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FORTBILDUNG
Individualisierte Therapie des Typ-2-Diabetes
Mit oder gegen die Leitlinien?
Leitlinien orientieren sich an der Evidenz für verschiedene Therapieverfahren und bieten standardisierte Empfehlungen. Doch kann ein vereinfachter, einseitiger Therapiealgorithmus bei breiter Anwendung die individuelle Situation jedes einzelnen Patienten berücksichtigen? Gibt die evidenzbasierte Medizin überhaupt alle Antworten, die für eine optimale Ausgestaltung der personalisierten Medizin notwendig sind?
ROBERT A. RITZEL
Die personalisierte Medizin hält Einzug in alle medizinischen Fachbereiche. Gleichzeitig orientiert sich die klinische Praxis zunehmend an den standardisierten Empfehlungen evidenzbasierter Leitlinien. Um im klinischen Alltag bei der Therapie komplexer Erkrankungen eine hohe Versorgungsqualität zu erreichen, sollten jedoch beide Prinzipien berücksichtigt werden. Hintergrund für den wachsenden Stellenwert der personalisierten Medizin ist die Erkenntnis, dass in vielen Fachbereichen durch Anpassung von Diagnostik und Therapie an die individuelle Situation einzelner Patienten die Ergebnisqualität der medizinischen Versorgung verbessert werden kann. Katalysatoren der personalisierten Medizin sind das Verständnis molekularer Krankheitsmechanismen und die daraus resultierenden detailliert gezeichneten individuellen Krankheitsbilder.
Merksätze
❖ Erst die Kombination von Evidenz und personalisierter Medizin schöpft den Nutzen der unterschiedlichen Behandlungsprinzipien voll aus.
❖ Der Typ-2-Diabetes fordert ein multifaktorielles Therapiekonzept, bei dem unter anderen auch Fettstoffwechselstörungen und Hypertonie zu berücksichtigen sind.
❖ Der Nutzen einer Behandlung der Hyperglykämie ist kurz nach der Manifestation eines Diabetes mellitus am grössten.
Parallel dazu wird der evidenzbasierten Medizin immer grössere Bedeutung zugemessen, evidenzbasierte Leitlinien dienen zunehmend als Handlungsleitfaden für die praktische Medizin. Leitlinien werden von einer kleinen Expertengruppe erstellt, um durch Zusammenstellung der Evidenz in einem bestimmten Bereich standardisierte und kompakte Empfehlungen zu geben. Dies ermöglicht, eine grosse Zahl von Patienten gemäss der aktuellen Evidenz zu versorgen, auch ausserhalb von spezialisierten Zentren. Da Leitlinien, auf der einen Seite, eine Standardisierung der Diagnostik- und Therapieabläufe anstreben und personalisierte Medizin, auf der anderen Seite, die Leitlinienempfehlungen durch ein detailreiches Bild jedes Patienten modifiziert, entsteht ein Spannungsfeld, das alle Sektoren der medizinischen Versorgung gleichermassen betrifft.
Pathophysiologie des Typ-2-Diabetes Die Prävalenz des Typ-2-Diabetes nimmt weltweit trotz Präventionsprogrammen ungebremst zu. Ursache dafür ist die sehr heterogene Krankheitspathophysiologie (Abbildung 1) (1). Insulinresistenz ist der wichtigste Triggerfaktor, der bei Personen mit entsprechender genetischer Prädisposition je nach Ausprägungsgrad des relativen Insulinmangels früh, spät oder gar nicht zur Manifestation einer Hyperglykämie führt. Die häufigste Ursache für Insulinresistenz sind Übergewicht und Adipositas. Insbesondere viszerales Fettgewebe und ektopes Organfett sind gefährlich, subkutanes Fettgewebe scheint diesbezüglich weniger problematisch zu sein. Wichtig ist dabei, dass die Mehrzahl der Personen mit Adipositas beziehungsweise Insulinresistenz keinen Diabetes mellitus entwickelt. Als Anpassung an die abnehmende Insulinsensitivität erfolgt eine Expansion der Betazellen des endokrinen Pankreas (= Zunahme der Betazellmasse) (2). Über diesen Mechanismus gelingt es, den erhöhten Insulinbedarf über einen langen Zeitraum zu decken. Nur wenn durch genetische Veranlagung Funktionseinschränkungen im Bereich des Betazellstoffwechsels, der Betazellregeneration oder der Reaktion auf chronisch entzündliche Prozesse vorliegen, dann scheitern diese Anpassungsvorgänge, und es resultiert eine Hyperglykämie. In der Bauchspeicheldrüse liegt also, unter dem Einfluss des Triggerfaktors Insulinresistenz, die eigentliche Krankheitsursache. Im humanen Pankreasgewebe, aber auch in Tiermodellen (z.B. Primaten), lässt sich als Ausdruck einer defekten Adaptation an Insulinresistenz zum Beispiel eine Aktivierung von
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FORTBILDUNG
Betazellmasse
Insulinresistenz
Hyperglykämie
Adipositas Stoffwechselgesund
Second-Line-Therapie werden zum Beispiel alle auf dem Markt verfügbaren Therapieprinzipien gleichwertig aufgelistet) anhand der individuellen Situation des Patienten getroffen werden.
