Transkript
BÜCHER
BUCHBESPRECHUNG
Für Schmerztherapeuten
Neues Lehrbuch «Integrative Schmerztherapie»
Schmerzmedizin ist nicht exklusiv einem Fachbereich zugeordnet, sondern sie fusst auf dem bio-psycho-sozialen Krankheitskonzept und vereinigt deshalb zwangsläufig Mediziner und Therapeuten verschiedener Fachrichtungen im diagnostischen und therapeutischen Team. Ziel dieses Buches ist, das sinnvolle, sich zum Wohle des Patienten ergänzende Miteinander aufzuzeigen. Die Gliederung in drei Abschnitte – Grundlagen, Verfahren und Techniken sowie integrative Behandlungskonzepte und Fallbeispiele – ist sinnvoll und bietet einen guten Überblick. Unvermeidlich ist bei einem Werk dieser Art die unterschiedliche Qualität der Beiträge. In den Grundlagen wird ein schneller Wechsel zwischen anatomischem Aufbau und Funktionsmechanismen geboten; die Erklärungen von Mechanismen sind teilweise sehr detailliert, aber ohne ausreichendes Wissensfundament nur schwer verständlich. Die Aussagen zum Rückenschmerz erscheinen wenig geordnet. Ein grosses Kapitel ist dem Aufbau und der Funktion des vegetativen Nervensystems gewidmet, was in anderen schmerzmedizinischen Lehrbüchern teilweise zu kurz kommt. Die Grundregulation ist gut dargestellt, die Verbindung zum Schmerz aber nicht unumstritten. Das Kapitel zur Pathophysiologie des Schmerzes ist hervorragend in inhaltlichem und strukturellem Aufbau, während das Kapitel Schmerzdiagnostik gute Ansätze bietet, aber letztlich unsystematisch, unvollständig und für den Unerfahrenen in der Schmerzmedizin verwirrend bleibt. Der Abschnitt «Verfahren und Techniken» beginnt mit den Grundlagen zur medikamentösen Schmerztherapie. Der Wechsel zwischen der Beschreibung einzelner Substanzen und Therapieempfehlungen bei bestimmten Krankheitsbildern ist verwirrend, Hinweise zu aktuellen Leitlinien (zum Beispiel Langzeitopiattherapie) fehlen leider. Die intravenöse Therapie mit Ketamin ist in der Anästhesiologie sowie in der perioperativen, aber auch in der chronischen Schmerztherapie eine sinnvolle Option und sollte nicht als Ultima-Ratio-Therapie bezeichnet werden. Im Abschnitt Interventionelle Schmerztherapien findet sich eine gute Übersicht über mögliche Therapieverfahren. Leider sind die Beschreibungen der Blockaden sehr kurz; es ist fraglich, ob eine solche Darstellung hilfreich ist. Ebenfalls vorgestellt werden Akupunktur, Neuraltherapie, andere Infiltrationsverfahren, manuelle Medizin, Trainingstherapie, physikalische Medizin bis zu Phytotherapie, Homöopathie und ausleitenden Verfahren. Gut ist die Darstellung der gesamten Bandbreite dieser Verfahren, die meisten werden zwar nur kurz, aber verständlich und gut fundiert dargestellt. Eine Bewertung der einzelnen Verfahren fehlt. Insgesamt nehmen die psychotherapeutischen Verfahren nur sehr wenig Raum ein, was der klinischen Praxis eher widerspricht.
Im Abschnitt «Integrative Behandlungskonzepte und Fallbeispiele» werden im Kapitel Rückenschmerzen die Halswirbelsäule bis zu den Iliosakralgelenken abgehandelt; es ist damit
überfrachtet. Gut ist die Darstellung der Untersuchungen und der Anamneseerhebung mit Bezug zur Pathologie und Anatomie. Die Ausführungen über Schmerzen im Schulterbereich sind ebenfalls ausgewogen. Für die Ellenbogenschmerzen werden lediglich klassische Therapieverfahren (Schonung, physikalische Therapie bis zur Operation) erwähnt, man vermisst hier moderne Therapiekonzepte wie «graded activity», progressive Muskelentspannung, die erweiterte Diagnostik bei therapieresistenten Fällen und der Hinweis auf Bezüge zur Fibromyalgie. Das Kapitel zur unteren Extremität liest sich wie die Kurzfassung eines orthopädischen Lehrbuchs mit Anhang alternativer Therapien, hier fehlt der integrative Ansatz (verschiedene Therapiemodalitäten verschiedener Fachbereiche). Die Abschnitte Zahnschmerzen und Kiefergelenk und kraniomandibuläre Dysfunktion sind hervorragend; die psychotherapeutischen Ansätze fehlen jedoch, hingegen finden sich Ausführungen zu unbewiesenen Zusammenhängen mit Beinlängendifferenzen. Das komplexe regionale Schmerzsyndrom ist gut dargestellt, doch fehlt auch hier die psychische Dimension. In Kapitel Fibromyalgie wird die Psychotherapie nur kurz erwähnt, die Trainingstherapie wird nicht auf dem aktuellen wissenschaftlichen Stand dargestellt und in nur drei Sätzen abgehandelt. Bei der Osteoporose fehlt der Hinweis auf die Physiotherapie, bei der Urologie fehlen Psychologie, Physiotherapie und die Möglichkeiten der Lokalanästhesie. Es ist den Herausgebern und dem Verlag zu danken, diese Herkulesaufgabe angenommen zu haben. Leider werde die unterschiedlichen Sichtweisen verschiedener Fachrichtungen zu wenig integriert, sondern eher nebeneinander dargestellt. So dürfte der Unerfahrene etwas ratlos sein angesichts der Fülle der Informationen. Der erfahrenere Schmerzmediziner oder therapeut findet jedoch Anregungen und Hinweise für die eigene Praxis. In einer weiteren Auflage ist dem Buch eine Weiterentwicklung zu wünschen.
Dr. med. André Ljutow, MSc Facharzt für Orthopädie/Rheumatologie, Leitender Arzt am Zentrum für Schmerzmedizin, Nottwil
Lehrbuch Integrative Schmerztherapie. Von Lorenz Fischer und Elmar T. Peuker (Hrsg.). 621 Seiten; 162 Franken; ISBN: 3-8304-7382-6; Haug-Verlag Stuttgart, 2011.
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ARS MEDICI 4 ■ 2012