Transkript
Wie hoch darf der Blutdruck sein?
Moderatere Zielwerte für Diabetiker und Nierenkranke
BERICHT
7. Zürcher Hypertonietag 26. Januar 2012, Universitätsspital Zürich
Die Vorstellung, dass man den Zielwert in der Hypertoniebehandlung eigentlich gar nicht zu tief ansetzen könne, hat sich mittlerweile als falsch herausgestellt. Zielwerte unter 130 mmHg erwiesen sich nicht nur als unnötig, sondern sogar als potenziell schädlich. Nichts geändert hat sich daran, dass man eine Hypertonie meist nur mit einer Kombinationstherapie in den Griff bekommen kann. Dabei sollte aber nur eines der Medikamente auf das Renin-Angiotensin-System wirken: ACE-Hemmer, Sartane und Reninhemmer sollen nicht miteinander kombiniert werden.
RENATE BONIFER
Es ist erst drei Jahre her, dass ein bekannter Schweizer Kardiologe sagte, der beste Blutdruckwert sei eigentlich derjenige, bei dem man noch aufrecht stehen und reden könne. Doch die so plausibel erscheinende Massgabe «je tiefer, umso besser» hat sich mittler-
hohen Blutdruck: Spätestens seit der ACCORD-Studie weiss man, dass systolische Zielwerte unter 130 mmHg für sie nicht nur unnütz sind, sondern im Gegenteil sogar gefährlich werden können. Änderungen bei den Zielwerten gibt es bei den Diabetikern und den chronisch Nierenkranken: Hier dürfen es nach Auskunft der Referenten am 7. Zürcher Hypertonietag systolisch 135 mmHg sein, während man früher die Grenze bei 130 mmHg ansetzte. Für alle anderen Hypertoniker bleibt es generell bei 140/90 mmHg als Behandlungsziel. Spezielle Empfehlungen sind für ältere KHK-Patienten mit Hypertonie sinnvoll.
Zielwerte bei KHK Bei KHK-Patienten mit Hypertonie dürfe man den diastolischen Druck nicht zu tief absenken, sagte Prof. Yves Allemann, Leitender Arzt am Ambulatorium der Universitätsklinik für Kardiologie, Inselspital Bern. Er erinnerte daran, dass das Herz das einzige Organ ist, welches in der Diastole und nicht in der Systole durchblutet wird. Jenseits einer Stenose ist der Druck im Gefäss niedriger, und das Gewebe wird nicht gut durchblutet. Sinkt der diastolische Druck noch weiter, verschlechert sich diese Situation: «Wenn man zu tief geht mit dem diastolischen Blutdruck, kommt dann ein Moment, wo die Koronarereignisse wieder ansteigen», erläuterte
Bei Patienten mit koronarer Herzkrankheit darf man die Diastole nicht zu tief absenken.
weile als falsch erwiesen – selbst bei Diabetikern mit einem bekanntermassen besonders hohen Risiko für mikround makrovaskuläre Schäden durch zu
Allemann. Dieser Punkt liegt zwischen 70 und 85 mmHg. Der J-förmige Verlauf der Blutdruck-/Risikokurve gilt als spezifisch für das Herz, bezüglich
Schlaganfällen oder Nierenschäden ist sie nicht nachweisbar. Deutlich zu erkennen sei die J-förmige Risikokurve überdies nur bei Hypertonikern mit KHK, während sie bei unkomplizierten Hypertonikern weniger offensichtlich sei, sagte Allemann. Besonders gefährdet sind ältere Patienten mit einer linksventrikulären Hypertrophie und grossen Druckunterschieden zwischen Systole und Diastole. Hinzu kommt, dass der diastolische Blutdruck im Alter physiologischerweise abnimmt, was zusätzlich nachteilig für KHK-Patienten sein kann. In einem im letzten Jahre publizierten Konsensus von Experten der American College of Cardiology Foundation (ACCF) und der American Heart Association (AHA) werden darum für Personen mit koronarer Herzerkrankung folgende Werte empfohlen: ❖ 135/75 mmHg für Patienten im Alter
von 70 bis 80 Jahren ❖ 140/70 mmHg für Patienten im Alter
von 80 Jahren und älter
Empfohlen werden für Hypertoniker mit KHK in erster Linie Betablocker, in zweiter Linie ACE-Hemmer oder Sartane, sagte Allemann. Als allfälligen Ersatz für die Betablocker empfahl er die Kalziumantagonisten Verapamil oder Diltiazem.
Moderate Zielwerte für Diabetiker Bekanntermassen vermindert eine blutdrucksenkende Therapie das Risiko für mikro- und makrovaskuläre Komplikationen bei Diabetikern. Zu tief muss er aber auch nicht sein. Zwar ist das Schlaganfallrisiko bei Zielwerten unter 130 mmHg wohl etwas niedriger, aber es gibt keinen Nutzen bezüglich anderer mikro- und makrovaskulärer Resultate. Ein etwas moderaterer Zielwert zwischen systolisch 130 und 135 mmHg
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und diastolisch unter 80 mmHg sei darum sinnvoll, sagte Prof. Michael Brändle, Fachbereichsleiter Endokrinologie, Diabetologie und Osteologie, Kantonsspital St. Gallen.
Bei Diabetikern sind 135/80 mmHg in Ordnung.
