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FORTBILDUNG
Arthroseupdate
Von der «Abnützungserscheinung» zur entzündlichen Beteiligung von Knochen und Synovia
Sehr oft erfolgt die Diagnose einer Arthrose erst sehr spät im Verlauf der Erkrankung. Daran hat auch die Einführung von neuen bildgebenden Verfahren oder die Entwicklung von Markern für das Arthrosegeschehen nichts geändert. Die verschiedenen Therapieansätze folgen heute den Guidelines internationaler Organisationen, etwa der OARSI oder der EULAR, für die Zukunft hofft man jedoch auf besser auf die einzelnen Arthrosenbilder zugeschnittene Therapien.
LANCET
Angaben zur Prävalenz von Arthrosen hängen von der Art der Definition und der Lokalisation ab. Am häufigsten betroffen sind Knie, Hüfte und Hand. In der bevölkerungsbasierten Rotterdam-Studie hatten 67 Prozent der Frauen und 55 Prozent der Männer ab 55 Jahren radiologische Arthrosezeichen in den Knien. Im Allgemeinen entwickeln sich Arthrosen langsam im Verlauf von mehreren Jahren, wobei die Symptome für lange Zeiträume stabil bleiben können. Die Diagnose erfolgt klinisch und radiologisch. Wie unsicher die Korrelation zwischen Röntgenbild und Klinik jedoch ist, zeigt die immer wieder angeführte Tatsache, dass fast die Hälfte der Patienten mit Arthrosezeichen im Röntgenbild keine Symptome haben – und umgekehrt. Für die wichtigsten Arthrosen sind Risikofaktoren bekannt. Für das Auftreten der Erkrankung sind dies unter anderem
Merksätze
❖ Die subchondralen Knochenveränderungen beginnen schon ganz früh im Verlauf der Arthroseentwicklung – vielleicht führen sie sogar zur anfänglichen Knorpelschädigung.
❖ Das Nativröntgenbild ist der Goldstandard bei der Bildgebung von Gelenkarthrosen, korreliert aber oft nicht mit der Symptomatik.
❖ Nichtpharmakologische, pharmakologische und chirurgische Interventionen sollen in der Arthrosebehandlung individuell kombiniert werden.
weibliches Geschlecht, zunehmendes Alter, Body-MassIndex (Übergewicht und Adipositas), intensive sportliche Aktivitäten oder vorangegangene Traumen bei Knie- und Hüftarthrosen. Daneben spielen genetische Faktoren bei Hüftgelenkarthrose oder Achsenfehlstellungen bei Kniegelenkarthrose eine Rolle. Auch bei Handarthrosen sind für die Entwicklung Alter, physische Beanspruchung durch Arbeit oder Sport sowie erbliche Aspekte Risikofaktoren.
Pathophysiologische Vorstellungen im Wandel Traditionellerweise wurde die Arthrose in erster Linie als Versagen von Reparaturprozessen nach Knorpelschäden aufgrund von biomechanischen und biochemischen Gelenkveränderungen («Abnützung») gesehen. Knorpel ist als selbst nicht vaskularisiertes Gewebe auf die Versorgung mit Nährstoffen und Sauerstoff durch Diffusion angewiesen, und die eingelagerten Chondrozyten müssen für den Unterhalt eines grossen Volumens an extrazelluärer Matrix aufkommen. In frühen Stadien kommt es noch zu einer Clusterbildung von Chondrozyten mit Anstieg von Wachstumsfaktoren in geschädigten Knorpelbereichen, später scheitert dieser Reparaturversuch, und es kommt zu einem Ungleichgewicht, das den Knorpelabbau fördert. Jetzt sind eine gesteigerte Synthese von gewebezerstörenden Metalloproteinasen und Agrecanasen, vermehrte Apoptosen der Chondrozyten und eine inadquäte Zusammensetzung der extrazellulären Matrix zu beobachten, die damit der mechanischen Beanspruchung nicht mehr standhalten kann. Das Knorpelgewebe gerät dann in einen Circulus vitiosus, in dem der Abbau der Matrix deren Neusynthese übersteigt. Da Knorpel nicht neural versorgt ist, bleibt dieses Geschehen klinisch stumm, bis weitere, innervierte Gewebe vom Arthrosegeschehen erfasst werden. Dies ist einer der Gründe für die späte Diagnose bei Arthrosen. Diese auf den Gelenkknorpel fokussierte Betrachtungsweise ist in neuerer Zeit durch den Nachweis der zusätzlichen Rolle von Knochen und Gelenkkapsel ergänzt worden, da auch bei Arthrose eine umschriebene chronische Synovitis nachweisbar ist. Die synoviale Entzündung, die durch Knorpeldebris und katabole Mediatoren im Gelenkspalt ausgelöst wird, korreliert denn auch mit Symptomen wie Gelenkschwellung und entzündlichem Schmerz. Auch im Bereich der Gelenkkapsel kommt es zu einem Circulus vitiosus, da die von Synvia-Makrophagen produzierten katabolen und proinflammatorischen Mediatoren auch den Knorpelerhalt und -umbau negativ beeinflussen, was wiederum zur Gelenkkapselentzündung beiträgt. Diese Entzündungsvorgänge sind
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Bild: Wikipedia
Gonarthrose: medialer Knorpelaufbruch, dargestellt im MRI
jedoch kaum je so intensiv wie bei entzündlichen Arthritiden, sie tragen aber zur fortschreitenden Gelenkschädigung bei. Als Hauptcharakteristikum der Arthrose gelten die Veränderungen im subchondralen Knochen: Osteophytenbildung, Knochenumbau, subchondrale Sklerose und Knochenschwund gelten als Kennzeichen für die radiologische Diagnose. Inzwischen ist klar geworden, dass diese Knochenveränderungen nicht erst in späten Stadien, sondern schon ganz früh im Verlauf der Arthroseentwicklung beginnen – vielleicht führen sie sogar zur anfänglichen Knorpelschädigung.
