Transkript
MEDIEN, MODEN, MEDIZIN
Rosenbergstrasse 115
Manche Sätze lohnt es sich ein zweites Mal zu lesen. Zum Beispiel das Beobachter-Interview mit dem Gesundheitsökonomen Heinz Locher, Präsident des Vorstands der Allianz Schweizer Krankenversicherer. Die ersten beiden Fragen reichen aus, um die gewünschte Information zu transportieren. (Beobachter Nr. 7/12, 2012: «Es herrscht überhaupt kein Unrechtsbewusstsein», Text: Otto Hostettler).
http://www.beobachter.ch/leben-gesundheit/medizinkrankheit/artikel/19446/
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Erste Frage: «Ist das Gesundheitssystem korrupt?»
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Will der Journalist das wirklich wissen oder will er dem Leser etwas sagen? Es ist eine rhetorische Frage. Eigentlich stellt er eine Behauptung auf. Das Fragezeichen dient deren Verstärkung und fordert den Interviewten auf, die Behauptung zu bestätigen. Der Interviewer erwartet grundsätzlich ein JA (wäre die Antwort NEIN, wäre das Interview zu Ende).
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Locher windet sich heraus: «So würde ich das nicht sagen.»
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Eine gute Antwort: Ein JA, aber ohne es auszusprechen. Mögliche Nachfrage: Wie dann? Oder: Ihre Antwort ist ein JA mit einem Aber? Was für ein Aber? Ein taktisches? Ein sachliches? Doch der Journalist verzichtet aufs Nachfragen.
korruptionsgefährdet als andere Bereich der Politik und der Wirtschaft.»
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Korruption ist ja eigentlich definiert. Juristisch als Missbrauch einer Vertrauensstellung in Verwaltung, Justiz, Wirtschaft, Politik um eines materiellen Vorteils willen. Als aktive oder passive Bestechung, Vorteilsnahme beziehungsweise -gewährung. Als Verletzung eines allgemeinen Interesses zu Gunsten eines speziellen Vorteils. Landläufig meint man mit Korruption schlicht «moralische Verdorbenheit». Das «Ausnutzen von Intransparenz» jedenfalls ist keine Definition, sondern allenfalls eine Strategie, die Korruption ermöglicht. Aber Locher bezeichnet ja noch niemanden der Korruption. Lediglich «das Gesundheitssystem» ist korruptionsgefährdet. Das heisst – gar nichts, tönt aber schon mal bedenklich. Ausserdem ist es ja das Gesundheits-«System», das gefährdet ist. Und zwar stärker als andere Bereiche. Das ist spannend, und es würde einen Wunder nehmen: stärker gefährdet als welche anderen Bereiche? Vor allem aber: Warum ist das so? Was an unserem – nur an unserem oder generell an jedem – Gesundheitssystem macht es anfälliger für Korruption? Die Wirkung der schwammigen Antwort ist offensichtlich eine andere. Sie suggeriert, die im Gesundheitssystem tätigen Leute – nicht das System, sofern es ein System geben sollte ohne Leute – seien gefährdet. Beim lockeren Darüber-Hinweglesen bleibt die unausgesprochene Kernaussage hängen: Im Gesundheitswesen gibt es mehr Korrupte als anderswo.
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«Bin ich als Patient naiv, wenn ich glaube, mein Arzt verschreibe mir ein Medikament und denke dabei nur an das Wohl des Patienten?»
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Schon wieder eine rhetorische Frage. Eine Frage, die nicht dem Informationsgewinn dient, sondern als Mittel der Beeinflussung genutzt wird. Semantisch sind rhetorische Fragen Behauptungen.
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Locher lässt sich beeinflussen und spinnt den Faden in der bereits gewohnt indirekten Art weiter: «Wenn die Ärzte mit der Abgabe von Medikamenten einen erheblichen Teil ihres Einkommens erzielen, wie das bei der Selbstdispensation der Fall ist, löst das ein schlechtes Gefühl aus.»
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Eine perfekt getarnte Behauptung, die Ärzte seien moralisch verdorben, denn erstens ist das «Wenn» nicht konditional gemeint, sondern kausal: «Weil …» und zweitens sind wir Schweizer derartige Formulierungen gewohnt. So wie «nicht ganz arm» bei uns «reich» bedeutet, deutet das «schlechte Gefühl» hier höchste moralische Empörung (und Anklage) an. Und so sind wir bereits nach Abschluss der zweiten Frage dieses Interviews dort angelangt, wo der Journalist hin will: Bei der Feststellung: Selbstdispensierende Ärzte sind korrupt.
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Locher weiter: «Definiert man Korruption als Ausnutzung von Intransparenz, muss man sagen: Ja, das Gesundheitssystem ist in höherem Masse
Der Journalist ahnt sehr wohl, was hängen bleibt. Er nimmt den im Kopf des Lesers gesponnenen Faden auf und macht mit der nächsten Frage klar, wer mit den Korrupten im Gesundheitswesen gemeint ist.
Man kann vom Beobachter lernen. Richard Altorfer
ARS MEDICI 7 ■ 2012
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