Transkript
FORTBILDUNG
Tiefe Venenthrombosen
Kathetergestützte Lyse soll das Risiko für postthrombotisches Syndrom senken
Trotz konventioneller Therapie mit Antikoagulanzien und Kompressionsstrümpfen entwickelt einer von vier Patienten nach einer tiefen Venenthrombose (TVT) innert eines Jahres ein postthrombotisches Syndrom, und einer von dreien wird innert fünf Jahren erneut eine TVT haben. Von einer neuen Methode, der Entfernung des Thrombus mittels Katheters, erhofft man sich bessere Resultate.
BRITISH MEDICAL JOURNAL
Drei Faktoren tragen je nach Risikokonstellation in individuell unterschiedlichem Masse zur venösen Thrombusbildung bei: erhöhte Gerinnung, Stase und Venenschäden. Jede tiefe Venenthrombose (TVT) bedeutet ein erhöhtes Risiko für eine Lungenembolie. Wenn trotz TVT nicht behandelt wird, erleidet jeder zweite Patient eine Lungenembolie, und jeder Zehnte von ihnen wird an dieser Lungenembolie innert einer Stunde nach Einsetzen der Symptome sterben.
Symptome und Diagnose der TVT Die Symptome einer TVT, die meist distal, in einer tiefen Vene der Wade auftritt (Abbildung), umfassen Schwellung, Schmerz und Rötung; auch Muskelkrämpfe kommen vor. Um diese unspezifischen Symptome entsprechend deuten zu können, wurden verschiedene Skalen und Tests entwickelt. Die am besten validierte Methode ist der Wells Score (Tabelle).
Merksätze
❖ Bei einer plötzlichen Beinschwellung, Rötung und Schmerz besteht Verdacht auf eine tiefe Venenthrombose (TVT).
❖ Standardtherapie ist Antikoagulation für mindestens 3 Monate, Kompressionsstrümpfe für 2 Jahre und Mobilisation.
❖ Häufig manifestiert sich trotzdem innert 2 Jahren das postthrombotische Syndrom.
❖ Die Thrombolyse per Katheter soll das Risiko des postthrombotischen Syndroms senken; diese Methode wird zurzeit in Studien geprüft.
Die D-Dimer-Bestimmung im Blut ist geeignet für den Ausschluss einer TVT, aber nicht für deren Nachweis. D-Dimer zeigt an, ob Thrombusspuren (Abbauprodukte) nachweisbar sind oder nicht. Der Test hat einen negativ prädiktiven Wert von 97,7 Prozent (d.h. nur 2,3% der Resultate sind falschnegativ). Wenn der D-Dimer-Test negativ ist und der Wells Score unter 2 Punkten liegt, kann eine TVT auch ohne Duplex-Ultraschalluntersuchung ausgeschlossen werden. Diese ist zurzeit das übliche bildgebende Verfahren für den Nachweis einer TVT. Für TVT oberhalb des Knies beträgt die Sensitivität 98,7 (d.h. 1,3% bleiben unentdeckt) und die Spezifität 100 Prozent (keine falschpositiven Befunde); für distale TVT beträgt die Sensitivität 85,2 und die Spezifität 98,2 Prozent.
Postthrombotisches Syndrom Neben dem eingangs erwähnten Lungenembolierisiko ist das postthrombotische Syndrom eine weitere bedeutende Komplikation der TVT. Fast jeder zweite TVT-Patient (43–47%; bei iliofemoraler TVT sogar über 60%) entwickeln diese chronische Krankheit innert 2 Jahren. Ursachen sind eine venöse Hypertonie infolge persistierender Obstruktion sowie Veneninsuffienz aufgrund bleibender Schäden der Venenwand und Venenklappen. Die Lebensqualität von Patienten mit postthrombotischem Syndrom ist schlecht und vergleichbar mit derjenigen von Patienten mit anderen chronischen Erkrankungen wie Diabetes, COPD oder Herzinsuffizienz. Das postthrombotische Syndrom manifestiert sich in Form schwerer, schmerzender Beine; auch Krämpfe, Parästhesien und Pruritus kommen vor. Man schätzt, dass 30 Prozent aller TVT-Patienten eine leichte, 10 Prozent eine mittlere und 3 Prozent eine schwere Ausprägung des postthrombotischen Syndroms entwickeln. Bei 3 bis 5 Prozent aller Patienten mit postthrombotischem Syndrom kommt es in der Folge zu venösen Ulzera.
