Transkript
INTERVIEW
«Eine probatorische Therapie ist verantwortbar»
Fragen zur medikamentösen Therapie der BPH, unter besonderer Berücksichtigung der Phytotherapeutika
Interview mit Dr. med. Joël Patrick Gregorin, FMH Urologie, Solothurn
Bei leichter bis mässiger Ausprägung eines LUTS
(lower urinary tract syndrome) sind Phytothera-
peutika allein oder in Kombination mit einem Alpha-
blocker auch probatorisch erlaubt. Das weitere
Vorgehen richtet sich nach der Entwicklung der
Symptome und Befunde.
ARS MEDICI: Die typischen Symptome einer benignen Prostatahyperplasie (BPH) sind bekannt. Welche diagnostischen Abklärungen sind in der Allgemeinpraxis durchzuführen? Und wann beziehungsweise bei welchen Symptomen und Befunden ist der Facharzt zu konsultieren? Dr. med. Joël Patrick Gregorin: Das wichtigste diagnostische «Instrument» in der Hausarztpraxis ist die Anamnese. Zu ihr kann auch auch die Erhebung des IPSS (International Prostata Symptom Score) gehören (Kästchen), den der Patient im Übrigen auch selbständig ausfüllen und auswerten lassen kann (z.B. auf www.bph.ch/deutsch/ sites/ipss.html). Selbstverständlich sind daneben die leider ungeliebte rektal-digitale Palpation zur Beurteilung von Grösse, Beschaffenheit, Abgrenzbarkeit, Indurationen und entzündlichen Zeichen, ein Urinstatus und bei entsprechend ausgebildeten Personen auch eine Ultraschalluntersuchung zu empfehlen. Eine Überweisung an den Facharzt ist nötig, sobald einer der relevanten Parameter oder Befunde pathologisch ausfällt, aber auch nach rezidivierenden Harnwegsinfekten oder/und klinischer Überlaufblase.
ARS MEDICI: Welchen Stellenwert hat das PSA aus Ihrer Sicht? Gregorin: Wenn die Möglichkeit besteht, den Patienten über längere Zeit hinweg nachzukontrollieren, dann lohnt sich auf jeden Fall die Bestimmung eines Ausgangswerts. Der Test ist billig und gibt, wenn er individuell und über einen längeren Zeitraum hinweg nachverfolgt werden kann, verlässliche Auskunft über die Wahrscheinlichkeit, dass ein Prostatakarzinom vorliegt. Die immer wieder kritisierte mangelnde Spezifität des Tests lässt sich deutlich verbessern, wenn bei allenfalls vorhandenen entzündlichen Zeichen eine Prostatitis behandelt wird und wenn vorgängiges Velofahren und Geschlechtsverkehr ausgeschlossen werden.
ARS MEDICI: Wie lässt sich die BPH in Stadien nach Schweregrad beziehungsweise in Entwicklungsstadien einteilen? Welches ist der konkrete Nutzen dieser Einteilung?
Gregorin: Früher kannte man die Einteilung nach Alken, die sich im Wesentlichen auf die Morphologie der Erkrankung stützte. Heute zieht man die IPSS-basierte Einteilung in leichte, mässige oder schwere LUTS (lower urinary tract symptoms) vor. Sie ist nützlicher im Hinblick auf die zu wählende Therapie.
ARS MEDICI: Ist in der Allgemeinpraxis eine probatorische Therapie auch ohne aufwendige Diagnostik verantwortbar? Unter welchen Umständen und mit welchen Kontrolluntersuchungen? Gregorin: Sicher ist das zu verantworten. Bei entzündlichen Zeichen, also bei Verdacht auf eine Prostatitis, ist eine antibiotische Therapie bei gleichzeitiger Gabe von Entzündungshemmern (NSAR) angezeigt. Wenn dann kein Restharn vorliegt, ein Harnwegsinfekt, eine Niereninsuffizienz, Steine sowie eine Makrohämaturie ausgeschlossen sind, kann der Hausarzt durchaus probatorisch behandeln. Der Urologe würde in diesem Fall den Uroflow und den Restharn kontrollieren, der Hausarzt kann sich aber auch am IPSS orientieren, erstmals beispielsweise nach 6 Wochen, später halbjährlich.
