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MEDIEN, MODEN, MEDIZIN
Cannabis im Verkehr
Wer gerade gekifft hat, gerät eher in Verkehrsunfälle
Cannabis (Marihuana, Haschisch) ist allgegenwärtig, so auch im Verkehrsgeschen. Ob und wie stark die Fahrtüchtigkeit nach akutem Cannabiskonsum leidet, wurde in experimentellen und in epidemiologischen Beobachtungs-
studien vielfach untersucht, mit durchaus widersprüchlichen Ergebnissen. Einige Fallkontroll- und Kohortenstudien haben sich dem Kollisionsrisiko kurz nach Cannabiskonsum gewidmet. Die eine Hälfte fand eine Erhöhung dieses Risikos, die andere keinen Einfluss oder eine geringere Gefährdung. Eine soeben im «British Medical Journal» veröffentlichte systematische Übersicht und Metaanalyse fasst nun epidemiologische Beobachtungsstudien mit adäquater Kontrollgruppe und Angaben zum Cannabiskonsum (Blutspiegel oder selbstdeklariert) zusammen und erstellt Schätzungen zum Risiko nach dem Random-Effects-Modell. Berücksichtigt wurden 9 Studien. Das Fahren unter Cannabiseinfluss war im Vergleich zur drogenfreien Verkehrsteilnahme mit einem signifikant erhöh-
ten Risiko für Fahrzeugkollisionen as-
soziiert (Odds Ratio [OR] 1,92; 95%-
Konfidenzintervall [KI] 1,35–2,73;
p = 0,0003). Die Autoren stellten Hete-
rogenität unter den einzelnen Studien-
effekten fest. Die Kollisionsrisiko-
schätzungen waren in den Fallkontroll-
studien (OR 2,79; 95%-KI 1,23–6,33;
p = 0,01) und in den Studien zu tödli-
chen Unfällen (OR 2,10; 95%-KI
1,31–3,36); p = 0,002) höher als in Kul-
pabilitätsstudien, welche das Verschul-
den am Unfall untersuchten (OR 1,65;
95%-KI 1,11–2,46; p = 0,07) und in
Studien zu Kollisionen ohne Todesfolge
(OR 1,74; [0,88–3,46]; p = 0,11).
Die Schlussfolgerung der Autoren lau-
tet: Der akute Konsum von Cannabis
ist mit einem erhöhten Risiko für Ver-
kehrsunfälle, insbesondere mit Todes-
folge, assoziiert. Diese Beobachtung
müsse in allen geeigneten Formen un-
ters Volk gebracht werden.
HB❖
Mark Asbridge et al.: Acute cannabis consumption and motor vehicle collision risk: systematic review of observational studies and meta-analysis. BMJ 2012; 344:e536 doi: 10.1136/bmj.e536.
Influenza-Management
Bemerkenswert schlechte Datenlage für den Neuraminidasehemmer Oseltamivir
Mit den Neuraminidasehemmern Oseltamivir (Tamiflu®) und Zanamivir (Relenza®) hatten sich schon frühere Versionen von Cochrane-Reviews befasst. Die Autoren wurden jedoch einer grossen Zahl von nicht publizierten Studien gewahr und trauten ihren seinerzeitigen Schlussfolgerungen zunehmend weniger, weshalb nun eine neue Fassung erschienen ist. In die aktuelle Analyse wurden 25 Studien (15 mit Oseltamivir, 10 mit Zanamivir) eingeschlossen. Es konnten jedoch 42 weitere Studien wegen ungenügender Information oder ungelösten Datendiskrepanzen nicht berücksichtigt werden. Die meisten Untersuchungen betrafen Erwachsene während Grippesaisons in beiden Hemisphären. Bei Patienten mit Influenza-ähnlichen Sym-
ptomen betrug die Erkrankungszeit median 160 Stunden (125–192 h) in den Plazebogruppen, diese wurde durch Oseltamivir um rund 21 Stunden verkürzt (95%-Konfidenzintervall [KI] -29,5–12,9 h; p < 0,001; 5 Studien). In 7 Studien ergab sich aber kein Effekt auf die Hospitalisationshäufigkeit: In der Plazebogruppe betrug die Ereignisrate median 0,84 Prozent (0–11%), entsprechend einer Odds Ratio (OR) von 0,95 (95%-KI 0,57– 1,61; p = 0,86). Diese Ergebnisse beruhen auf umfassenden Intention-to-treat-Daten und dürften kaum einem Bias