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FORTBILDUNG
Insulinpflichtiger Diabetes mellitus
Empfehlungen für Alltagssituationen
Durch intensive Schulungen ist das Wissen um die adäquate Diabetesbehandlung bei den Patienten in den letzten Jahren deutlich gestiegen. Dennoch sind es gerade wiederkehrende Alltagssituationen, die in der praktischen Behandlung des Diabetes mellitus oft Probleme aufwerfen.
MICHAEL HUMMEL
Die meisten Situationen im Alltag des Diabetikers sind durch den Patienten selbst gut beherrschbar. Allerdings setzt dies eine fundierte Schulung und eine gute Mitarbeit des Patienten voraus. Im Folgenden werden in Kürze einige konkrete Empfehlungen zum Umgang mit den Themen Reisen, Krankheit, Sport, Berufswahl und Führerschein bei Diabetes diskutiert.
Reisen Oft sind Diabetiker, die sich auf Reisen begeben, besorgt, ob sie auch in der Fremde ihren Diabetes gut handhaben können. Mit einigen guten Ratschlägen versehen, dürften beim gut geschulten Diabetiker keine grösseren Probleme auftreten. Wichtig ist zunächst die Reisevorbereitung. Gut ist es auch, wenn den Patienten eine Checkliste für die Reisevorbereitung mitgegeben wird (Tabelle 1).
Merksätze
❖ Bei (Flug-)Reisen sollte ein Glukagon-Notfallset mitgenommen werden.
❖ Insulin ist vier Wochen haltbar, wenn es nicht über 25 ºC erhitzt wird, ideal sind 2 bis 8 ºC.
❖ Bei Magen-Darm-Infektionen ist weniger Insulin nötig, es sollte aber nicht einfach weggelassen werden.
❖ Bei Fieber kann mehr Insulin nötig sein. ❖ Vor jeder Autofahrt ist der Blutzucker zu bestimmen.
Bei Flugreisen ist zuvor auf folgende Punkte zu achten: ❖ Englischsprachiges Attest ausstellen ❖ Glukagonset rezeptieren und Angehörige einweisen ❖ Kontraindikation für Flug abklären (allenfalls durch
Folgeerkrankungen bedingt) ❖ Impfstatus überprüfen, gegebenenfalls Reiseimpfungen
durchführen ❖ Alles muss ins Handgepäck, inklusive der Notfall-Brotein-
heiten (Traubenzucker). Als Grundregeln für jeden Flug gelten: ❖ Alle 2 bis 3 Stunden den Blutzucker messen ❖ Höhere Blutzuckerzielwerte anstreben, um Hypoglyk-
ämien sicher zu vermeiden; Zielwert etwa 6,7 bis 10 mmol/l (120–180 mg/dl), deswegen Mahlzeiteninsulin um 20 Prozent reduzieren ❖ Umstellen der Uhr bei Ankunft am Reiseziel ❖ Cave: Hypoglykämiegefahr in den ersten Nächten erhöht! Also Messfrequenz erhöhen, gegebenenfalls nächtliches Basalinsulin etwas reduzieren.
Vorgehen bei Zeitverschiebungen Patienten mit intensivierter Insulintherapie (ICT) sollten beim Flug Richtung Westen die übliche Basalinsulindosis spritzen und die Verlängerung des Tages mit schnell wirkendem Insulin überbrücken, zum Beispiel alle 4 Stunden Normalinsulin. Bei Flügen, die länger als 5 Stunden dauern, kann alternativ auch eine zusätzliche Basalinsulingabe erfolgen. Beispiel: ICT mit einmaliger NPH-Basalinsulingabe abends von 16 IE. Flug München–Los Angeles, das heisst plus 9 Stunden: ❖ Vortag abends: normale NPH-Basaldosis ❖ Im Flugzeug abends: Für die Verlängerung des Tages um
9 Stunden zusätzlich 9/24 × 16 = 6 IE NPH-Basalinsulin. ❖ Ankunft Los Angeles: Uhr um 9 Stunden zurückstellen ❖ Los Angeles abends: übliche Basaldosis. Bei einem Flug in Richtung Osten sollte bei einem kurzen Flug das abendliche Basalinsulin reduziert werden, zum Beispiel pro 6 Stunden Zeitverschiebung halbe BasalratenHalbtagesdosis am Abend. Bei langem Flug ist abends die übliche Basalinsulindosis zu spritzen, am nächsten Morgen das Basalinsulin zu reduzieren.
