Transkript
EDITORIAL
Beim Versuch, die Wirkung religiöser Gefühle auf die Schmerzempfindung nachzuweisen, verab-
reichten Forscher aus Oxford je einem Dutzend praktizierender Katholiken und (nach eigener Einschätzung) Atheisten Elektroschocks. Die – selbstverständlich freiwilligen – Testpersonen schauten sich dabei gleichzeitig intensiv ein Bild der Jungfrau Maria sowie ein ästhetisch gleichwertiges Gemälde von Leonardo da Vinci an. Anschliessend wurden die Teilnehmer befragt, wie stark die Schmerzen seien und welches Bild ihnen besser gefallen
Die Diskussionen in den Internetforen über die Resultate und Interpretationen dieses Experiments waren sehr unterschiedlich, mal hämisch verständnislos, mal froh um die wissenschaftliche Unterstützung für den Glauben an die Kraft des Glaubens. Eigentlich eine wichtige Frage: Leiden gläubige Menschen weniger? Stirbt es sich gläubig leichter? Und falls dem so ist (wie das Experiment suggeriert), was machen Atheisten daraus? Woran glauben eigentlich Atheisten? An nichts oder ans Nichts? Was würde ihnen helfen, Schmerzen leichter zu ertragen (ausser Schmerzmitteln)? Es wird ja wohl kaum «das Bild» gewesen sein, das leidmindernd wirkte, sondern – wenn nicht, wie auch vermutet, die blosse Konzentration auf etwas persönlich
Leiden Atheisten mehr und wenn nicht, warum?
habe. Das Ergebnis war wie vorhergesehen: Die Katholiken favorisierten das religiöse Motiv und berichteten von deutlich geringeren Schmerzen, wenn sie das Maria-Gemälde betrachteten. Der anderen Testgruppe gefiel das nicht religiöse Bild besser, aber der Schmerz war während der Betrachtung nicht geringer. Während des Versuchs wurden die Gehirne der Testpersonen einer funktionellen Kernspintomografie unterzogen. Dabei wurden bei den Katholiken starke Aktivitäten im Bereich des rechten ventrolateralen präfrontalen Kortex nachgewiesen, wenn sie die Jungfrau Maria betrachteten. Dieser Bereich des Gehirns ist unter anderem dafür zuständig, einer schlechten Erfahrung positive Bedeutung zu geben, um damit besser umgehen zu können. Bei den Nichtgläubigen tat sich in dieser Region während des Versuchs nichts.
Wichtiges – dessen Bedeutung für den Betrachter. Gibt es also Bilder, Musik, Texte – oder Menschen und Gespräche, ein Arzt, dem man vertraut? –, die bei Nichtgläubigen eine ähnliche Wirkung zeitigen wie bei Katholiken die Vorstellung der Jungfrau Maria? Leider gab es aus Oxford keine Antworten auf diese (und zahlreiche weitere) Fragen. Wir müssen sie vorderhand selber zu beantworten suchen. Für unsere Patienten und letztlich auch für uns selber. Ohne Hilfe der Wissenschaft.
Richard Altorfer
ARS MEDICI 10 ■ 2012
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