Transkript
FORUM
Ameisen
Eine helvetisch-ständische Fabel
JEAN-PIERRE POCHON
… und sie beschlossen, eine Vereinigung zu gründen, um ihre Interessen im Wald und in den Gärten besser vertreten zu können. Denn hier wie dort lauerten viele Gefahren. Nicht einfach war es, einen Namen zu finden, der die wichtigsten Vertreter der Ameisenfamilien einschloss und gleichzeitig auch das Land, in dem sie wohnten. Die rote Waldameise (Formica rufa) wollte ihre Familie im Namen unbedingt vertreten haben, umso mehr als sie bis zu neun Millimetern gross werden konnte. Aber die kleinere rote Gartenameise (Myrmica rubra), die überall anzutreffen ist, wollte unbedingt auch erwähnt sein. So einigte man sich nach einer langen Sitzung und einigen Flaschen besten Honigtaus auf den Namen «Formicatio Myrmicalis Helvetica», kurz FMH. Die sieben Gründerameisen verteilten die verschiedenen Ämter in der neu gegründeten FMH unter sich, und die Völker der Ameisen vermehrten sich und gediehen. Der Ameisenbau wurde stattlicher und nach und nach zogen neben den Waldameisen und den Gartenameisen auch Stämme der roten (als aggressiv und schnell stechend verrufenen) Knotenameise, die Diebesameise (Diplorhoptrum fugax), die ihre Nester in fremden Nestern baut, die Sklavenameise und die blutrote Raubameise, die den Sklavenameisen Puppen raubt, um sie für ihre Zwecke zu missbrauchen, ja eigentlich alle Ameisen mehr oder weniger friedlich zusammen. Hauptaufgabe aller Ameisen war die Pflege der Blattläuse, die sie durch melken zur Abgabe des Honigtaus brachten, von welchem sich die Ameisen ernährten. Im Gegenzug beschützten sie die Blattläuse vor deren Feinden, vor allem vor «Krankheiten». Es war eine eigentliche Symbiose.
1 Formicatio = (med.) Ameisenlaufen, rein zufällige Übereinstimmung
So wuchs Generation um Generation heran. Bis sich herausstellte, dass sich nicht alle jungen Ameisen, gleich welchen Stammes, mit der Blattlauspflege beschäftigen konnten. Die Jungen suchten Nischen und fanden sie in Redaktionen der Ameisenzeitung, wurden Manager oder Berater für andere Ameisen, studierten Ameisenökonomie. Und es kam, dass die Rosenbüsche am Waldrand, die jungen Wildkirschen, der Beinwell, die Sonnenblumen im Schrebergarten bald übernutzt waren und die Blattläuse kaum mehr Honigtau herstellen konnten. Schlaue Ameisen suchten sich ihre Lieblingspflanzen deshalb andernorts und behaupteten keck, diese Pflanzen mit ihren Blattläusen gehörten ihnen ganz privat. Sie hielten sich Privatblattläuse, die sie nach Herzenslust melken konnten. Zu den privilegierten, privatmelkenden Ameisenstämmen mit Privatblattläusen gehörten jene, die von räuberischen Florfliegenlarven verletzte Blattläuse operierten, aber auch jene, die ins Innere der Blattläuse schauen konnten, ohne sie aufzuschneiden. Ein gewisser Unmut kam auf, weil sich die operierenden und auf allerlei andere Weise mit Armen und Beinen tätigen Ameisen von den am Grund versorgenden Ameisen, von welchen es viel mehr gab, unverstanden und innerhalb der Formicatio Myrmicalis Helvetica schlecht vertreten fühlten. Auch über die sogenannten Politameisen gab
es Anlass zu Diskussionen, nicht nur wegen der paar wenigen National- und Ständeameisen, sondern wegen ihres ameisenpolitisch tätigen Präsidenten. Und als ob der Probleme nicht genug gewesen wären, schufen sie sich Neue. Die roten Waldameisen etwa bauten ihre Gänge so gross, dass die kleine Gartenameise problemlos in ihr Reich eindringen konnte, nicht aber umgekehrt. Man beschloss deshalb eine Normierung der Ameisengänge, wofür eine Arbeitsgruppe gebildet werden musste: die AGNAG (Arbeitsgruppe Normierung Ameisen Gänge). Sie kam jedoch bald in Schwierigkeiten, weil die auf der linken Seite des Ameisenhaufens wohnenden Ameisen nichts mit denen auf der rechten Seite zu tun haben wollten. So musste eine Vereinigung zur Koordination (VZK) der Interessengruppe Ameisengang (IGAG) geschaffen werden: die KOKIGAG (Koordinations Kommission Interessengruppe Ameisen Gang). Dem nicht genug. Die Politameisen klagten, dass zu viel gemolken werde. Dabei war doch klar: Je mehr Ameisen es gab, desto mehr musste gemolken werden. Zum Glück wurden wegen der guten Pflege die Blattläuse immer älter und gaben mehr Honigtau ab. Andererseits wurden sie aber auch von immer mehr Florfliegenlarven, Marienkäferlarven und durch Gifte angegriffen. So sehr, dass der Schrei nach Qualität laut wurde. Selbsternannte Ökonomameisen veranstalteten Kongresse, um die