«Eine suffiziente Blutdrucksenkung ist wichtiger als die Wahl einer bestimmten Medikamentengruppe», sagte Brändle. In der Regel beginnt man mit einem ACE-Hemmer oder einem Sartan. Komorbiditäten sind zu bedenken, und meist ist eine Kombinationstherapie nötig, um eine adäquate Blutdrucksenkung zu erreichen.
Kombitipp: 1 Medikament am Abend nehmen Patienten unter Kombinationstherapie sollte man anweisen, mindestens eines der blutdrucksenkenden Medikamente
Blutdruck das Risiko für das Eintreten einer Niereninsuffizienz und die Dialysepflicht. «Bei hoher Proteinurie sieht man den Nutzen der Blutdrucksenkung am besten», erläuterte Cohen. Übertreiben darf man es bei der Therapie aber nicht: In der ACCORD-Studie drückte man bei Typ-2-Diabetikern den Blutdruck mittels intensiver Therapie auf durchschnittlich 119/64 mmHg gegenüber 133/70 mmHg unter konventioneller Therapie. Gebracht hat das den Patienten nichts, weder nephrologisch noch kardiovaskulär. Im Gegenteil: In der intensiv behandelten Gruppe starben mehr Patienten, sodass ACCORD vorzeitig abgebrochen wurde. Demnächst wird die KIDGO, eine internationalen Nephrologengruppe (Kidney Disease: Improving Global Outcomes), neue Hypertonierichtlinien publizieren, die der Bedeutung der Proteinurie bei CKD-Patienten gerecht werden. Sie lauten voraussichtlich folgendermassen:
ACE-Hemmer und Kalziumantagonisten als erste Wahl Im Gegensatz zu den anderen Referenten am 7. Zürcher Hypertonietag bewertete Prof. Frank Ruschitzka, Leitender Arzt an der Klinik für Kardiologie, Universitätsspital Zürich, die ACEHemmer und Sartane nicht als gleichwertige Alternativen bei der Hypertonietherapie. Er erinnerte daran, dass gute Daten nur für die ACE-Hemmer und Kalziumantagonisten vorhanden seien, während Sartane bezüglich der kardiovaskulären Endpunkte und der Mortalität immer schlechter abgeschnitten hätten. Aus diesem Grund empfiehlt er als neuen Standard der Hypertonietherapie einen ACE-Hemmer wie beispielsweise Ramipril (Triatec® oder Generika), Perindopril (Coversum® oder Generika) oder Benazapril (Cibacen®), kombiniert mit einem Kalziumantagonisten und einem Statin. Sartane sieht Ruschitzka nur als Reserve, falls der ACE-Hemmer nicht vertragen wird.
Bei chronisch Nierenkranken ohne Proteinurie genügt ein Zielwert von 140/90 mmHg.
am Abend vor dem Schlafengehen einzunehmen, riet Brändle. Allein durch diese einfache Massnahme gelang es gemäss einer im letzten Jahr publizierten Studie, die Wahrscheinlichkeit eines kardiovaskulären Ereignisses deutlich zu verringern.
Bei CKD bestimmt die Proteinurie den Blutdruckzielwert Es ist nicht mehr allein die glomeruläre Filtrationsrate, sondern gleichermassen die Albuminurie, auf die man bei Patienten mit chronischer Nierenerkrankung (CKD) achten muss: Je höher die Proteinurie ist, umso höher auch das kardiovaskuläre Risiko und die Gesamtmortalität. Der Verlust der glomerulären Filtrationsrate und die Proteinurie seien additive Risikofaktoren, sagte PD Dr. med. Clemens D. Cohen, Leitender Arzt an der Klinik für Nephrologie, Universitätsspital Zürich. Für Patienten mit Proteinurie mindert ein niedriger
❖ Proteinurie über 500 mg/Tag: unter 130/80 mmHg
❖ Proteinurie unter 500 mg/Tag: unter 140/90 mmHg
Zwar sind sich nicht alle Nephrologen darüber einig, ob nun 500 mg oder 1000 mg/Tag als Grenzwert für die unterschiedlichen Blutdruckziele gelten sollen, und manche Fachgesellschaften, wie beispielsweise die deutsche, sprechen sich bei einer Proteinurie unter 500 mg/Tag für etwas strengere Zielwerte aus (135/85 mmHg anstelle von 140/90 mmHg). Die generelle Strategie jedoch ist klar: Blutdruckzielwerte unter 130/80 mmHg bringen nichts für CKD-Patienten ohne oder mit nur geringer Proteinurie. Für diese genügt 140/90 mmHg als Zielwert. Für die Therapie seien ACE-Hemmer oder Sartane (AT1-Blocker) Mittel der ersten Wahl, sagte Cohen, nicht jedoch beide in Kombination.
Gute Noten für altes Diuretikum
Ruschitzka wies auch darauf hin, dass
Diuretika für die Volumenkontrolle
weiterhin wichtig seien, auch wenn in
jüngerer Zeit Bedenken wegen allfäl-
liger metabolischer Nachteile laut ge-
worden sind. Vergessen werde dabei,
dass nicht alle Diuretika gleich sind.
Empfehlenswert seien Chlortalidon
(Hygroton®) und Indapamid (Fludex®
oder Generika). Auch andere Referenten
des Fortbildungsnachmittags lobten das
alte Diuretikum Chlortalidon und be-
mängelten, dass Chlortalidon-Kombi-
nationspräparate nur mit Betablockern
erhältlich sind beziehungsweise in ACE-
Hemmer- oder Sartan-Kombinations-
präparaten meist Hydrochlorothiazid
enthalten ist.
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Renate Bonifer
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