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STUDIE REFERIERT
Betablocker zeigen kardiovaskulär unabhängigen Nutzen bei COPD
Aus einer retrospektiven Kohortenstudie ging hervor, dass Betablocker als Zusatzmedikamente bei Patienten mit COPD das Risiko für die Mortalität und Exazerbationen ohne Beeinträchtigung der Lungenfunktion senken können. Dieser Benefit zeigte sich auch bei COPD-Patienten ohne kardiovaskuläre Erkrankungen oder Bluthochdruck.
BMJ
Kardiovaskuläre Erkrankungen und chronisch obstruktive Lungenerkrankungen (COPD) treten aufgrund des durch Rauchen verursachten Atheroskleroserisikos häufig gemeinsam auf. Trotz des erwiesenen Nutzens von Betablockern bei der Behandlung von Bluthochdruck, ischämischen Herzerkrankungen und Herzinsuffizienz zögern viele Ärzte mit der Verschreibung von Betablockern, wenn gleichzeitig eine COPD vorliegt. Früher wurden Betablocker bei Asthma wegen des Risikos für einen akuten Bronchospasmus vermieden. Diese potenziellen Risiken bestehen auch im Zusammenhang mit der COPD. Hier wurde bei Patienten, die nichtselektive
Merksätze
❖ Betablocker reduzieren Mortalität und COPDExazerbationen, wenn sie der Standardmedikation zugefügt werden.
❖ Der zusätzliche Nutzen zeigte sich unabhängig vom kardiovaskulären Benefit.
❖ Der Benefit der Betablocker war nicht mit einer Beeinträchtigung der Lungenfunktion verbunden.
Betablocker oder hohe Dosierungen kardioselektiver Betablocker erhalten hatten, eine Reduzierung des forcierten exspiratorischen Volumens (FEV1), eine erhöhte Hyperreaktivität der Atemwege und eine Blockierung des bronchodilatatorischen Ansprechens auf Betaagonisten beobachtet. Trotz dieser Beobachtungen gibt es jedoch immer mehr Beweise, dass kardioselektive Betablocker bei COPDPatienten keine Zunahme von Exazerbationen und keine Reduzierung der Atemwegsfunktion oder Verschlechterung der Lebensqualität bewirken. Die COPD ist eine sehr heterogene Erkrankung, und das Ausmass an Komorbiditäten scheint unabhängig vom Grad der Atemwegsobstruktion zu sein. Die Behandlung einer komorbiden kardiovaskulären Erkrankung ist von grosser Bedeutung, da die Herzinsuffizienz zu den häufigsten Todesursachen bei COPD-Patienten gehört. Bei COPD-Patienten mit kardiovaskulären Erkrankungen hat sich bereits gezeigt, dass mit Betablockern die Mortalität gesenkt werden kann. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, ob das verbesserte Überleben ausschliesslich auf die kardiovaskuläre Wirkung zurückzuführen ist. Neuere Ergebnisse wiesen darauf hin, dass Betablocker auch bei COPD-Patienten ohne kardiovaskuläre Erkrankungen die Überlebensraten verbessern können. Obwohl kardioselektive Betablocker so konzipiert sind, dass sie auf Beta-1Adrenorezeptoren abzielen und nicht auf Beta-2-Adrenorezeptoren in der Lunge und in anderen Körperregionen, sind sogenannt kardioselektive Betablocker wie Atenolol (Tenormin® und Generika) und Bisoprolol (Concor® und Generika) nur relativ selektiv und weisen bei therapeutischen Dosierungen einen signifikanten Beta-2-Antagonismus auf, allerdings in einem geringeren Ausmass als nichtselektive Betablocker wie Propranolol (Inderal® und Generika). Demzufolge erscheint es widersprüchlich, demselben Patien-
ten sowohl Betablocker als auch Betaagonisten zu verschreiben, auch wenn die Medikamente auf unterschiedliche Organe einwirken. Aktuelle Richtlinien zum Management der COPD empfehlen zur Reduzierung von Exazerbationen sowie zur Verbesserung der Symptome und der Lungenfunktion ein schrittweises Vorgehen mit lang wirksamen Bronchodilatatoren – inklusive Betaagonisten – und inhalierbaren Kortikosteroiden. Bisher konnte jedoch mit Kombinationen dieser Art (mit Ausnahme von Kombinationen mit Tiotropium) keine signifikante Reduzierung der Sterblichkeit erreicht werden. Schottische Wissenschaftler untersuchten jetzt den Nutzen von Betablockern im Management der COPD. Dazu evaluierten sie die Wechselwirkungen von Betablockern mit Betaagonisten und anderen COPD-Medikamenten und prüften, ob Betablocker die Sterblichkeit und stationäre Aufenthalte oder Exazerbationen reduzieren können, wenn sie der etablierten Medikation der COPD zugefügt werden.
