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STUDIE REFERIERT
Intensive Blutzuckerkontrolle senkt Niereninsuffizienzrisiko bei Typ-1-Diabetikern langfristig
Eine strikte Blutzuckerkontrolle halbierte für Typ-1-Diabetiker das Langzeitrisiko für Niereninsuffizienz gegenüber einer Vergleichsgruppe mit konventioneller Diabetestherapie. Der Nutzen der strikten Blutzuckerkontrolle zeigte sich langfristig, zehn Jahre nach dem Ende der Studienphase, obgleich sich Behandlung und Blutzuckerwerte beider Gruppen in der Zwischenzeit angeglichen hatten.
NEW ENGLAND JOURNAL OF MEDICINE
In der von 1983 bis 1993 laufenden DCCT-Studie (Diabetes Control and Complications Trial) und der sich anschliessenden Beobachtungsphase EDIC (Epidemiology of Diabetes Interventions and Complications) hatte sich bei Typ-1-Diabetikern bereits gezeigt, dass
HbA1c-Werte nahe dem Niveau gesunder Personen das Risiko für Mikround Makroalbuminurie verringerten. Man schloss daraus, dass in der Folge auch mit einem geringeren Risiko für verminderte glomeruläre Filtrationsrate (GFR) zu rechnen sein sollte, einem entscheidenden Schritt in Richtung Nierenversagen. Tatsächlich zeigt nun eine kürzlich publizierte Studie, dass nach einer Beobachtungsdauer von insgesamt 22 Jahren unter denjenigen Typ-1-Diabetikern, deren Blutzucker zu Beginn für einige Jahre eng kontrolliert und möglichst niedrig gehalten wurde, weniger Fälle einer verminderten GFR auftraten. Die «number needed to treat» (NNT) wird von den Autoren der kürzlich im «New England Journal of Medicine» publizierten Studie mit 29 angegeben: Statistisch betrachtet wurde also bei einem von 29 Typ-1-Diabetikern eine verminderte GFR nach 20 Jahren verhindert, weil ihr Blutzucker früher, für einen Zeitraum von durchschnittlich 61/2 Jahren, eng kontrolliert und möglichst tief eingestellt worden war.
Merksätze
❖ Eine frühzeitige strikte Blutzuckerkontrolle vermindert das Langzeitrisiko für eine verminderte glomeruläre Filtrationsrate bei Typ1-Diabetikern.
❖ Die kumulative Inzidenz einer verminderten GFR innert 20 Jahren betrug 2 Prozent bei den ehemals intensiv behandelten gegenüber 5,5 Prozent bei den ehemals konventionell behandelten Typ-1-Diabetikern.
❖ Einer von 29 Typ-1-Diabetikern profitierte in der vorliegenden Studie von der intensiven Blutzuckersenkung.
Studiendesign In der DCCT-Studienphase von 1983 bis 1989 wurden 1441 Typ-1-Diabetiker für einen Zeitraum von 61/2 Jahren in zwei Gruppen randomisiert: Die einen erhielten eine intensive Therapie mit dem Ziel, dem Blutzuckerwert gesunder Personen möglichst nahe zu kommen, die anderen eine konventionelle Therapie mit weniger ehrgeizigen Zielwerten. Zu Beginn der DCCT waren die Teilnehmer im Durchschnitt 27 Jahre alt, mit einer seit 6 Jahren bestehenden Typ-1-Diabetes-Diagnose und einem HbA1c von 9,1 Prozent. Keiner von ihnen nahm damals Blutdruckmedikamente. 11 Prozent der Teilnehmer hat-
ten zu Beginn der Studie 24-StundenAlbumin-Exkretionsraten von 30 bis 200 mg (entspricht einer Mikroalbuminurie; Normalwert ist < 30 mg/24 h). Die Intensivtherapie bestand aus drei oder mehr Insulininjektionen pro Tag beziehungsweise dem Gebrauch einer Insulinpumpe. Zielwert war ein HbA1c < 6,05 Prozent. Die konventionelle Therapie hatte als Zielvorgabe die Vermeidung von Symptomen einer Hyper- oder Hypoglykämie mit einer oder zwei Insulininjektionen pro Tag. Die DCCT-Studie wurde 1993 beendet. Im Durchschnitt waren die Teilnehmerinnen und Teilnehmer für 61/2 Jahre dabei. Danach wurden diejenigen mit der intensiven Therapie ermuntert, diese weiterzuführen, und denjenigen, welche konventionell behandelt worden waren, bot man die Intensivierung an. Nach der DCCT-Studie wurden 1375 der Diabetiker über viele Jahre hinweg weiterbeobachtet (EDIC-Beobachtungsstudie: Epidemiology of Diabetes Interventions and Complications); ausgewertet wurden die Daten von 1222 Personen. Davon gehörten 618 Personen ehemals der intensiv behandelten und 604 der konventionell behandelten Gruppe an. Das Serumkreatinin wurde jedes Jahr gemessen und daraus die GFR bestimmt. Endpunkt war eine neu auftretende GFR von weniger als 60 ml pro