Eigentlich ist die Diagnose einfach Schmerz ist das erste und herausragende Symptom, das Arthrosepatienten zum Hausarzt treibt. Der Schmerz ist intermittierend, typischerweise am schlimmsten nach Gewichtsbelastungen. Daneben können entzündliche Schübe vorkommen. Für Arthrose ebenfalls typisch ist eine Steifigkeit am Morgen, nach Perioden der Inaktivität oder auch abends. Diese Gelenksteife verschwindet in der Regel innerhalb von Minuten, im Gegensatz zur Steifigkeit bei rheumatoider Arthritis, die gewöhnlich mehr als 30 Minuten anhält. Daneben sind Beeinträchtigungen bei Alltagsaktivitäten wie Gehen, Treppensteigen oder Haushalttätigkeiten Ursachen für den Besuch bei der Hausärztin. Diese Beschwerden, zusammen mit Störungen des Schlafs oder auch depressiven Verstimmungen, beeinträchtigen die Lebensqualität. Die körperliche Untersuchung soll vor allem die vermutete Diagnose bestätigen und das Ausmass der Gelenkbeteiligung erfassen sowie andere Ursachen für den Schmerz und die Funktionseinbusse – also andere, entzündliche Gelenkaffektionen – ausschliessen. Eine Vergrösserung des Gelenks resultiert aus Gelenkerguss, Knochenschwellung oder beidem zusammen. Gelenkergüsse können nicht nur während akuter Schübe, sondern auch chronisch vorliegen. Eine Einschränkung der Beweglichkeit bei passiver Bewegung im Gelenk kann das erste und einzige fassbare Zeichen bei symptomatischer Arthrose sein. Auszuschliessen gilt es dann Bursitis,
Tendinitis, Muskelverkrampfungen oder Reaktionen auf eine Meniskusschädigung. Typisch ist bei arthrotischem Gelenk ein palpabler Krepitus. Zu Gelenkblockierungen kann es durch Knorpelabsprengungen kommen. Patienten mit Hüftarthrose berichten auch nicht selten über Schmerzen im Knie, was Verwirrung stiften kann. Eine Bildgebung ist zur Bestätigung der Diagnose selten notwendig, kann aber mithelfen, das Ausmass der Gelenkbeteiligung oder die Progression einer Arthrose besser zu erfassen. In gewissen klinischen Situationen ist eine Bildgebung (inklusive MRI oder Szintigrafie) jedoch notwendig, so beim Ausschluss von Differenzialdiagnosen wie avaskulärer Osteonekrose, M. Paget, komplexen regionalen Schmerzsyndromen, entzündlichen Arthropathien oder Stressfrakturen. Laboruntersuchungen bringen bei unkomplizierter Arthrose kaum etwas zur Bestätigung der Diagnose, BSR und C-reaktives Protein sind gewöhnlich im Normbereich. Allenfalls helfen antizyklische citrullinierte Antikörper beim Auschluss einer rheumatoiden Arthritis und eine Harnsäurebestimmung bei Unsicherheit hinsichtlich Gicht. Bei Patienten mit Arthrose ist die Gelenkflüssigkeit steril, enthält keine Kristalle und weniger als 1500 Leukozyten pro Mikroliter. Zwar sind etliche Surrogatmarker für die Abschätzung des Gewebeschadens entwickelt worden, für die individuelle Diagnose, Prognoseabschätzung und Überwachung von Arthrosen ausserhalb klinischer Studien haben sie jedoch keine Bedeutung. Das Nativröntgenbild ist der Goldstandard bei der Bildgebung von Gelenkarthrosen. Bisher nur im Rahmen von klinischen Studien zur Bewertung von krankheitsmodifizierenden Therapien hat sich die standardisierte longitudinale Messung der Gelenkspaltverschmälerung etabliert. Sonografisch lassen sich arthrotische Gelenkveränderungen, insbesondere auch die entzündlichen Komponenten, gut darstellen, der Stellenwert dieser sehr untersucherabhängigen Methode bei Arthrose ist jedoch nicht gesichert. Die Magnetresonanzbildgebung mit verschiedenen Aufnahmetechniken hat ihren Platz vorderhand nur in grossen klinischen Studien.