Studiendurchführung Die Wissenschaftler führten eine retrospektive Kohortenstudie unter Nutzung der COPD-spezifischen Datenbank Tayside Respiratory Disease Information System (TARDIS) durch und erfassten die erforderlichen Daten aus dem Zeitraum von 2001 bis 2010. In die Studie wurden Patienten im Alter über 50 Jahre mit der Diagnose COPD eingeschlossen. Als wichtigste Studienendpunkte wurden die Hazard Ratios (HR) für die Gesamtmortalität, die Notfallanwendung von Kortikosteroiden und atemwegsbedingte Krankenhauseinweisungen mit Cox-Regressionsanalysen nach Adjustierung für beeinflussende Kovariaten errechnet. Als Kovariaten wurden kardiovaskulär und pulmonal bedingte stationäre Aufenthalte, Diabetes, Raucherstatus, Alter, Geschlecht, kardiale Medikationen (Aspirin, Statine, Kalziumkanalblocker, ACE-Hemmer) sowie das FEV1, die arterielle Sauerstoffsättigung in Ruhe und der Deprivationsindex berücksichtigt. Die Patienten wurden zunächst in Abhängigkeit einer Anwendung von Betablockern in zwei Gruppen unterteilt. Anschliessend wurden basierend auf
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KOMMENTAR
Dr. med. Hanspeter Anderhub, La Punt Chamues-ch
Generell Betablocker bei COPD – ein kleines Caveat!
COPD-Patienten sind meistens älter und polymorbid. Steht im Erscheinungsbild die Obstruktion mit ihren klassischen, asthmaähnlichen Beschwerden im Vordergrund, lassen sich die Probleme durch eine Intensivierung der antiobstruktiven Therapie meistens einfach lösen. Leider weisen solche Patienten aber häufig einen Mix von schlecht abgrenzbaren pulmonalen und kardialen Symptomen auf, eingebettet in eine Mêlée von alters- oder schwächebedingten Erscheinungen. Die Patienten sind trotz korrekter und ausgereizter antiobstruktiver und kardialer Behandlung zunehmend müde, belastungsintolerant, bewegungsunlustig, wollen und können nicht mehr. Als behandelnder Arzt steht man häufig vor einer Wand. Normalerweise verlässliche Untersuchungsparameter, wie zum Beispiel die Spirometrie, lassen uns im Stich.
Hier gilt es zu überlegen, ob nicht ein allenfalls von Kardiologen (mit ihrem bekannt fehlenden Sensorium für Obstruktives…) «eingeschmuggelter» Betablocker die Ursache allen Übels sein könnte. In meiner Erfahrung hat sich gezeigt, dass dem sehr häufig so ist. Die rezensierte Arbeit aus dem (BMJ) ist retrospektiv angelegt und malt ein zu rosafarbenes Bild der Betablocker im Zusammenhang mit Obstruktionen. Alle Betablocker werden in einen Topf geworfen und praktisch reingewaschen, wobei die sogenannten kardioselektiven völlig ungerechtfertigt sogar noch etwas mehr Pink abbekommen.
Alle Betablocker – mit einer einzigen Ausnahme – blockieren die Rezeptoren der Bronchien bei potenziell bewusst oder unbewusst (!) obstruktiven Patienten, wenn auch – zugegebenermassen – unterschiedlich stark. Also auch die kardioselektiven Betablocker! Alle neigen dazu, die bei diesen Patienten schlummernde bronchiale Hyperreaktivität anzukicken. Bronchien, die hyperreaktiv werden, schlagen nicht gleich mit klassischen Asthmasymtomen los. Ihre Art zu reklamieren, sind diffuse thorakale Druckgefühle, ein Nicht-Durchatmen-Können, schlecht definierte Engegefühle, Leistungsunlust und -verlust. Solche Beschwerden werden sehr häufig entschuldigend als «alters- und krankheitsbedingt» eingereiht. Spirometrische Veränderungen sind meistens minimal. Therapeutisch ist man ratlos.