ARS MEDICI: Welche Medikamente kommen hierbei infrage? Gregorin: Bei einem IPSS unter 7 kommt je nach Leidensdruck ein Watchful Waiting infrage, meistens aber wird man eine medikamentöse Therapie ins Auge fassen, in dieser Phase meist mit einem Phytotherapeutikum. Bei kleiner Prostata können Alphablocker eingesetzt werden, zum Beispiel kombiniert mit einem Phytotherapeutikum. Bei einer mässigen Symptomatik (IPSS über 8) kommen Alphablocker oder Kombinationspräparate (Alphablocker plus 5-alpha-Reduktasehemmer), allenfalls zusammen mit einem Phytotherapeutikum, infrage.
ARS MEDICI: Mit welchen Nebenwirkungen ist bei einer medikamentösen Therapie der BPH zu rechnen (Alphablocker, 5-alpha-Reduktasehemmer, Phytotherapeutika u.a.)? Welche werden von den Patienten akzeptiert, welche eher nicht? Gregorin: Phytotherapeutika können zweifellos gut bei leichter bis mässiger Symptomatik wirken, und das praktisch ohne Nebenwirkungen. Sie sind indiziert bei LUTS ohne inflammatorische Komponente. Alphablocker wirken bei gleicher Symptomatik rascher und ebenso gut, sind allerdings mit deutlich mehr Nebenwirkungen behaftet. Schwindel, Hypotonie und retrograde Ejakulation sind nicht selten. Die
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INTERVIEW
Dr. med. Joël Patrick Gregorin
Häufigkeitsangaben dafür schwanken, zirka ein Drittel der Patienten klagt darüber. 5-alpha-Reduktasehemmer wie Finasterid oder Dutasterid kommen bei vergrösserter Prostata und bei älteren Patienten zum Einsatz, wenn Nebenwirkungen eher akzeptiert werden. Wichtigste unangenehme Erscheinungen sind Erektionsstörungen und eine reduzierte Libido.
ARS MEDICI: Was für eine Rolle spielen Ihrer Erfahrung nach Phytotherapeutika in der Allgemeinpraxis (z.B. Sägepalmenextrakte)? Gregorin: Gerade in der Hausarztpraxis, bei leichten Symptomen, jüngeren, kritischen Patienten, die ausdrücklich auf «Chemie» verzichten wollen und keine medikamentösen Nebenwirkungen in Kauf zu nehmen bereit sind, leisten Phytotherapeutika gute Dienste. Da der Wirkungseintritt verzögert eintritt, lohnt es sich, die Patienten von einer vorübergehenden Medikation mit Alphablockern zu überzeugen. Unter einem Alphablocker plus einem hoch dosierten Phytotherapeutikum erlebt man innert weniger Tage eine deutliche Wirkung. Nach einigen Tagen kann man den Alphablocker wieder absetzen und mit dem Phytotherapeutikum allein weiterfahren.
ARS MEDICI: Wie sieht die Studienlage bei BPH-Medikamenten auf pflanzlicher Basis aus? Gibt es aussagekräftige Studien, bei denen Phytotherapeutika mit Alphablockern und 5-alpha-Reduktasehemmern verglichen wurden? Was für Erfahrungen machen Sie in der Praxis mit Phytotherapeutika? Gregorin: Nicht falsch liegt man bei Sägepalmen- und Brennnesselextrakten oder einer Kombination aus beidem. Zu beiden
Präparaten liegen Studien vor, die einen positiven Effekt auch über mehrere Jahre belegen. Die Studie von U. Engelmann beispielsweise, erschienen in «Arzneimittel-Forschung/Drug Research», weist in einer randomisierten Doppelblindstudie bei Patienten mit LUTS infolge einer benignen Prostatahyperplasie nach, dass ein Kombinationspräparat aus Sabalfrüchten und Brennnesselwurzeln einer Therapie mit Tamsulosid ebenbürtig ist. Soekeland und Albrecht kamen in einer einjährigen Studie im Vergleich mit Finasterid zum gleichen Resultat. In beiden Fällen nahm der IPSS ab und der Uroflow zu. Was unter Phytotherapeutika nicht sicher nachgewiesen werden konnte, ist ein Stopp der Progression der BPH.