unterliegen, wie die Autoren anmerken. Die Analyse der Evidenzlage zu Zanamivir haben die Autoren aufgeschoben, da ihnen von der Herstellerfirma Einsicht in die individuellen Patientendaten ver- sprochen wurde. Nicht mit Kritik spa- ren die Cochrane-Autoren jedoch bei Oseltamivir (und dessen Hersteller- firma). Hier bemängeln sie bei den ent- sprechenden Studien erneut ein hohes Risiko für einen Publikationsbias. Sub- gruppenanalysen bei an Grippe er- krankten Populationen waren für Oseltamivir nicht möglich, da dieser Wirkstoff offenbar mit der Antikörper- produktion interferiert. Die Evidenz spreche für einen direkten Wirkungs- mechanismus von Oseltamivir auf die Symptome, schreiben die Autoren. Sie seien aber nicht in der Lage, hinsicht- lich der Oseltamivirwirkung auf die Influenzakomplikationen und auf die Grippevirenübertragung Schlussfolge- rungen zu ziehen. HB❖ Jefferson T, Jones MA, Doshi P, Del Mar CB, Heneghan CJ, Hama R, Thompson MJ.: Neuraminidase inhibitors for preventing and treating influenza in healthy adults and children. Cochrane Database Syst Rev. 2012 Jan 18; 1: CD008965. 134 ARS MEDICI 4 ■ 2012 Manuelle Therapie Massage vermindert Entzündungsfaktoren im Muskel Dass eine Massage nach sportlicher Betätigung wohltuend ist, steht ausser Frage. Kanadische Forscher konnten nun mittels molekularer Analyse von Muskelbiopsien zeigen, dass die Massage Entzündungsfaktoren wie TNF-alpha und Interleukin 6 im Muskel verringern kann. Sie liessen 11 gesunde Männer 15 Minuten lang intensiv trainieren. Danach wurde ein Bein 10 Minuten lang massiert, das andere nicht. Die Biopsien wurden in Ruhe sowie direkt nach der Massage und nach weiteren 21/2 Stunden entnommen. Danach schickten die Forscher die Proben durch ein automatisiertes Analyseverfahren, in welchem Tausende von Genexpressionen gleichzeitig erfasst werden. Das Resultat war eine unterschiedliche Aktivität im massierten und im nicht massierten Muskel von 5 Genen unmittelbar nach der Massage und von 4 Genen nach dem Ausruhen. Insgesamt habe es sich um ein Profil gehan- delt, dass Unterschiede bezüglich Zellstruktur und Entzündungsfaktoren widerspiegele, so die Autoren der Studie. «Unsere Ergebnisse legen nahe, dass die positiven Effekte einer Massage auf eine Verminderung der Produk- tion inflammatorischer Zytokine zurückge- hen», sagte Dr. Mark A. Tarnopolsky von der McMaster University in Hamilton, Ontario, dem Nachrichtendienst MedPage. Es handle sich im Grunde um den gleichen Mechanis- mus, der der schmerzlindernden Wirkung von NSAID zugrunde liege. Ob das tatsächlich so zutrifft, ist eine offene Frage. RBO❖ Crane JD et al.: Massage therapy attenuates inflammatory signaling after exercise-induced muscle damage. SciTransl Med. 2012; DOI:10.1126/scitranslmed.3002882. RÜCKSPIEGEL Vor 10 Jahren Himmelsscheibe In einem Basler Hotel kommt es Ende Februar 2002 zum letzten Akt eines wahren Wissenschaftsthrillers: Zum Schein trifft sich der deutsche Archäologe Harald Meller mit zwei Hehlern. Sie wollen ihm die «Himmelsscheibe von Nebra» verkaufen, eine bronzezeitliche und bis anhin die älteste exakte Darstellung des Sternenhimmels der Welt. Gefunden wurde das kostbare Stück von Raubgräbern, und danach wurde es mehrfach illegal weiterverkauft. Die Polizei verhaftet die Hehler und stellt die Himmelsscheibe sicher. Sie befindet sich heute im Landesmuseum Halle in SachsenAnhalt; der Fundort bei der Kleinstadt Nebra liegt in Sachsen-Anhalt. (Foto: Wikimedia, D. Bachmann) Vor 50 Jahren