Hier gilt vordringlich: Cherchez le betablocker! Auch ich bin von den Vorteilen der Betablocker bei der COPD überzeugt. Meiner Erfahrung nach gibt es aber nur einen Betablocker, der sicher «sicher» ist, perfekt betablockiert und bei dem ich praktisch noch nie eine obstruktive Nebenwirkung gesehen habe: das Nebivolol. Haben Sie also einen Patienten, der sich im oben erwähnten Symptomenmix bewegt und betablockiert ist, überlegen Sie zuerst, ob er den Betablocker tatsächlich braucht. Wenn ja, versuchen Sie einen 1:1-Wechsel auf Nebivolol. Aufblühende Patienten mit einem wieder einwandfreien Ansprechen auf die bisherige Behandlung werden Ihnen die Richtigkeit Ihrer Überlegungen dankbar aufzeigen!
der Stufen-Inhalationstherapie folgende Untergruppen gebildet: ❖ Gruppe 1: inhalative Kortikoste-
roide (ICS) ❖ Gruppe 2: inhalative Kortikoste-
roide + lang wirksame Betaagonisten (LABA; Salmeterol [Serevent®] oder Formoterol [Foradil®, Oxis®])
❖ Gruppe 3: Inhalative Kortikosteroide + lang wirksame Betaagonisten + Betablocker (BB)
❖ Gruppe 4: Inhalative Kortikosteroide + lang wirksame Betaagonisten + lang wirksames Antimuskarin (Tiotropium [Spiriva®])
❖ Gruppe 5: inhalative Kortikosteroide + lang wirksame Betaagonisten + Tiotropium (Tio) + Betablocker
❖ Gruppe 6: lang wirksame Betaagonisten oder Tiotropium (ohne inhalative Kortikosteroide)
❖ Gruppe 7: Betablocker (ohne inhalative Kortikosteroide)
❖ Gruppe 8: inhalative Kortikosteroide + Betablocker
❖ Gruppe 9: inhalative Kortikosteroide + Tiotropium
❖ Gruppe 10: Betablocker + lang wirksame Betaagonisten oder Tiotropium
❖ Kontrollgruppe: Inhalationstherapie mit kurz wirksamen Betaagonisten (Salbutamol [Ventolin®], Terbutalin [Bricanyl®]) oder kurz wirksames Antimuskarin (Ipratropium [Atrovent® und Generika]).
Ergebnisse In die Studie wurden 5977 Patienten eingeschlossen. Entsprechend der spirometrischen Klassifizierung nach der Global Initiative for Chronic Obstructive Lung Disease (GOLD) wurde bei der Patientenkohorte die folgende Verteilung der COPD-Stadien festgestellt: ❖ Stadium 1 (FEV1 90,8%, Standard-
abweichung [SD] 9,4): 897 Patienten (15%) ❖ Stadium 2 (FEV1 64,8%, SD 8,3): 3287 Patienten (55%) ❖ Stadium 3 (FEV1 40,9%, SD 5,6): 1494 Patienten (25%) ❖ Stadium 4 (FEV1 24,8%, SD 4,6): 299 Patienten (5%).
Das durchschnittliche Follow-up betrug 4,35 (SD 2,28) Jahre, und das Durchschnittsalter der Patienten lag zum Zeitpunkt der Diagnose bei 69,1 (SD 9,4) Jahren. Etwa die Hälfte der Patienten (51%) waren Männer. Bei 88 Prozent der verwendeten Betablocker handelte es sich um kardioselektive Wirkstoffe. Alle Patienten, inklusive der Kontrollgruppe, erhielten kurz wirksame Betaagonisten mit oder ohne Ipratropium. Das Hinzufügen eines Betablockers zu einem Therapieregime mit lang wirksamen Betaagonisten oder einem Antimuskarin war nicht mit einer schädigenden Auswirkung auf die Lunge verbunden. Darüber hinaus wurde in den mit Betablockern behandelten Gruppen auch keine signifikante Verschlechterung der Lungenfunktionswerte (FEV1) beobachtet.