Insulin auf Reisen lagern Wird der Patient mit Insulin behandelt, gilt es, einige besondere Punkte zu beachten. Insulin muss während einer Reise kühl gelagert werden, ideal sind 2 bis 8 ºC (Insulinvorräte in die Minibar des Hotels). Insulin ist 4 Wochen haltbar, wenn
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Tabelle 1:
Reisecheckliste für den Patienten
❖ Diabetikerausweis/SOS-Kapsel ❖ Blutzuckersenkende Arzneimittel ❖ Utensilien für die Blutzuckerselbstmessung ❖ Teststreifen für Ketonkörpermessung im Urin ❖ Alkoholtupfer ❖ Traubenzucker ❖ Nahrungsmittel mit schnell verfügbaren Kohlenhydraten ❖ Glukagon-Notfallset (GlucaGen® Novo Nordisk Hypo-Kit) ❖ Vorrat an Insulin, Pens, Spritzen ❖ Ersatzbatterien für Insulinpumpe ❖ Messgerät/-streifen vor Hitze und hoher Luftfeuchtigkeit schützen,
bis 3000 m Höhe korrekte Messung möglich.
Tabelle 2:
Tipps für den sporttreibenden insulinpflichtigen Diabetiker
❖ Insulintagesdosis bei längerer sportlicher Aktivität um 30 bis 70 Prozent reduzieren.
❖ Bei körperlicher Aktivität von 20 bis 30 Minuten unter 70 Prozent Auslastung (VO2 max) ist nur eine minimale Insulinanpassung nötig.
❖ Moderate längere Belastung: 50 Prozent Reduktion der Dosis. ❖ Hohe Intensität: 70 bis 90 Prozent Reduktion. ❖ Sport am Morgen: Reduktion der morgendlichen Basalinsulindosis
um 20 bis 50 Prozent beziehungsweise der vorabendlichen Dosis. ❖ Reduktion des abendlichen Basalinsulins bei intensiver Belastung
am Tag. ❖ Cave: Sport und Alkohol am Abend: hohe Hypoglykämiegefahr! ❖ Trotz Hyperglykämie nach körperlicher Aktivität Reduktion
der Insulindosis um 25 bis 50 Prozent. ❖ Bei unerwarteter körperlicher Aktivität: 20 bis 30 g Kohlenhydrate. ❖ Keine körperliche Aktivität bei Blutzucker über 13,9 mmol/l (250
mg/dl) und positiver Azetontestung (++) oder bei Blutzucker über 16,7 mmol/l (300 mg/dl). ❖ Engmaschige Blutzuckerkontrollen.
es nicht über 25 ºC erhitzt wird; dies betrifft in der Praxis den aktuell benutzten Insulinpen. Insulin darf man höchstens einen Tag lang Aussentemperaturen bis zu 40 ºC aussetzen, es darf somit nicht im heissen Auto gelassen werden. Am Strand haben sich Thermobehälter, Kühltaschen oder ein feuchtes Tuch zur Kühlung des Insulins bewährt. Des Weiteren soll Insulin höchstens drei Tage Aussentemperaturen von 0 bis 5 ºC ausgesetzt werden, man darf es nicht gefrieren lassen. Beim Kauf von Insulin im Ausland sollte auf die Konzentration geachtet werden: Neben U100- und U40- ist zum Teil auch U80-Insulin verfügbar.
