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MEDIEN, MODEN, MEDIZIN
Rosenbergstrasse 115
5 Prozent aller Schweizer lassen sich im Laufe eines Jahres psychiatrisch oder psychotherapeutisch behandeln. Viel zu wenig, findet das Bundesamt für Gesundheitswesen (BAG) und empfiehlt ungeachtet der Mehrkosten von bis zu 500 Millionen Franken, die Behandlung durch Psychologen künftig direkt von den Krankenkassen bezahlen zu lassen. 10 Prozent hätten’s nötig, meint das BAG. In manchen Bundesämtern sind’s, so will einem scheinen, bedeutend mehr.
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Es gibt nur wenige Berufsgruppen, die ihre Arbeitsreserve beliebig selber bestimmen können. Zu ihnen gehören neben den Juristen (durch munteres Erschaffen neuer Gesetze) die Psychologen. Behandlungsbedürftig ist, wer mit einer psychischen Krankheit durchs Leben geht. Was psychisch krank bedeutet, bestimmt der Fachmann. Die Folge: Die Definition eines psychischen Defizits und damit der Behandlungsbedürftigkeit verändert sich – was nachzuweisen wäre – mit der Zahl arbeitssuchender Psychologen. Inzwischen leiden, nach Meinung einer Studie aus Deutschland, immerhin schon gegen 40 Prozent von uns an einer psychischen Störung.
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Ausserdem, wer möchte es bestreiten: Vorbeugen ist besser als heilen. Wäre es deshalb nicht gescheiter, statt nur die 40 Prozent bedauernswerten Psychischkranken gleich alle Menschen vorbeugend zu behandeln? Eben.
Atomstromnutzer, Offroad-Fahrer, Klimaerwärmungsskeptiker, Fleischesser und was der Gestörten mehr sind, könnten endlich der ihnen zustehenden Behandlung zugeführt werden.
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Wie man eine unliebsame Person in exponierter Stellung los wird, haben gewichtige Medien schon mehrfach gezeigt: Man muss sie durch halbwahre Behauptungen, Mutmassungen und das Streuen von Gerüchten in eine Situation bringen, in der alles, was sie zu ihrer Verteidigung unternimmt, ihre Lage nur noch verschlimmert. So wieder einmal bewiesen beim tollpatschigen Herrn Wulff, dem Schnäppchenjäger, der von Schnäppchenjägern zur Strecke gebracht wurde.
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Die Demontage und genussvolle Demütigung des deutschen Ex-Bundespräsidenten gehört im Übrigen zum Absurdesten, um nicht zu sagen Widerlichsten, was die deutsche MainstreamÖffentlichkeit in den letzten Monaten geboten hat. Was Wulff sich an Vergünstigungen – vermutlich – gegönnt hat, dürfte kaum über das hinausgehen, was sich Politiker jeglicher Couleur und jeglicher Hierarchiestufe (und manche Journalisten – man muss da nicht einmal nur auf die Autound Reisejournalisten zurückgreifen) in Deutschland oder in der Schweiz gönnen (von allen andern europäischen Ländern, vor allem jenen südlich und östlich der Schweiz, gar nicht zu reden).
eigenen Wünsche; die Jugendbewegung verlangte ultimativ «Wir wollen alles und zwar subito». Und heute? Hat sich nur eines verändert: Alles und subito soll auch noch gratis sein. Die Downloads aus dem Internet sowieso. Aber warum nicht gleich das Leben? Eine den Lebensunterhalt sichernde Rente ab 15, auch ohne Arbeit? Warten Sie sie ab, die Jugendbewegung des Jahres 2030.
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«Les Intouchables», die fast wahre Geschichte des vom Hals an abwärts querschnittgelähmten reichen Adligen Philippe und von «Driss», seinem dunkelhäutigen Pfleger, schlägt alle Kinorekorde, wenigstens in Frankreich. Fazit 1: Wenn ein asozialer Schwarzer, dem es – zunächst wenigstens – nur darum geht, Arbeitslosengeld zu ergattern, mit einem Maserati Quattroporte, aber ohne Fahrausweis, mit selbstoder eher fremdmörderischen 160 Sachen in Schlangenlinien durch Paris rast, dann finden das sogar Leute lustig, die im normalen Leben jeden auch nur halb so schnellen Raser mit Enteignung des Wagens und unbedingtem Gefängnis bestrafen würden – sofern auf dem Beifahrersitz ein Querschnittgelähmter sitzt, der sich über die Abwechslung vom Rollstuhl freut. Fazit 2: Es gibt auch für schwerst Behinderte Wichtigeres als die perfekte Rund-umdie-Uhr-Pflege.
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Und das meint Walti: Spontaneität muss wohlüberlegt sein!
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Ja, mehr noch, es liessen sich auf dem Weg über die Psychopathologisierung der Menschheit elegant auch politpsychologische Defizite angehen. Konkret: Politpsychisch Kranke wie Raucher,
Ende der Sechzigerjahre solidarisierten sich die Jungen mit «Ho Ho Ho Chi Minh» im Kampf gegen den Vietnamkrieg. In den Achtzigerjahren ging es weniger ums Weltverbessern als um die
Richard Altorfer
ARS MEDICI 5 ■ 2012
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