Transkript
STUDIE REFERIERT
Qualitätsunterschiede bei Richtlinien zur oralen Therapie des Diabetes Typ 2
Wie weit werden systematische Reviews berücksichtigt?
Nicht alle einschlägigen Richtlinien zur oralen Behandlung von Diabetes Typ 2 aus den USA, aus Kanada und Grossbritannien beinhalten die aktuellsten evidenzbasierten Empfehlungen.
ANNALS OF INTERNAL MEDICINE
In Reviews zu Richtlinien wird immer wieder über Qualitätsmängel berichtet. Dies betrifft vor allem die Beschreibung der Methoden zur Identifizierung der Evidenz, die Abstufung der Gewichtung der Empfehlungen sowie die Offenlegung von Interessenkonflikten der Richtlinienautoren mit der Industrie. Zudem werden in Richtlinien auch widersprüchliche Empfehlungen gegeben. Systematische Reviews beinhalten die aktuellste und umfassendste Evidenz zu einem Untersuchungsgegenstand und sollten daher die Grundlage für die Empfehlungen von Praxisrichtlinien sein. Im Jahr 2007 führten Wendy Bennett und ihr Team einen systematischen Review mit Peer-Review zur vergleichbaren Wirksamkeit oraler Antidiabetika durch. Nach Fertigstellung des Reviews überprüften die Wissenschaftler
Merksätze
❖ Systematische Reviews beinhalten die aktuellste und umfassendste Evidenz zu einem Untersuchungsgegenstand.
❖ Bezüglich der methodischen Qualität der Leitlinienentwicklung bestehen erhebliche Qualitätsunterschiede.
❖ Bei einigen Richtlinienautoren liegen Interessenskonflikte vor.
systematisch aktuelle klinische Richtlinien zur oralen Medikation bei Diabetes Typ 2. Dabei untersuchten sie zunächst, inwieweit die Empfehlungen der jeweiligen Richtlinie mit den Ergebnissen des 2007 publizierten Reviews übereinstimmten. Ausserdem evaluierten sie die Qualität der Leitlinienentwicklung und die Verbindung zwischen der ermittelten Qualität und dem Grad der Übereinstimmung mit den evidenzbasierten Ergebnissen des Reviews. Die Beurteilung der Leitlinienqualität wurde mit dem AGREE-Instrument (Appraisal of Guidelines Research and Evaluation) anhand von definierten Beurteilungsbereichen (mit jeweils einem Punktescore) zur Methodik der Leitlinienentwicklung vorgenommen. Das Risiko für Ergebnisverzerrungen untersuchten die Autoren anhand von zwei weiteren Kriterien des AGREE-Instruments zur redaktionellen Unabhängigkeit der Richtlinienautoren von der finanzierenden Organisation und zur Offenlegung von Interessenkonflikten mit der pharmazeutischen Industrie.
Ergebnisse 11 Richtlinien entsprachen den Einschlusskriterien. Davon stammten 6 aus den USA. Die American Diabetes Association (ADA) und die European Association for the Study of Diabetes (EASD) verfassten eine gemeinsame Richtlinie, ebenso wie die ADA und das Egyptian Diabetes Center (EDC). Die International Diabetes Federation (IDF), die Canadian Diabetes Association (CDA) und das britische National Institute for Health and Clinical Excellence (NICE) verfassten jeweils eine Richtlinie. 3 Richtlinien wurden von medizinischen Zentren oder Gesundheitsorganisationen verfasst. In 8 Richtlinien werden allgemeine Empfehlungen für die medikamentöse
Behandlung des Diabetes gegeben. Die Richtlinie der IDF beschränkt sich dagegen ausschliesslich auf das Management der postprandialen Glukosewerte. Die Richtlinie des Joslin Clinic Oversight Committee ist vorwiegend auf die Behandlung älterer Diabetiker ausgerichtet, und die gemeinsame Richtlinie der ADA und des EDC konzentriert sich auf das Management des Diabetes während des Ramadan. Nur 3 der 11 Richtlinien wurden von externen Experten überprüft. Bei den meisten Richtlinien basierten die Empfehlungen auf einer Kombination aus Expertenmeinung und Literaturauswertung. Dazu zählen auch systematische Reviews.