Diabetesmanagement bei Erkrankungen Krankheiten können speziell insulinspritzende Diabetiker rasch aus dem Konzept bringen. Da hier gefährliche Entgleisungen drohen, sollten Patienten bezüglich derartiger Probleme schon im Vorfeld aufgeklärt und geschult werden.
Magen-Darm-Infektionen Bei Magen-Darm-Infektion sollten Blutzuckerkontrollen häufiger als üblich durchgeführt werden, um Hypo- wie Hyperglykämien rechtzeitig zu bemerken. Viele Patienten lassen die Insulininjektionen wegfallen, da sie denken, dass bei fehlender Nahrungszufuhr kein Insulin nötig sei. Die Insulinapplikationen sollten aber weiterhin regelmässig stattfinden. Allerdings sinkt der Insulinbedarf wegen der verminderten Kohlenhydrataufnahme. Bei Mischinsulin sollte die Insulindosis reduziert werden. Bei ICT ist die Basaldosis beizubehalten, und die Bolusinsulindosen sollten um 30 bis 50 Prozent reduziert werden. Ist die orale Aufnahme von Kohlenhydraten nicht möglich, empfehlen wir gesüssten Tee (z.B. 1 Liter mit 10 Stück Würfelzucker) abwechselnd mit gesalzener Bouillon/isotonischen Getränken. Die Aufbaukost mit Kohlenhydraten kann dann aus geraspelten Äpfeln, zerdrückten Bananen, Zwieback und Haferflocken bestehen.
Fieber Bei fieberhaften Infekten unter Insulintherapie kann durch eine Ketonmessung im Urin (ab 13,9 mmol/l [250 mg/dl] nötig) ein absoluter Insulinmangel ausgeschlossen werden. Sind die Ketone negativ, werden das Basisinsulin um 10 bis 20 Prozent und die Broteinheitfaktoren um 0,5 erhöht. Die Blutzuckerkorrektur durch Insulin wird verschärft: Zum Beispiel empfiehlt man statt 50er- nun 40er-Schritte. Es sollte alle 4 Stunden der Blutzucker getestet werden. Nicht zu vergessen: Bei Besserung ist das Insulin wieder zu reduzieren!
Sport Sport ist aus gesundheitlicher Sicht für Menschen mit Diabetes zweifelsohne empfehlenswert. Die wichtigsten praktischen Empfehlungen für insulinspritzende Diabetiker sind in Tabelle 2 zusammengefasst.
Berufswahl Menschen mit Diabetes können nahezu alle Berufe ausüben. Die wichtigste Einschränkung betrifft Berufe, die durch die bestehende Hypoglykämiegefahr zu Selbst- oder Fremdgefährdung am Arbeitsplatz führen. Ungeeignete Berufe sind zum Beispiel Dachdecker, berufliche Personenbeförderung (Taxi, Bus, Flugzeug) und Tätigkeiten mit Schusswaffen (Polizist, Förster). Geeignete Berufe bieten eine geregelte Arbeitszeit sowie die Möglichkeit zu Blutzuckerkontrollen und Zwischenmahlzeiten. Probleme mit der optimalen Blutzuckereinstellung entstehen häufig bei Akkordarbeit, am Fliessband, bei Schicht- oder Nachtarbeit. Letztlich ist es nicht möglich, einen vollständigen Katalog mit klinischen Diagnosen aufzustellen, aus denen zwingend eine Nichteignung für einen bestimmten Beruf folgt. Es ist jeder Einzelfall auf Funktionsdefizite zu prüfen. Wichtige Kompensationsmechanismen sind langjährige Berufserfahrung,
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LINKTIPP
Patientenbroschüren: ❖ Diabetes & Autofahren ❖ Diabetes & Flugreisen ❖ Merkblatt «Anpassung Basalinsulin bei Flugreisen».
