Transkript
MEDIEN, MODEN, MEDIZIN
Rosenbergstrasse 115
Es ist nicht zu übersehen: Die Schweiz hat in den vergangenen Jahren ihren Eigensinn verloren, traut sich nicht mehr, bockbeinig zu sein, wenn von aussen Druck aufgesetzt wird. Früher waren wir politisch dickköpfig, dickschädelig, starrköpfig, stur, störrisch, widerspenstig, aufmüpfig, halsstarrig, trotzig, eigenbrötlerisch, widersetzlich, widerborstig, unfolgsam, aber auch standhaft und unnachgiebig. Querulanten, die vieles anders machten als die andern und meist besser. Und so ging es uns denn auch. Heute? Tempi passati. Wenn Deutschland, die EU oder die USA grummeln und knurren, kuschen, so scheint es jedenfalls, unsere Unterhändler. Wie anders ist zu erklären, dass Vereinbarungen getroffen werden mit diesen «Partnern», die vor allem eine Wirkung haben: Die Schweiz (genauer: die Schweizer Banken) organisiert, treibt ein und bezahlt, fast ohne Gegenleistung.
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In Sachen Steuerstreit mit Deutschland kann man hierzulande nur noch auf die deutschen Sozialdemokraten hoffen. Sie sind die einzigen, die den einseitigen Deal, der Deutschland nützt und der Schweiz nur schadet, noch kippen könnten. Gott sei Dank ist bald Wahlkampf in Deutschland.
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Immerhin haben wir mit der neuen Weissgeld-Strategie (so man daran glaubt) die Moral auf unserer Seite. Die allerdings – ziemlich frustrierend – ausser uns kein Schwein interessiert. Sicher nicht die Finanzhandelsplätze London, Frankfurt und New York. Ob die Schweiz ohne Grossbanken (und ohne Pharmaindustrie, die man national zu disziplinieren versucht) DAS europäische Erfolgsmodell bleiben wird, ist mehr als fraglich. Sicher ist: Spitzenplätze in Sachen Solarenergie und Sozialhilfe kompensieren den wirtschaftlichen Schaden nicht.
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Apropos Moral: Besuch aus Italien, dem Land, in dem die Politiker am meisten verdienen. Offiziell wenigstens. Inoffiziell verdienen sie noch weit mehr. An allerlei Vergünstigungen beim Essen, Autofahren und Wohnen beispielsweise und beim Privileg, Nichten, Neffen und anderen Verwandten zu ordentlich bis gut bezahlten Stellen verhelfen zu können. Stellen, an denen die dankbaren Familienmitglieder und Freunde zwar nichts zu tun haben (und deshalb vernünftigerweise oft auch gar nicht erscheinen, da es andernorts mehr zu tun gibt), die ihnen aber wenigstens die schwierigen Zeiten überstehen helfen. Italien war der übrigen Welt schon oft voraus. Das erwerbs(oder hier: arbeits-)unabhängige Einkommen ist bei uns erst ein politisches Projekt.
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Am 31. Januar 2008 erstarrten im New Yorker Hauptbahnhof etwa 200 Menschen gleichzeitig für genau fünf Minuten. Am 4. April 2009 um 16 Uhr trafen sich mehrere tausend Jugendliche zu einer Kissenschlacht vor dem Kölner Dom. Und am Freitag, 23. März, strömten auf der Zürcher Pestalozziwiese wie auf Befehl etwa 200 Leute zusammen und begannen einen Line Dance nach der Melodie von «Like a star» (Ein Stern, der deinen Namen trägt, von DJ Ötzi). Flashmob nennt sich das Phänomen, bei dem es auf öffentlichen Plätzen zu kurzen, scheinbar spontanen Menschenaufläufen kommt, bei denen sich die Teilnehmer persönlich nicht kennen und ungewöhnliche Dinge tun. (Video auf www.youtube. com/watch?v=2DRClglqmmU&featu re=email).
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Humor bis zuletzt beweist die Grabsteininschrift: «Guck nicht so, ich läge jetzt auch lieber am Strand.»
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Auf diversen TV-Kanälen und in verschiedenen Zeitschriften gleich mehrere üble Geschichten über Haltung und Produktion von Tieren und tierischen Lebensmitteln. Folge: Das eine oder andere Steak will nicht mehr recht schmecken. Täglich Fleisch? Muss ja nicht sein. Allerdings: Statt eines Wiener Schnitzels eines aus Tofu und statt einer Olma-Bratwurst eine halbe Aubergine auf den Grill? Auch nicht grad eine glücklich machende Vorstellung. Rüebli statt Salami? Fällt ziemlich schwer. Dann wenigstens Salami von glücklichen Schweinen? Falls es das gibt, wär’s eine Alternative. Andererseits: Glückliche Schweinchen umbringen, um Wurst aus ihnen zu machen – auch nicht logisch. Einfach nicht darüber nachdenken und auf «Dr. House» umschalten? Feige, aber ein gangbarer Ausweg.
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Werbung für Tabakwaren und Alkoholika verbieten? Die Frage kommt bei jeder Gesundheitsgesetzrevision aufs Tapet. Nicht selten mit dem «Argument», die Gegner von Verboten sollen gefälligst nachweisen, dass Verbote nichts nützen. Ein wenig irritierend ist solches Argumentieren schon. Unaufgeregt zu Ende gedacht bedeutet es: Grundsätzlich darf (oder soll?) man alles verbieten, bis nachgewiesen ist, dass ein Verbot nichts nützt. Dabei dachte unsereiner, in einer toleranten, freiheitlichen Gesellschaft gelte genau das Umgekehrte: Ge- und Verbote sollen dann ausgesprochen werden, wenn nachgewiesen ist, dass sie etwas nützen. Aber zugegeben: dann liesse sich die Hälfte aller Ge- und Verbote ohne negative Folgen streichen. Und wer will das schon?
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Und das meint Walti: Die einen kennen mich – die andern können mich.
Richard Altorfer
ARS MEDICI 8 ■ 2012
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