Übereinstimmung mit systematischem Review unterschiedlich Die Autoren untersuchten zunächst, inwieweit die Richtlinien mit den 7 evidenzbasierten Schlussfolgerungen aus dem systematischen Review von 2007 zur vergleichenden Wirksamkeit oraler Antidiabetika für Erwachsene übereinstimmten (Tabelle). Die Richtlinie der IDF gibt Empfehlungen zur Anwendung oraler Medikamente, ist jedoch die Einzige, die keines der 7 Ergebnisse des Reviews berücksichtigt. Bei 5 Richtlinien wurden dagegen alle 7 Schlussfolgerungen des Reviews umgesetzt. 7 der 11 Richtlinien empfehlen konsistent mit dem Review Metformin als Medikament der ersten Wahl. Bei 9 Richtlinien bestand Übereinstimmung mit dem Review, dass Metformin und Thiazolidindione mit einem geringeren Risiko für Hypoglykämien verbunden sind. 10 Richtlinien stimmten überein, dass Thiazolidindione mit höheren Raten an Ödemen und Herzinsuffizienz assoziiert sind als andere orale Medikamente zur Behandlung von Diabetes Typ 2.
Deutliche Qualitätsunterschiede bei der Leitlinienentwicklung Die Summary-Scores zur methodischen Stringenz der Richtlinienerarbeitung lagen im Durchschnitt bei 28,6 Prozent (Bereich 16,7–100%). Den höchsten Wert wies die NICE-Richtlinie auf (100%), gefolgt von den Richtlinien der CDA (97,6%) und der IDF (83,3%). Diese 3 Richtlinien wurden extern überprüft. Die niedrigsten Summary-Scores zur Stringenz der Richtlinienerarbeitung
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STUDIE REFERIERT
Tabelle:
Übereinstimmung der Richtlinienempfehlungen mit evidenzbasierten Review-Ergebnissen
(modifiziert nach Bennet et al.)
Richtlinie/Institution (Jahr)
Ergebnis 1 MET ist die Substanz der ersten Wahl
ADA/EASD 2008
Übereinstimmung
ADA/EDC 2009
Nicht berücksichtigt
IDF 2008, 2007
Nicht berücksichtigt
Joslin Clinic Oversight Keine Substanz
Committee 2009
bevorzugt
Joslin Clinic Oversight Keine Substanz
Committee 2007
bevorzugt
Partners Health Care Übereinstimmung 2009
AACE/ACE 2009
Übereinstimmung
NICE 2008, 2009
Übereinstimmung
CDA 2008
Übereinstimmung
ICSI 2009, 2010
Übereinstimmung
Yale Diabetes Center, Übereinstimmung 2009, 2010, 2011
Ergebnis 2 MET oder TZD sind mit einem geringeren Risiko für Hypoglykämien verbunden
Ergebnis 3 Die meisten Medikamente erzielen eine ähnliche Senkung der HbA1c-Werte
Übereinstimmung Übereinstimmung
Übereinstimmung Nicht berücksichtigt
Nicht berücksichtigt Nicht berücksichtigt
Nicht berücksichtigt Nicht berücksichtigt
Übereinstimmung Nicht berücksichtigt Übereinstimmung Nicht berücksichtigt
Übereinstimmung Übereinstimmung Übereinstimmung Übereinstimmung Übereinstimmung
Nicht berücksichtigt Übereinstimmung Übereinstimmung Übereinstimmung Übereinstimmung
Ergebnis 4 TZD sind mit Ödemen und Herzinsuffizienz assoziiert
Ergebnis 5 MET oder Acarbose sind mit Gewichtserhalt assoziiert
Übereinstimmung Übereinstimmung Übereinstimmung Nicht berücksichtigt Nicht berücksichtigt Nicht berücksichtigt Übereinstimmung Nicht berücksichtigt
Übereinstimmung Nicht berücksichtigt Übereinstimmung Nicht berücksichtigt
Übereinstimmung Übereinstimmung Übereinstimmung Übereinstimmung Übereinstimmung
Übereinstimmung Übereinstimmung Übereinstimmung Übereinstimmung Übereinstimmung
Ergebnis 6 Bedenken wegen Rosiglitazon und Risiko für ischämische Herzerkrankungen Übereinstimmung Übereinstimmung Nicht berücksichtigt Übereinstimmung
