Transkript
MEDIEN, MODEN, MEDIZIN
Notfälle
E s ist ein Notfall!», sagte die Anruferin in einem sehr dringlichen Ton. «Ich muss unbedingt heute noch drankommen!» «Okay, kommen Sie in eineinhalb Stunden, um elf Uhr», antwortete Vreni, meine MPH. «Dann kann ich nicht. Ich habe heute Waschtag und muss dann die Maschine wechseln.» Vreni stutzte und bot an: «Gut, dann haben wir noch einen Termin heute um 14.15 Uhr.» «Nein, das schaffe ich nicht. Ich muss doch meinem Mann z’Mittag kochen und mit ihm essen. Haben Sie nichts um drei Uhr? Es ist schliesslich ein Notfall!» «Nein, aber um 15.25 Uhr könnte ich Sie einschieben.» «Nein, um 16 Uhr bin ich beim Coiffeur, das ist zu knapp.» Stille. Dann höre ich Vreni sagen: «Und wie wäre es mit 17.55 Uhr? Der Chef kann sie noch nach der Sprechstunde und vor seinen Hausbesuchen sehen.» «Unmöglich. Da habe ich einen Apéro», sagte die Patientin. «Dann müssen Sie wohl morgen kommen …», flötete Vreni zuckersüss und schrieb einen Termin am Folgetag zwischen Nail-Studio und AerobicStunde ein. Die Patientin kam zu spät, aber ihren leicht entzündeten Niednagel konnten wir behandeln. Ein echter Notfall … Davon haben wir täglich einige. Und ich bin dankbar, dass Vreni meist am Telefon ist, denn ich lasse mich oft erweichen, doch noch einen Termin einzuschieben. Und ärgere mich dann, wenn es ein Boboli ist. Wie bei der Familie G.: Keines der Mitglieder ist in zwanzig Jahren treuer Kundenbeziehung regulär gekommen. Achtzehn Menschen zweier Generationen kommen ausschliesslich notfallmässig. Egal, ob Papa G. betrunken ist oder Mama G. endlich ihr seit Jahren gelockertes Band im rechten Sprunggelenk zeigen will, ob der hypochondrische Grossvater G. um sein Leben fürchtet, weil er beim Herumtasten im Mund mit Zunge und Hand eine Struktur entdeckte und sie sofort seinem Arzt zeigen muss, oder ob Kind G. übel riechenden Durchfall hat, was nach drei Wochen allmählich stört – die G.s kommen dramatisch und notfallmässig. Sie rufen nicht an, sondern eine kleine Vorhut schaut persönlich vorbei und benimmt
sich so, dass ich sie des lieben Friedens willen einschiebe. Das Hausarztego wird nie grössenwahnsinnig, weil man uns ganz klar sagt, dass Temine beim Arzt weniger wichtig sind als 1) beim Coiffeur, 2) in der chemischen Reinigung, 3) beim Amt, 4) beim Schatz, 5) beim Chef, 6) beim Vetter aus Dingsda oder 7) bei irgendjemandem sonst. Ein Notfall wird nicht durch medizinische Charakteristika definiert, sondern durch das Empfinden der Patienten, wie eilig sie einen Arzt sehen müssen. Was diese «Notfallpatienten» nicht verstehen, ist, dass die Welt nicht stehen bleibt oder zumindest nicht um sie kreist, sondern die wirklichen Unfälle und akut aufgetretenen Infarkte, Asthmaanfälle und akuten Abdomen vorgezogen werden. Frau A. – Colon irritabile seit zwanzig Jahren – wird es mir nie verzeihen, dass ich Frau B. in die gerade eintreffende Ambulanz schob, weil sie in extremis war und ihr nur das schnelle Eingreifen ein Stenting und das Überleben erlaubten. Zwar habe ich dies Frau A. unter Wahrung der Schweigepflicht dramatisch und detailliert geschildert, aber sie war unverändert der Meinung, dass das Grummeln in ihrem Unterbauch vorher hätte betreut werden müssen. Nur eine Kategorie Patienten ist noch schlimmer als die «Notfälle»: Die, bei denen es ihrer Meinung nach nicht eilt. «Vermutlich Rheuma, so ein bisschen Ziehen in der Schulter» schilderte es die Patientin, der ST- Hebungen mich das Kardiomobil riefen liessen. «Nö, das müssen Sie sich nicht heute anschauen, es drückt nur ein bisschen beim Sitzen» bagatellisierte der junge Mann mit dem faustgrossen Analabszess. «Es ist eigentlich alles okay …», giemte die COPD-Patientin ins Telefon. «Nein, das ist ein Notfall!», brüllte Vreni in den Hörer. «Kommen Sie sofort!» Was die Patientin, zyanotisch, schliesslich auch tat. Nachdem sie noch die Waschmaschine gewechselt hatte und weil der Coiffeur sie nicht drannahm, sondern sie zu mir weiterschickte …
ARSENICUM
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ARS MEDICI 10 ■ 2012