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Arsenicum: Gopfridstutz Pestalozzi
Untertitel
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«Müssen wir die Möbel von Familie G. wirklich in unserem Keller lagern?», fragte meine Frau mit lieber Stimme. Eine rhetorische Frage. Wir müssen es nicht. Was meine Frau weiss. Kein Gesetz verpflichtet uns, den kosovarischen Horrorplunder der siebenköpfigen kriegstraumatisierten Albanerfamilie in unserem Vorratskeller unterzustellen.
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MEDIEN, MODEN, MEDIZIN
Gopfridstutz Pestalozzi

«Müssen wir die Möbel von Familie G. wirklich in unserem Keller lagern?», fragte meine Frau mit lieber Stimme. Eine rhetorische Frage. Wir müssen es nicht. Was meine Frau weiss. Kein Gesetz verpflichtet uns, den kosovarischen Horrorplunder der siebenköpfigen kriegstraumatisierten Albanerfamilie in unserem Vorratskeller unterzustellen. Schon wieder verlieren sie schuldlos ihre Wohnung und müssen drei Wochen interimistisch bei Freunden in deren 3-Zimmer-Wohnung unterschlüpfen – was in der kosovo-albanischen Gemeinschaft genauso möglich ist wie bei Italienern und Türken. Doch das kitschige Sofa, die beleuchtete Vitrine, das hochglänzende Sperrholz-Eheschlafzimmer und die tonnenschwere geschnitzte Kredenz, diese Zeugen von Heimat, Geschichte und einer besseren Zeit, können dort nicht auch noch verstaut werden. Die Familie hat kein Geld, um alles einzulagern. Nur arme Freunde und Bekannte mit klitzekleinen Kellerabteilen in Miethäuserns, die nicht helfen können. Drum erbarmt sich der Hausarzt. Und mutet seiner Familie schon wieder Komforteinbussen zu. Die ist es zwar gewohnt, aber reagiert zunehmend unfroh und ablehnend. Es ist halt störend, sich beim Holen von Konserven oder Mineralwasser an einem hölzernen Ungetüm vorbeiquetschen zu müssen. Auch mein Sohn ist stinksauer, als ich ihn frage, ob er für die Ks. für ein paar Tage sein Zimmer abtreten könne. Nein. Er legt sein Veto ein. Die fünfköpfige Familie mit Zwillingen, die gerade laufen können, und einem Sechsjährigen mit Epilepsie werden daher in einem Rohbau in der Nachbarschaft untergebracht. Ist es Zufall, dass abends irgendjemand den alten Rumpelstilz-Schlager «Bin i gopfridstutz e Kiosk, oder bin i öbben e Bangg, oder gsehn i uus wie ne Hotel oder wiene Kasseschrank?» abspielt? Manchmal spricht es meine Frau auch direkt aus. «Bist du jetzt wieder der Pestalozzi?», fragt sie genervt, wenn ich zu unchristlichen Zeiten noch einen Hausbesuch bei einem einsamen Oldie mache. Oder einen Patienten irgendwohin fahre. Oder jemanden

anrufe, der einer Patientin helfen könnte. Oder wenn ich einem befreundeten Juristen ein Freundschaftshonorar zahle, damit der einen Patienten rechtlich berät. Oder einem Amtsschimmel in einer Behörde die Peitsche gebe, weil er etwas schubladisiert, was für meine Patientin existenzrelevant ist. Der gute Hausarzt ist ein bisschen Sozialarbeiter, Lehrer, gute Fee und Deus ex machina. Das eigene Privatleben wird aber dadurch beeinträchtigt. Das Umfeld rebelliert. Vermutlich ging es Pestalozzi genauso. Aber er hat eine Menge erreicht. «Und heute kacken die Tauben seinem Denkmal auf Zürichs Einkaufsmeile auf den Bronzekopf!», sagt mein Sohn. Egal. Zu Lebzeiten hat er sich nicht auf die Kappe sch…ssen lassen. Und das Leben der Leute, für die er sich eingesetzt hat, hat er deutlich verbessert. Darum bleibt er mein Vorbild. Leise seufzend räumt meine Frau das Chaos auf, welches die afrikanische Selbsthilfe-Frauengruppe in unserem Wohnzimmer hinterlassen hat. Sie haben keinen Ort für ihre Sitzungen. Ich helfe ein wenig und rechtfertige mich. «Sie kämpfen gegen Frauenbeschneidung!» «Mmmm», grummelt meine Frau. «Aber muss es in unserem Wohnzimmer und mit Paprika-Chips sein? Würde es der guten Sache abträglich sein, wenn sie hinter sich aufräumten?» Natürlich hat sie recht. Und ich habe immer ein schlechtes Gewissen, wenn ich wieder den Pestalozzi gebe. «Arbeit mit nach Hause nehmen!», witzeln die Kinder, wenn wieder einmal eine geschlagene Frau in unserem Gästezimmer versteckt wird. Und sind dann doch sehr betroffen, wenn sie das blauverschwollene Gesicht sehen. Geradezu Panik bekommt meine Familie, wenn in der Schweiz Kongresse wie WONCA oder Ärzte gegen Atomkrieg abgehalten werden. Dann kommen die anderen Pestalozzis und sind bei uns zu Gast. Die alt Achtundsechziger. Die jungen Wilden. Ihre Lebensart unterscheidet sich diametral von der einer bünzligen Schweizer Mittelschichtfamilie. Selbst dem altruistischen Hausarzt stockt der Atem, wenn er bemerkt, dass jemand seine Zahnbürste benutzt hat. Das brüderliche Teilen hört hier auf – da blecke ich meine Zähne!

ARSENICUM

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ARS MEDICI 11 ■ 2012