Therapien bei Arthrosen Behandlungsziele bei frühen Arthrosestadien sind Schmerzlinderung, Verminderung der Gelenksteifigkeit und Erhalt oder Verbesserung der funktionalen Fähigkeiten. Als Langzeitziele lassen sich zudem eine Verhütung der Progression der Gelenkzerstörung und eine Verbesserung der Lebensqualität formulieren. Grundsätzlich stehen dafür nichtpharmakologische, pharmakologische und chirurgische Interventionen zur Verfügung, die individuell kombiniert werden sollen. Die European Ligue Against Rheumatism (EULAR) und die Osteoarthritis Research Society International (OARSI) haben evidenzbasierte Richtlinien für die Therapie von Arthrosen herausgegeben, an denen sich die ärztliche Praxis heute orientiert.
Nichtpharmakologische Therapien Selbstmanagement spielt nach heutigen Erkenntnissen immer eine wichtige Rolle. Die Symptome können günstig beeinflusst werden, wenn die Patienten gute Informationen über Symptome, Behandlungsziele und Lebensstilveränderungen erhalten, auch wenn die Effektgrösse solcher Interventionen
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klein (< 0,20) ist. Positive Effekte haben sich nachweisen lassen mit Übungen, Einteilen der Aktivitäten, Gelenkschutz, Gewichtsreduktion und anderen gelenkentlastenden Massnahmen (Effektgrösse 0,20–0,50). Schuheinlagen, Laserbehandlungen, transkutane Nervenstimulation, Ultraschall- und Elektrotherapien oder Akupunktur sind häufig eingesetzte Modalitäten, die Evidenzen sind jedoch spärlich und die Effektgrössen unbekannt. Pharmakologische Therapien Paracetamol ist aufgrund von Sicherheit und Effektivität das Analgetikum der ersten Wahl, wirkt allerdings keineswegs bei allen Arthrosepatienten ausreichend. Manchmal kann eine höhere Dosierung hier weiterhelfen, aber oft ist ein nichtsteroidales Antirheumatikum (NSAR) in Kombination oder als Ersatz von Paracetamol notwendig. Der Einsatz stärkerer Analgetika wie schwacher Opioide oder von Narkotika ist nur indiziert, wenn andere Medikamente wie NSAR zuvor versagt haben oder kontraindiziert sind. NSAR sollen bei Hand-, Hüft- oder Kniegelenkarthrose vorzugsweise in der niedrigsten noch effektiven Dosis und über möglichst kurze Zeiträume eingenommen werden. Bei Patienten mit kardiovaskulären Risikofaktoren sollten sowohl nicht selektive als auch COX-2-selektive Wirkstoffe mit Vorsicht eingesetzt werden (sofern sie nicht kontraindiziert sind). Die individuellen Charakteristika gelten heute als wichtiger als die Wirkstoffklasse. Bei Patienten mit hohem gastrointestinalem Risiko kommt entweder ein COX-2-selektiver Wirkstoff oder ein nicht selektiver NSAR in Kombination mit Säurehemmung durch einen Protonenpumpenhemmer zum Magenschutz infrage. CONDOR, eine Vergleichsstudie zwischen Celecoxib und Diclofenac plus Omeprazol, hat ein mögliches weiteres Argument für COX-2-selektive Wirkstoffe geliefert. Zwar waren beide Therapien bei Patienten mit Arthrosen oder rheumatoider Arthritis hinsichtlich der Probleme im oberen Gastrointestinaltrakt gleich effektiv, aber Celecoxib schnitt bei der Reduktion aller gastrointestinalen Ereignisse (inklusive klinisch signifikanter Anämien) besser ab. Bestehen wegen gastrointestinaler oder kardiovaskulärer Risiken Bedenken, werden topische NSAR als effektive und möglicherweise sicherere Alternative oder Ergänzung empfohlen. Opioidanalgetika erfreuen sich auch in der Therapie von Arthroseschmerzen steigender Beliebtheit. Tatsächliche Verbesserungen beim Arthroseschmerz sind aber nur mit starken Opioiden wie Oxycodon, Fentanyl oder Morphin gut belegt. Diese Therapie ist jedoch