Transkript
EDITORIAL
Seit einigen Jahren gehört es zum guten Ton, dass Referenten an Kongressen und Autoren in medizi-
nischen Zeitschriften ihre potenziellen Interessenkonflikte offenlegen. Meist geht es dabei um mannigfaltige Beziehungen zu pharmazeutischen Unternehmen, zum Beispiel in Form von Honoraren für Vorträge, Beratertätigkeiten oder Geld für Forschungsprojekte. Man mag geteilter Meinung sein, ob derartige Verflechtungen die wissenschaftliche Urteilskraft stärker zu beeinflussen vermögen als ganz persönliche Überzeugungen und Erfahrungen, die sich naturgemäss einer einfachen Offenlegung entziehen. Viele würden aber
an ihre Schätzer – mithin ein hübsches Modell für die Verhältnisse in der Medizin, wo Expertenrat bei kniffligen Entscheidungen zu Recht einen hohen Stellenwert hat. Die Belohnung der Experten lief unterschiedlich: Die einen bekamen umso mehr Geld, je besser ihre Schätzer waren. Die anderen hingegen bekamen umso mehr Geld, je höher ihre Schätzer daneben lagen, das heisst über der tatsächlichen Anzahl der Münzen. Wie zu erwarten, war der Expertentipp in dieser Gruppe immer zu hoch. Verblüffend war das Resultat, wenn die Experten ihren Interessenkonflikt deklarieren mussten: Ihre nunmehr öffentlich bekannte Befangenheit brachte sie nicht etwa dazu, etwas weniger zu übertreiben. Nein, sie nannten ihren Schätzern sogar noch höhere Zahlen. Strategische Über-
Konflikt deklariert = alles o.k.?
vermutlich der Annahme zustimmen, dass die Deklaration durch das Bewusst-Machen von Konflikten eine verzerrte Erfassung, Wahrnehmung oder Evaluation von Daten, den sogenannten Bias, vermindern könnte. Von dieser Hoffnung muss man sich wohl verabschieden. Vielmehr könnte die Deklaration den Bias gar noch steigern und von den Deklarierenden überdies als Freispruch empfunden werden, sich nun erst recht keine Gedanken mehr um die Ausgewogenheit allfälliger Statements machen zu müssen. Diesen Schluss jedenfalls legt ein Experiment nahe, über das kürzlich in der Zeitschrift JAMA berichtet wurde. Die Probanden wurden dafür in zwei Gruppen aufgeteilt: «Experten» und «Schätzer». Die Schätzer mussten die Anzahl von Münzen in einem Gefäss schätzen, durften dafür aber nur einen kurzen Blick darauf werfen. Die Experten hingegen hatten Zeit, sich die Sache genau anzuschauen und gaben anschliessend einen Tipp
treibung und moralische Lizenzierung nennen Psychologen dieses Verhalten, welches – und das muss an dieser Stelle noch einmal ausdrücklich erwähnt werden – meist unbewusst abläuft. Auf der anderen Seite brachte die Deklaration aber auch nicht den gewünschten Erfolg: Selbst im vollen Wissen um den Interessenkonflikt ihres Experten korrigierten die Schätzer dessen falschhohen Tipp nicht ausreichend nach unten. Die Deklaration von Interessenkonflikten scheint die wissenschaftliche Exaktheit im medizinischen Business demnach nicht unbedingt zu fördern. Sie ist aber trotzdem sinnvoll – nicht zuletzt zwingt sie alle Beteiligten immer wieder zum Nachdenken über den Umgang mit der Wahrheit und echten oder vermeintlichen Sachzwängen.
Renate Bonifer
Loewenstein G, Sah S, Cain DM: The Unintended Consequences of Conflict of Interest Disclosure. JAMA 2012; 307(7): 669–670.
ARS MEDICI 9 ■ 2012
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