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Charakteristika
Hazard ratio (log10 scale)
ICS ICS + BB ICS + LABA ICS + LABA + BB ICS + LABA + Tio ICS + LABA + Tio + BB LABA oder Tio (kein ICS) LABA oder Tio + BB BB (kein ICS) ICS + Tio Hospitalisation (kardiovaskulär) Hospitalisation (respiratorisch) Diabetes Pack-years Rauchen Alter bei COPD-Diagnose Geschlecht (männlich) FEV1 Sauerstoffsättigung in Ruhe
0,1
Besseres Überleben
1 10
Schlechteres Überleben
ICS: Inhalatives Kortikosteroid; BB: Betablocker; LABA: lang wirksamer Betaagonist; Tio: Tiotropium; FEV1: Einsekundenvolumen
Abbildung: Adjustierte Hazard Ratios (HR) für die Gesamtsterblichkeit im Vergleich zur Kontrollgruppe
In der Kaplan-Mayer-Analyse zeigte sich zunächst für die 819 mit Betablockern behandelten Patienten ein signifikant verbessertes Gesamtüberleben im Vergleich zu Patienten, die keine Betablocker erhalten hatten. Nach Adjustierung für die Kovariaten war die Anwendung von Betablockern mit einer Reduzierung der Mortalität um 22 Prozent (HR = 0,78) verbunden. Beim Vergleich kardioselektiver und nichtselektiver Betablocker fanden die Wissenschaftler keinen signifikanten Unterschied. Der
zusätzliche Nutzen der Betablocker bezüglich der Mortalität zeigte sich auf allen Behandlungsstufen der COPD. Auf jeder Behandlungsstufe waren die adjustierten HR-Werte in der jeweiligen Gruppe mit Betablocker niedriger als in der Vergleichsgruppe ohne Betablocker (Abbildung). Im Vergleich zur Kontrollgruppe betrug die adjustierte HR für die Gesamtmortalität 0,28 bei einer Behandlung mit ICS, LABA, Tio + BB. In der Gruppe ohne Betablocker lag die HR bei 0,43.
Ähnliche Trends eines zusätzlichen Benefits durch Betablocker wurden im Hinblick auf die Reduzierung notfallmässig eingesetzter Kortikosteroide und der Anzahl der respiratorisch bedingten stationären Aufenthalte beobachtet.
Diskussion
In der proportionalen Cox-Regres-
sionsanalyse zeigte sich der zusätzliche
Nutzen von Betablockern als unabhän-
gig von anderen kardiovaskulären
Medikationen und kardiovaskulären
Erkrankungen wie ischämischen Herz-
erkrankungen, einer Herzinsuffizienz
oder einer peripheren vaskulären Er-
krankung. Diese Ergebnisse weisen
darauf hin, dass Betablocker die Mor-
talität bei COPD zusätzlich zur Redu-
zierung des kardiovaskulären Risikos
senken können.
Die Ergebnisse dieser Untersuchung
sollten vorsichtig interpretiert werden,
da es sich um eine retrospektive Be-
obachtungsstudie handelt. So war bei-
spielsweise die jeweilige Indikation für
die Verschreibung von Betablockern
nicht bekannt. Um diese und andere
potenzielle Verzerrungen zu minimie-
ren, führten die Autoren Adjustierun-
gen für alle verfügbaren beeinflussen-
den Faktoren durch.
Da sich der zusätzliche Nutzen der
Betablocker auf das gesamte Spektrum
der abgestuften Inhalationstherapie er-
streckte und in der Studienkohorte
nicht zur Verschlechterung der Lungen-
funktion führte, unterstützt die Studie
nach Ansicht der Autoren die Anwen-
dung von Betablockern bei COPD-
Patienten.
❖
Petra Stölting
Short Philip M, Lipworth Samuel IW, Elder Douglas HJ et al.: Effect of betablockers in treatment of chronic obstructive pulmonary disease: a retrospective cohort study, BMJ 2011, 342: d2549.
Interessenkonflikte: keine deklariert
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