruppe das Ausschleichen der Medikamente insgesamt gesehen relativ gut, was daraus hervorgeht, dass ihre Symptome in der gleichen Sub-Score-Gruppe auf der Cornell-Skala blieben (0–13 oder ≥ 14 Punkte). Die Autoren kommen daher zum Schluss, dass Antidepressiva bei Demenzkranken zwar auch abgesetzt werden könnten, dann aber eine sorgfältige Überwachung im Hinblick auf die Verstärkung depressiver Symptome erfolgen sollte. ❖
Petra Stölting
Bergh Sverre et al.: Discontinuation of antidepressants in people with dementia and neuropsychiatric symptoms (DESEP study): double blind, randomised, parallel group, placebo controlled trial, BMJ 2012; 344:e1566
Interessenkonflikte: Einer der Autoren hat Gelder von H Lundbeck A/S erhalten, jedoch nicht im Zusammenhang mit der Studie. Im Übrigen bestehen keine finanziellen Zusammenhänge.
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