Minute pro 1,73 m2 Körperoberfläche in zwei aufeinanderfolgenden Jahren (Normbereich GFR: 95–160 ml/ min/1,73 m2; deutliche Einschränkung: < 50 ml/min/1,73 m2). Resultate Trotz intensiver Therapie lag der Durchschnittswert für das HbA1c während der 61/2-jährigen Studienphase von DCCT bei 7,3 Prozent; in der Gruppe mit weniger strikten Vorgaben war er mit 9,1 Prozent allerdings deutlich höher. Während der sich anschliessenden Beobachtungsphase EDIC (1994 bis 2010) glich sich das HbA1c-Niveau beider Studiengruppen an und lag bei durchschnittlich 8 Prozent. Auch die Behandlung hatte sich angeglichen: In beiden Gruppen injizierten fast alle Patienten (ca. 97%) mindestens dreimal pro Tag Insulin (oder benutzten die Insulinpumpe), und sie bestimmten ihren Blutzucker mindestens viermal täglich. Mehr als die Hälfte der nun im Durchschnitt 50-jährigen 288 ARS MEDICI 6 ■ 2012 STUDIE REFERIERT Patienten nahmen Blutdrucksenker ein, nämlich 56,2 Prozent derjenigen aus der ehemals intensiv behandelten Gruppe und 59,3 Prozent aus der ehemals konventionell behandelten Gruppe. Eine 24-Stunden-Albumin-Exkretion von 30 mg oder mehr wiesen 19,4 Prozent (intensiv) gegenüber 22,6 Prozent (konventionell) auf. Insgesamt entwickelten während der 21 bis 24 Jahre dauernden Studien- und Beobachtungsphase 70 Personen eine verminderte GFR von weniger als 60 ml/ min/1,73 m2. 24 von ihnen hatten zu Beginn der intensiv behandelten, 46 der konventionell behandelten Gruppe angehört. Die kumulative Inzidenz einer verminderten GFR innert 20 Jahren betrug 2 Prozent bei den ehemals intensiv behandelten gegenüber 5,5 Prozent bei den ehemals konventionell behandelten Typ-1-Diabetikern. Das relative Risiko sank also um rund 50 Prozent (95%-Konfidenzintervall: 18–69; p = 0,006). Schlussfolgerungen Bei Typ-1-Diabetikern vermag die intensive Blutzuckersenkung viele Jahre später das Risiko für eine Niereninsuf- fizienz gegenüber denjenigen mit einer weniger strikten Therapie zu halbieren, obgleich die intensive Therapie nur über einen begrenzten Zeitraum durchgeführt wurde. Ob dies auch für Typ-2Diabetiker zutreffen würde, ist nicht bekannt. Dass auch bei diesen ein möglichst niedriger Blutzuckerwert langfristigen Nutzen generieren kann, zeigte sich aber in einer vor zwei Jahren publizierten Nachbeobachtungsstudie bei Typ-2-Diabetikern in der United Kingdom Prospective Diabetes Study (UKPDS). Eine frühzeitige, intensive Blutzuckerkontrolle war hier auch 10 Jahre nach der Interventionsphase noch immer mit niedrigeren Risiken für mikrovaskuläre Erkrankungen, Herzinfarkt und Sterblichkeit im Vergleich zu ursprünglich konventionell behandelten Patienten verbunden, obwohl sich die Blutglukosespiegel der Vergleichsgruppen bereits nach einem Jahr Follow-up angeglichen hatten. Einschränkend geben die Autoren der vorliegenden Studie zu bedenken, dass die hier vorgestellten Typ-1-Diabetiker bereits relativ früh in ihrer Diabeteskarriere behandelt wurden und somit der Nutzen der strikten Blutzuckerkon- trolle bei Personen mit fortgeschrittener Erkrankung und einem höheren Nie- reninsuffizienzrisiko möglicherweise nicht entsprechend gross sein könnte. Eine möglichst frühe und möglichst strikte Blutzuckerkontrolle bei Typ-1- Diabetikern sei auch aus diesem Grund sinnvoll. Letztlich zeigt die vorliegende Studie, dass eine möglichst frühzeitige, inten- sive Therapie bei Typ-1-Diabetikern nützlich ist: Die ehemals «konventio- nell» Behandelten näherten sich im Diabetesmanagement im Lauf der Jahre immer mehr den von Anfang an «intensiv» Behandelten an, konnten davon offenbar jedoch nicht mehr in gleichem Masse profitieren. ❖ Renate Bonifer The DCCT/EDIC Research Group: Intensive Diabetes Therapy and Glomerular Filtration Rate in Type 1 Diabetes. N Engl J Med 2011, doi 10.1056/NEJMoa1111732. Interessenlage: Die Studie wurde von einer Reihe nationaler Gesundheitsbehörden der USA gefördert sowie durch praktisch alle Firmen, die im Diabetesmarkt als Hersteller von Medikamenten, Diagnostika oder Hilfsmitteln tätig sind. Die Firmen hatten keinen Einfluss auf das Studiendesign und die Analyse der Daten. ARS MEDICI 6 ■ 2012 289