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Arsenicum: Zweidimensionale Medizin
Untertitel
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Niemand kennt unsere kleine Stadt so gut wie wir alten Hausärzte. Das Soziogramm – wer wen kennt, mit wem verkehrt, mit wem verwandt oder verfeindet ist – liegt auch ohne Facebook wie ein offenes Buch vor uns. Die Leistungen von uns Grundversorgern und die Tatsache, dass meine MPA schwanger ist, werden im Golfclub und in der BärenBeiz diskutiert.
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MEDIEN, MODEN, MEDIZIN
Zweidimensionale Medizin

N iemand kennt unsere kleine Stadt so gut wie wir alten Hausärzte. Das Soziogramm – wer wen kennt, mit wem verkehrt, mit wem verwandt oder verfeindet ist – liegt auch ohne Facebook wie ein offenes Buch vor uns. Die Leistungen von uns Grundversorgern und die Tatsache, dass meine MPA schwanger ist, werden im Golfclub und in der BärenBeiz diskutiert. Nachdem ich das Akustikusneurinom der Gattin des Rotary-Präsidenten nicht sofort erkannt hatte und der Bildgebungsspezialist in der Universitätsklinik kommentiert hatte: «Na, das hätte Ihr Hausarzt aber früher merken müssen!», blieben alle Patienten aus unserer lokalen Goldküste der Praxis fern. Erst nachdem ich höchstpersönlich den Vizepräsidenten unserer Grossbankfiliale in die Herzstation gefahren hatte, weil ich den Schmerz, mit dem er um 12.01 Uhr kam, für kardial hielt, wurde ich rehabilitiert. Der Kardiologe hatte dramatisch gesagt: «Zehn Minuten später und Sie hätten einen riesigen Infarkt gehabt. Nur dank Ihres Hausarztes konnten wir rechtzeitig dilatieren und Ihr Myokard vor dem Zelltod retten!» Jetzt war ich der Lebensretter in diesen Kreisen, und die oberen Zweitausend vertrauten sich mir wieder an. Mit allem. Vor der Massenentlassung in unserer Fabrik wusste ich schon, dass sie drohte, denn der Personalchef beichtete mir den Geschäftsleitungsbeschluss, auf den er mit Schlaflosigkeit und Reflux reagierte. Seelisch konnte ich mich auf den Ansturm der Joblosen vorbereiten, deren Verzweiflung und Alkoholintoxikationen ich dann als «Anpassungsstörung» kodieren musste. «Wir alle nicht mehr kommen, wenn du nicht weiter krank schreibst!», drohte mir Herr G. Das bedeutete die gesamte Grossfamilie G., die mit ihnen verwandten H. und I. sowie unsere lokale No-go-Area – zirka zweihundert Patienten. In Zeiten des Hausarztmangels lässt einen so ein Erpressungsversuch kalt, daher zuckte ich nur gelassen mit den Schultern. Natürlich kamen sie alle wieder, denn Konkurrent und Kollege Dr. S. behandelt seine Patienten derartig barsch, dass ich das kleinere Übel bin. Immerhin kennen mich die G. seit drei Generationen: Hausärztlich begleitet habe ich die Arthrose

und die Arbeitsunfälle des Grossvaters, der vor Jahrzehnten arbeitsuchend in die Schweiz kam, die Schwangerschaften und depressiven Episoden seiner Frau, die Integrationsnöte seiner Secondo-Kinder und die Kinderkrankheiten aller Enkel. Zwar baute sich zwischen dieser Migrantensippe und mir nie eine wirklich vertrauensvolle Beziehung auf, aber zumindest eine Art Dauerwerkvertrag für gesundheitliche Reparaturen. Mit der Familie A. hingegen gibt es fast so etwas wie eine Freundschaft. Die Grossmutter war meine erste Patientin nach meiner Praxiseröffnung – und meine erste Akromegalie-Blickdiagnose. Ihr Lob meines klinischen Blicks im Frauenverein und beim Coiffeur bescherte mir meine ersten zwei Dutzend Patientinnen. Ich kenne die Leiden ihrer Freundinnen, ihre Arbeitskolleginnen und bin die Ansprechperson für Nierensteine des Sohnes, Gallensteine der Schwiegertochter, Speichelsteine der Tochter und Liebeskummer der Enkelinnen und Enkel. «Wenn wir Sie nicht hätten!», sagt Frau A. immer dankbar. Gleichfalls, möchte ich zu dieser treuen Patientin sagen. Das Wissen um die vertikalen und horizontalen Verknüpfungen unserer Stadt hilft bei der Arbeit. Eine kleine GonorrhöEpidemie konnte schnell eingedämmt werden, weil Herr C. wusste, dass ich wusste, mit wem er alles schläft und daher freiwillig alle zu mir schickte. Die atypische Psoriasis der kleinen L. diagnostizierte ich weit vor dem Universitätsdermatologen, weil ich das Integument der ganzen Sippe kenne. Genetik und Epidemiologie präsentieren sich dem Hausarzt auf sehr pragmatische, anschauliche Art. Und die Trends in den Stadtvierteln. Dieses Jahr lässt die Goldküste ihrem Doktor asymmetrisch gestaltete Blumengestecke zusenden, und die No-go-Area bringt eine Flasche Bier statt Fuselschnaps. Vermutlich wegen der erhöhten Arbeitslosigkeit nach der Fabrikschliessung, worauf die im Lättenquartier neu ihr eigenes Bier brauen und schwarz verkaufen, was zu vermehrten Räuschen und Töffunfällen der dortigen Teenager führt und ihre Erziehungsberechtigten mit psychogener Insomnie zu mir führt.

ARSENICUM

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ARS MEDICI 9 ■ 2012