Zum Bestellen und zum Download erhältlich bei der Schweizerischen Diabetes-Gesellschaft:
www.diabetesgesellschaft.ch/diabetes/uebersichtbroschueren
die Persönlichkeitsstruktur, ein reflektierter Umgang mit der Erkrankung und vorausschauendes Handeln unter Einbeziehung möglicher Risiken. Eine Empfehlung für Patienten lautet, den Diabetes am Arbeitsplatz nicht zu verschweigen und Kollegen über die Erkrankung zu informieren, sodass diese bei einer Hypoglykämie adäquat helfen können.
Führerschein Diabetiker, die keine Krankheitszeichen zeigen oder erwarten lassen, sind generell zum Führen von Kraftfahrzeugen geeignet. Unzureichende Behandlung, Nebenwirkungen der Behandlung oder Komplikationen des Diabetes können die Fahrtauglichkeit aber einschränken. Die Neigung zu schweren Stoffwechselentgleisungen mit Hypo- oder Hyperglykämien steht den Anforderungen zum sicheren Führen eines Kraftfahrzeuges entgegen. Das sichere Führen eines Kraftfahrzeuges setzt also einen stabil eingestellten Diabetes voraus. Zu beachten ist, dass eine Neueinstellung eines Diabetes oder eine Umstellung einer laufenden Therapie gegen eine stabile Stoffwechsellage spricht. Diabetes ist bekanntermassen keine meldepflichtige Erkrankung. Behörden können jedoch von Diabetes erfahren, zum Beispiel über das Polizeiprotokoll nach einem Unfall. Eventuell wird dann eine ärztliche Begutachtung angeordnet.
Das Unfallrisiko von Menschen mit Diabetes, die mit Insulin
behandelt werden, liegt nicht über dem Durchschnitt der
Bevölkerung. In Deutschland schliesst die neue Fahrerlaub-
nisverordnung das Führen von Kraftfahrzeugen der Klassen
C und D nicht mehr grundsätzlich aus, und in aussergewöhn-
lichen Fällen ist eine Erteilung der Fahrerlaubnis unter Auf-
lagen möglich.
In der Schweiz dürfen bei Berufskraftfahrern (Car, LKW)
«keine erheblichen Funktionsstörungen der Stoffwechselor-
gane» vorhanden sein, und Personen mit «periodischen Be-
wusstseinstrübungen oder -verlusten» sind von allen Führer-
scheinklassen ausgeschlossen. In Absprache mit dem Schwei-
zer Bundesamt für Verkehr ist es den medizinischen
Fachgesellschaften überlassen, diese eher allgemein gehalte-
nen Regeln in fachspezifischen Richtlinien genauer zu defi-
nieren, damit neue medizinische Begebenheiten einfacher
und schneller umgesetzt werden können. Die Schweizerische
Gesellschaft für Endokrinologie und Diabetologie hat 2011
entsprechende Richtlinien für Diabetiker publiziert (www.
sgedssed.ch/dokumente/). Eine generelle ärztliche Melde-
pflicht besteht in der Schweiz nicht, hingegen ein Melderecht
bei uneinsichtigen Patienten (Art. 14 Absatz 4 SVG).
Wichtige Ratschläge für Patienten bezüglich Autofahrten
lauten: Vor jeder Fahrt den Blutzucker messen (nie mit einem
Blutzucker unter 5 mmol/l [90 mg/dl] fahren), bei langen
Autofahrten alle 2 Stunden während der Fahrt Blutzucker
messen und Notfallbroteinheiten (z.B. Süssgetränk, Saft,
Traubenzucker) jederzeit in greifbarer Nähe halten.
❖
PD Dr. med. Michael Hummel Klinikum München-Schwabing & Institut für Diabetesforschung Helmholtz Zentrum München, Kölner Platz 1, D-80804 München
Interessenkonflikte: keine
Diese Arbeit erschien zuerst in «Der Allgemeinarzt» 19/2011. Die Übernahme erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Verlag und Autor. Anpassungen an die Gegebenheiten in der Schweiz und die Umrechnung in mmol/l erfolgten durch die Redaktion von «Ars Medici».
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