Standardtherapie bei TVT Die Standardtherapie besteht aus sofortiger Antikoagulation mit subkutanem, niedrigmolekularem Heparin und oralen Antikoagulanzien sowie Kompressionsstrümpfen und einer frühen Mobilisation. Gemäss den Richtlinien des American College of Chest Physicians (ACCP), die auf randomisierten Studien beruhen, soll das subkutane Heparin für mindestens 5 Tage verabreicht werden. Gleichzeitig soll der Patient mit der Einnahme oraler Antikoagulanzien beginnen und diese für mindestens drei Monate fortsetzen. Die Dauer der oralen Antikoagulation
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FORTBILDUNG
Tabelle:
Wells Score zum Abschätzen der Wahrscheinlichkeit einer tiefen Venenthrombose
Krebstherapie (weniger als 6 Monate zurückliegend oder palliativ) Lähmung oder kürzlich erfolgte Immobilisation der Beine kürzliche Bettlägerigkeit für mehr als 3 Tage oder grösserer chirurgischer Eingriff in den letzten 4 Wochen Schmerz/Verhärtung entlang der tiefen Venen ganzes Bein geschwollen Wade um mehr als 3 Zentimeter gegenüber anderem Bein geschwollen eindrückbares Ödem Kollateralvenen frühere TVT andere Erkrankung mindestens genauso wahrscheinlich wie TVT
1 Punkt 1 Punkt 1 Punkt 1 Punkt 1 Punkt 1 Punkt 1 Punkt 1 Punkt 1 Punkt minus 2 Punkte
Summe weniger als 2 Punkte = TVT eher unwahrscheinlich; Summe 2 oder mehr Punkte = TVT eher wahrscheinlich
V. cava inferior
V. iliaca comm. V. iliaca ext.
Hiatus saphenus
V. femoralis
V. saphena magna
V. femoralis
V. poplitea
V. tibialis anterior V. saphena magna
V. fibularis V. tibialis posterior
Abbildung: Vereinfachte, schematische Darstellung der 4% Verteilungshäufigkeit tiefer Venenthrombosen; der proximale Teil der V. femoralis 20% wird in der englischen Fachliteratur häufig als «common femoral vein» bezeichnet. 20%
16%
40%
hängt dabei von der TVT-Ursache ab sowie davon, ob der Thrombus beseitigt werden konnte oder nicht. Antikoagulation alleine senkt das Lungenembolierisiko auf 3,8 Prozent und das Risiko eines TVT-Rezidivs auf 30 Prozent. Das Risiko für ein postthrombotisches Syndrom sinkt mit alleiniger Antikoagulation jedoch nur wenig, auf 82 Prozent. Um dieses Risiko deutlicher, nämlich um etwa die Hälfte, zu senken, ist die Kompressionstherapie nötig. Gemäss ACCPRichtlinien sollte man sofort beginnen, mit Bandagen oder Kompressionsstrümpfen einen Druck von 30 bis 40 mmHg anzulegen. Die Kompressionstherapie muss für mindestens 2 Jahre fortgesetzt werden. Doch trotz all der Massnahmen im Rahmen der zurzeit üblichen TVT-Therapien bleibt ein Restrisiko von 30 Prozent für ein TVT-Rezidiv innert fünf Jahren und von 43 Prozent für ein postthrombotisches Syndrom innert zwei Jahren.
Thrombolyse per Katheter bei TVT
Beobachtungen an Patienten mit iliofemoraler TVT – hier
besteht ein besonders hohes Risiko wiederkehrender TVT
und des postthrombotischen Syndroms – legen nahe, dass die
Prognose besser ist, wenn der Thrombus möglichst vollstän-
dig aufgelöst werden kann. Bereits 1993 wurde eine pro-
spektive, nicht randomisierte Studie publiziert, wonach die
Lyse mithilfe eines Katheters direkt in der Vene sicher und
ohne wesentliche systemische Effekte durchführbar ist und
die normale Venenklappenfunktion zu erhalten vermag. In
einer 2007 publizierten Übersichtsarbeit zur katheter-
gestützten Lyse bei TVT kam man zu dem Schluss, dass die
Inzidenz des postthrombotischen Syndroms mithilfe dieser
Technik von 78 auf 27 Prozent sank, wobei es allerdings bei
8 Prozent der Patienten zu kleineren Blutungen kam.
Mittlerweile ist die Medizintechnik weiter und bietet Kathe-
ter an, welche nicht nur für die chemische Lyse geeignet sind,
sondern mithilfe von Ultraschall auch eine mechanische Zer-
störung des Thrombus bewirken sollen. Ob sie bei TVT tat-
sächlich einen Vorteil bringen, ist noch offen.
Zurzeit laufen drei grosse randomisierte Studien, um die
Wirksamkeit und Sicherheit der kathetergestützen Thrombo-
lyse bei TVT zu untersuchen: die norwegische Studie CaVent,
die US-amerikanische Studie ATTRACT und die niederlän-
dische Studie CAVA. In allen drei Studien werden nur Patien-
ten mit ileofemoralen TVT aufgenommen. Viele TVT treten
allerdings auch in anderen Gefässregionen auf.
❖
Renate Bonifer
Quelle: Strijkers RWH et al.: Management of deep vein thrombosis and prevention of post-thrombotic syndrome. BMJ 2011;343:d5916 doi: 10.1136/bmj.d5916
Interessenlage: Die Autoren des BMJ-Reviews geben an, dass keine Interessenkonflikte bestehen. Sie sind an der CAVA-Studie beteiligt, welche aus öffentlichen Mitteln finanziert wird (The Netherlands Organisation for Health Research and Development).
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