364
ARS MEDICI 8 ■ 2012
FORUM
Wirtschaftlichkeit, die Zweckmässigkeit und die Wirksamkeit nachzuweisen und um vor allem die Qualität zu sichern. Die Ameisen machten das alles brav mit, bildeten Melk-Qualitäts-Zirkel (MQZ), opferten sich auf für eine akribisch kontrollierte und dokumentierte Melkarbeit und wurden doch kaum honoriert, trotz der neuen Terminalen Ameisen-Ruinierenden Melk-Doktrin (TARMED), auf die sie doch so viel Hoffnung gesetzt hatten. Am Ende stellte man fest, dass die Arbeit der KOKIGAG für die AGNAG nichts Substanzielles brachte, sodass der Koordinationsausschuss für die Qualitätssicherung für das Blattlausmelken (KAQSBM) nun auch mit der Betreuung der KOKIGAG betraut wurde. Die DV der Ameisen kämpfte vergebens an einer Versammlung dagegen. Die Übersicht über die Kommissionen der FMH wurde immer schwieriger, und manch eine Ameise fragte sich, ob die FMH überhaupt noch den Überblick behielt. In der Tat schienen alle diese Kommissionen ein unkontrolliertes Eigenleben zu führen. Die oberste Melkmengenaufsicht (MMA) zweifelte die Jahresmelkmengenstatistik (JMMS) an, obwohl die Vereinigung für die Melkmengenstatistik (VMMS) durch eine Qualitätskontrollkommission (QUAKK) streng überwacht wurde. Der Qualitätspräsidialausschuss (QUAPA), der über die Koordinationsstelle für die Koordination von Koordinationsgruppen verantwortlich war (KOKOKOGR) und eigentlich hätte vernetzt sein sollen, musste zugeben, dass er den Jahresbericht für Ameisengänge 2011 (JaBAG11) nicht von der KOKIGAG erhalten hatte, weswegen
der Kommissionspräsident (KP) der KOKOKOGR unter Beizug der Demissions-Stelle für Koordinationsgruppenpräsidenten (DESKOGP) demissionierte. Um der allgemeinen Verwirrung Einhalt zu gebieten und die Kommunikation zu verbessern, wurden schliesslich Managementameisen engagiert; sie sollten endlich Klarheit schaffen. Und tatsächlich: In der FMH-Zeitung war zur Begriffsklärung zu lesen: «… Implementierung der übergeordneten Standards und Realisierung von konzeptbasierten Massnahmen». Die Ameisen bewunderten solche Sätze sehr, auch wenn sie sie nicht immer verstanden. Und ob all diesen Vorgängen vergassen die Ameisen ihre Hauptaufgabe: Das Pflegen der Blattläuse. Die physisch tätigen Ameisen spalteten sich von den andern Ameisen ab, die Ameisenstämme misstrauten einander ob der Melkmenge. Neid machte der friedlichen Koexistenz Platz – und keine der Kommissionen, der Institute, der Verbände, der Koordinationsgruppen, der Fachgesellschaften, der Vereinigungen, der Zirkel und Arbeitsgruppen vermochte das Befinden der Blattläuse zu verbessern. Einige frustrierte Ameisen stürzten sich freiwillig in die Sandtrichter der Ameisenlöwen (Myrmeleon formicarius, Larve der Ameisenjungfer). Das Ende kam plötzlich. Schwere Erschütterungen liessen die Gänge der Ameisennester zusammenstürzen. Hunderte von Ameisen flüchteten aus den Nestern. Fühlerbetäubender Lärm erfüllte die Luft. Eine riesige Baggerschaufel hob den Ameisenbau hoch in die Luft, um ihn in das nahe Tobel und in den Fluss zu kippen. Immerhin:
einige mutige Ameisen liessen sich aus
der Baggerschaufel fallen, standen be-
troffen am Wegrand und sahen dem
wegfahrenden Bagger nach. Sie liefen
auf dem Waldweg zum Waldrand auf
der anderen Seite. Zum Glück fanden
sie einen über und über mit Blattläusen
besetzten Stängel. Daran erlabten sie
sich und berieten über ihre Zukunft.
«Wisst Ihr was», rief eine rote Wald-
ameise und erhob sich auf die beiden
hinteren Beine, «wir müssen in dieser
schwierigen Zeit zusammenhalten».
Und sie beschlossen …
❖
Jean-Pierre Pochon, ehemaliger, erfolgloser Student der Biologie, Arzt und Tierhomöopath, Fällanden Kontakt: pochon@ambikid.ch
Interessenlage: Es bestehen keine wirtschaftlichen Beziehungen zu Schutzorganisationen für Ameisen und Herstellern von Ameisenvertilgungsmitteln.
Alle Bilder © http://de.wikipedia.org/wiki/Ameise
ARS MEDICI 8 ■ 2012
365