ARS MEDICI: In welchen Abständen kontrollieren Sie Symptomatik und Befunde bei Ihren Patienten? Wann ist für Sie Zeit für einen Wechsel der medikamentösen Therapie? Gregorin: Initial kontrollieren wir in sechswöchigen Abständen den Uroflow und den Restharn. In der Hausarztpraxis wird man sich auf die subjektiven Angaben des Patienten verlassen dürfen. Wenn Phytotherapeutika allein oder in Kombination mit einem Alphablocker keine Verbesserung der Symptomatik oder/und der Befunde ergeben, ist es aus Sicht des Urologen Zeit, an eine chirurgische Therapie zu denken.
ARS MEDICI: Wie beurteilen Sie die FDA Drug Safety Commu-
nication vom Juni 2011 im Zusammenhang mit der Behand-
lung mit Finasterid und Dutasterid und die zugehörigen Stu-
dien? Hat sie Konsequenzen für die medikamentöse Behand-
lung von BPH in der Praxis?
Gregorin: Die dieser Meldung zugrunde liegende Studie ist be-
zogen auf die Schlussfolgerung, dass höher entdifferenzierte
Karzinome unter Finasteriden hervorgerufen werden, praktisch
widerlegt. Finasterid und Dutasterid lassen die Prostata um
25 Prozent schrumpfen; das führte zu einem «trial bias» und
einer vermeintlich höheren Rate von schlechter differenzierten
Prostatakarzinomen. In der Praxis hat diese Mitteilung des-
halb keine Folgen. Es hat sich überdies herausgestellt, dass,
hätte man die Studie drei Monate später abgeschlossen, die
Resultate anders ausgefallen wären.
❖
Die Fragen stellte Dr. Richard Altorfer.
Internationaler Prostata Symptomen-Score (IPSS) Herausgegeben von der Deutschen Gesellschaft fur Urologie e.V. als offizieller urologischer Bewertungsstandard für Beschwerden des unteren Harntraktes bei gutartiger Prostatavergrösserung
Die Angaben beziehen sich auf die letzten 4 Wochen
Bitte ankreuzen 1. Wie oft hatten Sie das Gefühl, dass Ihre Blase nach dem Wasserlassen nicht ganz entleert war?
niemals 0
seltener als in einem von fünf Fällen
seltener als in der Hälfte aller Fälle
12
ungefähr in der Hälfte aller Fälle
3
in mehr als der Hälfte
aller Fälle
4
fast immer 5
2. Wie oft mussten Sie innerhalb von 2 Stunden ein zweites Mal
0
1
2
3
4
5
Wasser lassen?
3. Wie oft mussten Sie beim Wasserlassen mehrmals aufhören
0
1
2
3
4
5
und wieder neu beginnen?
4. Wie oft hatten Sie Schwierigkeiten, das Wasserlassen
0
1
2
3
4
5
hinauszuzögern?
5. Wie oft hatten Sie einen schwachen Strahl beim Wasserlassen? 0 1 2 3 4 5
6. Wie oft mussten Sie pressen oder sich anstrengen, um mit
0
1
2
3
4
5
dem Wasserlassen zu beginnen?
7. Wie oft sind Sie im Durchschnitt nachts aufgestanden, um Wasser zu lassen?
niemals 0
einmal 1
zweimal 2
dreimal 3
viermal 4
fünfmal ≥5
Zur Ermittlung des Gesamt-IPPS-Scores einfach die zutreffenden Ziffern zusammenzählen. Gesamt-IPPS-Score Σ =
20–35 Punkte: Ihre Beschwerden des unteren Harntraktes beeinträchtigen Sie sehr stark und sind nach offizieller Einteilung der schweren Symptomatik zugeordnet. Bitte sprechen Sie umgehend mit Ihrem Arzt darüber. 8–19 Punkte: Ihre Beschwerden des unteren Harntraktes beeinträchtigen Sie schon stark und sind nach offzieller Einteilung der mittleren Symptomatik zugeordnet. Bitte sprechen Sie umgehend mit Ihrem Arzt darüber. 0–7 Punkte: Ihre Beschwerden des unteren Harntraktes sind nach offizieller Einteilung der milden Symptomatik zugeordnet. Bitte sprechen Sie mit Ihrem Arzt darüber und wiederholen Sie diesen Test noch einmal nach 4 Wochen.