Nacktmäuse In einem virologischen Labor in der Nähe von Glasgow entstehen infolge einer spontanen Mutation bei Albinomäusen erstmals Nacktmäuse. Sie haben keine Haare und – für die immunologische Forschung interessant – keinen Thymus, dementsprechend auch keine T-Lympho- Chemotherapie Auch bei Schwangeren möglich Man schätzt die Inzidenz von Krebserkrankungen bei Schwangeren auf 1 zu 1000 bis 5000. Während eine Chemotherapie im ersten Trimenon einer Schwangerschaft nicht infrage kommt, scheint diese im zweiten oder dritten Trimenon das Kind weniger zu gefährden als eine zu frühe Geburt (vor der 37. Woche). Dies ergab eine seit 2005 laufende Beobachtungsstudie mit 70 Kindern, deren Mütter während der Schwangerschaft eine Chemotherapie erhielten. Zwei Drittel dieser Kinder wurden vor der 37. Woche geboren. Im Vergleich mit normalen Schwangerschaften fand das Team um Frédéric Amant von der Universität Leuven in Belgien bis anhin keine Anhaltspunkte dafür, dass die Chemotherapie, die die Schwangeren erhielten, bleibende Schäden bei den Kindern hinterlassen hat. Es zeigte sich jedoch, dass eine zu frühe Geburt – wie sonst auch – die neurokognitive Leistung der Kinder beeinträchtigt. Wenn eine Schwangere an Brust-, Zervixoder Ovarialkarzinom erkrankt, sei dies jedenfalls kein Grund, zu einem Schwangerschaftsabbruch zu raten, heisst es in einem der parallel in der Zeitschrift «Lancet» erschiene- nen Übersichtsarbeiten zu Krebserkrankun- gen in der Schwangerschaft. Zum einen kann hier unter Umständen noch wenige Monate zugewartet werden, zum anderen sprechen die oben genannten Befunde dafür, dass auf eine Chemotherapie ab dem zweiten Trime- non nicht verzichtet werden muss. Anders sieht es im Fall einer Leukämie aus. Hier sei ein Schwangerschaftsabbruch in den ersten Monaten oft ratsam, um eine adäquate Therapie der Mutter umgehend zu ermög- lich. Bei einer fortgeschrittenen Schwanger- schaft sei jedoch auch bei Leukämien oft eine Therapie möglich, so die Review-Autoren. Die Biologika wurden in allen Fällen für die Behandlung während der Schwangerschaft ausdrücklich ausgeschlossen. RBO❖ Amant F et al.: Long-term cognitive and cardiac outcomes after prenatal exposure to chemotherapy in children aged 18 months or older: an observational study. Lancet Oncol 2012; doi:10.1016/ S1470-2045(11)70363-1. Morice P et al.: Gynaecological cancers in pregnancy. Lancet 2012; 379: 558-569. Amant F et al.: Breast cancer in pregnancy. Lancet 2012; 379: 570-579. Brenner B et al.: Haematological cancers in pregnancy. Lancet 2012; 379: 580–587. zyten, weshalb keine Abstossungsreaktion auf körperfremdes Gewebe ausgelöst werden kann. Trotzdem können Nacktmäuse in einer entsprechend sterilen Umgebung fast so lange leben wie normale Mäuse, was sie zu begehrten Versuchstieren machte. So implantierte man den Tieren beispielsweise menschliche Tumoren, um die Wirkung von Onkologika zu testen. Vor 100 Jahren Sprachheilkunde Der Arzt Hermann Gutzmann (1865–1922) wird Professor an der Charité in Berlin und veröffentlicht bereits die zweite Auflage seines Lehrbuchs zur Sprachheilkunde. Schon sein Vater befasste sich als Taubstummenlehrer mit der Sprache und schrieb ein Buch über das Stottern. Hermann setzte das Werk fort und gilt als Begründer der Phoniatrie, welche sich mit Problemen beim Sprechen oder Schlucken und mit Beeinträchtigungen der Stimme befasst. Auch sein Sohn blieb diesem Forschungsgebiet treu und gründete in Deutschland die erste Lehranstalt für Logopädie.