bei Arthrose nur für wenige ausgewählte Situationen reserviert. Demgegenüber ist die Wirksamkeit schwächerer Opioide wie Tramadol oder Codein in Langzeitstudien nicht dokumentiert. Kombinationen von Paracetamol mit Codein, wie sie in vielen Präparaten angeboten werden, bieten gegenüber Paracetamol allein einen kleinen (5%), aber statistisch signifikanten (p < 0,05) Behandlungsvorteil, sind aber mit mehr Nebenwirkungen belastet. Patienten greifen in vielen Ländern zu Vertretern der «symptomatic slow-acting drugs for osteoarthritis» (SYSADOA), einer heterogenen Gruppe von Wirkstoffen, zu denen Glukosaminsulfat, Chondroitinsulfat, Hyaluronsäure, AvocadoSoja-Öl-Extrakt und Diacerein gehören. Die meisten Studien mit Glukosaminsulfat zeigen einen schmerzlindernden Effekt (Effektgrössen 0,30–0,87), aber keinen Effekt auf die Funktion sowie kontroverse Effekte auf die Strukturmodifikation. Es bestehen jedoch viele Bedenken hinsichtlich der Studienqualität, und die Wirkung bei Arthrosen bleibt unbestimmt. Zu Chondroitinsulfat gibt es weniger, aber ebenfalls widersprüchliche Evidenz hinsichtlich der Beeinflussung von Schmerz und Funktion. Avocado-Soja-Öl-Extrakt war vor allem bei Hüftarthrose (weniger bei Kniearthrose) schmerzlindernd und funktionsverbessernd (Effektgrössen 0,01– 0,76). Von Diacerein wird über eine langsam einsetzende, aber anhaltende symptomatische Linderung bei Arthrosen berichtet (Effektgrösse für Schmerz 0,24). Intraartikuläre Injektionen von Depot-Glukokortikoiden sind eine effektive Therapie bei entzündlichen Schüben im Rahmen einer Arthrose (Effektgrösse für Schmerzlinderung 0,58). Die Wirkung ist nach einer Woche am stärksten und nimmt danach ab. Sie kann in gewichttragenden Gelenken durch vollständige Bettruhe nach Injektion für 72 Stunden verstärkt werden. Intraartikuläre Hyaluronsäre hat bei Kniegelenkarthrose eine variable Effektivität (Effektgrössen bis 0,39). In einem Cochrane-Review zeigten chirurgische Lavage und Débridement bei Kniegelenkarthrose im Vergleich zu Plazebo weder kurz- noch langfristig einen Nutzen. Weitere chirurgische Interventionen wie Osteotomien, Arthrodesen, Gelenksdistraktion oder Gelenkersatz kommen bei ausgeprägter Arthrose individuell infrage. Der Gelenkersatz ist bei Patienten mit schweren Symptomen oder funktionellen Einschränkungen unter schlechter Lebensqualität unter konservativer Therapie eine sehr kosteneffektive Option. Neue Entwicklungen Neue pathophysiologische Entdeckungen dürften zu einer Unterteilung der Arthrosen in unterscheidbare klinische und strukturelle Phänotypen führen. Daran knüpft sich die Hoffnung, zukünftig auch spezifisch gezielte Therapien anbieten zu können, je nachdem, ob Strukturveränderungen an Knorpel, Knochen oder Synovia das krankhafte Gesche- hen dominieren. Schon jetzt sind aufgrund pathopyhsiologischer Überlegun- gen einige neue pharmakologische Therapien in Entwick- lung. Dazu gehört etwa der Einsatz von Calcitonin bei Arthrose, der in einer Langzeitstudie untersucht wird. HNO3 (Salpetersäure) ist ein bekannter kataboler Mediator in Knorpel und Synovia. Eine HNO3-Synthase wird bei Arthrose und verschiedenen Schmerzzuständen hochregu- liert. Zurzeit ist ein Synthasehemmer bei Kniearthrose in Erforschung. Negativ verliefen bisher Versuche, den bei Arthrose gesteigerten Knochenumbau mit Bisphosphonaten zu hemmen. ❖ Halid Bas Johannes WJ Biylsma et al.: Osteoarthritis: an update with relevance for clinical practice. Lancet 2011; 377: 2115–2126. Interessenlage: Die Autoren deklarieren keine Interessenkonflikte. 502 ARS MEDICI 10 ■ 2012