Nicht berücksichtigt
Nicht berücksichtigt
Übereinstimmung Übereinstimmung Übereinstimmung Übereinstimmung Übereinstimmung
Ergebnis 7 Acarbose ist mit gastrointestinalen Nebenwirkungen verbunden Übereinstimmung Übereinstimmung Nicht berücksichtigt Übereinstimmung
Übereinstimmung
Nicht berücksichtigt
Übereinstimmung Übereinstimmung Übereinstimmung Übereinstimmung Übereinstimmung
Abkürzungen: AACE: American Association of Clinical Endocrinologists; ACE: American College of Endocrinology; ADA: American Diabetes Association; CDA: Canadian Diabetes Association; EASD: European Association for the Study of Diabetes; EDC: Egyptian Diabetes Center; ICSI: Institute for Clinical Systems Improvement; IDF: International Diabetes Federation; NICE: National Institute for Health and Clinical Excellence.
wurden für die Richtlinie von Partners Health Care (19%) und die des Yale Diabetes Centers (16,7%) ermittelt. Bei Leitlinien mit höheren Gesamtwerten wurden insgesamt mehr Ergebnisse aus dem Review von 2007 in Empfehlungen umgesetzt als bei Richtlinien niedrigerer Qualität. Auch bezüglich der redaktionellen Unabhängigkeit gab es deutliche Unterschiede. Hier lagen die Summary-Scores durchschnittlich bei 75 Prozent. Bei 6 der 11 Richtlinien wurden Interessenkonflikte der Richtlinienautoren offengelegt. Die höchsten Werte bezüglich der redaktionellen Unabhängigkeit erreichten die Richtlinien von NICE, CDA und IDF mit Summary-Scores von jeweils 100 Prozent. Die Richtlinien des Joslin Clinical Oversight Committees erreichten dagegen nur einen Gesamtwert von 8,3 Prozent, weil hier nur sehr wenige Informationen zur Leitlinienentwicklungsgruppe offengelegt wurden.
Diskussion Im vorliegenden Review wurde die Qualität von Richtlinien aus den USA, aus Kanada und Grossbritannien geprüft. Die NICE-Richtlinien wiesen die höchsten Werte bezüglich der Stringenz der Leitlinienentwicklung und der Unabhängigkeit der Autorenschaft bei der Beurteilung mit dem AGREE-Instrument auf. Aus älteren Reviews zu Richtlinien im Zusammenhang mit Herzerkrankungen geht hervor, dass mitunter schwerwiegende Mängel bezüglich der Stringenz und der Transparenz des Entwicklungsprozesses vorliegen. Aus einer Untersuchung zu den Verflechtungen von 192 Richtlinienautoren aus den USA und Europa von 2002 geht beispielsweise hervor, dass 85 Prozent der Richtlinienautoren in einer Beziehung zur Pharmaindustrie standen. Dieses Ergebnis betont nicht nur die Bedeutung der Offenlegung von Verflechtungen, sondern auch die Bedeutung der
Vermeidung von Interessenkonflikten. Verflechtungen dieser Art betreffen vor allem auch das Management des Diabetes Typ 2, da zahlreiche neue Medikamente eingeführt wurden, bei denen rasch Sicherheitsbedenken auftraten und von denen manche aufgrund ernster Nebenwirkungen wieder vom Markt genommen werden mussten. ❖
Petra Stölting
Bennett Wendy L et al.: Evaluation of guideline recommendations on oral medications for type 2 diabetes – a systematic review. Ann Intern Med 2012; 156: 27–36.
Interessenkonflikte: Die Studie wurde von der Agency for Health Care Research and Quality (AHRQ) gesponsert. Die Organisation hatte jedoch keinen Einfluss auf die Durchführung und die Publikation.
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