Kritisches Betazelldefizit von > -50%
Alter
Typ-2-Diabetes
Therapieprinzipien des Typ-2-Diabetes Grundsätzlich erfordert der Typ-2Diabetes ein multifaktorielles The-
rapiekonzept. Das heisst, es müssen
neben dem Glukosestoffwechsel auch
ER-Stress und programmierter Zelltod
eine arterielle Hypertonie, Störungen des Lipidstoffwechsels und die pro-
Abbildung 1: Typ-2-Diabetes – eine chronische Erkrankung. Hypothese des longitudinalen Verlaufs der Betazellmasse beim Menschen.
koagulatorische Situation behandelt werden. In der STENO-2-Studie konnte dadurch die kardiovaskuläre
Mortalität von 24 auf 11 Prozent re-
duziert werden (6).
zellulären Stressmechanismen und programmiertem Zelltod Die Behandlung der Hyperglykämie ist in diesem Kontext
(Apoptose) direkt nachweisen (3). Erst wenn ein Betazell- aber eine besondere Herausforderung, weil durch den chro-
defizit von rund 50 Prozent überschritten wird, tritt bei der nisch aktiven Krankheitsverlauf trotz Therapie nur selten
Mehrzahl von Personen mit Adipositas ein Diabetes mellitus eine langfristig stabile Krankheitssituation erreicht wird. Ein
auf (4). Das Problematische an den zugrunde liegenden Grund dafür ist, wie bereits oben erwähnt, dass die ver-
Krankheitsmechanismen ist, dass sie bereits vor Diabetes- fügbaren Therapieprinzipien nur teilweise in die komplexe
manifestation auftreten, chronisch progredient sind, durch Pathophysiologie des Diabetes mellitus eingreifen. Es ist
Hyperglykämie sogar noch beschleunigt werden und bis daher nicht überraschend, dass bei vielen Patienten die The-
heute therapeutisch nur unzureichend beeinflussbar sind.
rapieziele nicht erreicht werden.
Interventionsstudien zeigen aber, dass der Nutzen einer Be-
Problematik des Typ-2-Diabetes
handlung der Hyperglykämie bezüglich kardiovaskulärer
Neben dem chronisch progredienten Krankheitsverlauf Endpunkte kurz nach Manifestation eines Diabetes mellitus
ist die hohe Morbidität von Personen mit Typ-2-Diabetes am grössten ist (7). Im Einzelfall kann der Nutzen einer
ein weiteres gravierendes Problem. Makrovaskuläre, aber Therapie noch besser charakterisiert werden, wenn weitere
auch mikrovaskuläre Folgeerkrankungen sind hier die patientenspezifische Parameter berücksichtigt werden (z.B.
wesentlichen Ursachen. In den Todesursachenstatistiken kardiovaskuläre Vorerkrankungen, Bauchumfang, Qualität
werden die vordersten Plätze von Erkrankungen dominiert, der Stoffwechseleinstellung), also eine Inidividualisierung
die mechanistisch mit metabolischen Erkrankungen zu- der Therapie stattfindet.
mindest assoziiert sind: koronare Herzerkrankung und Vor diesem Hintergrund sollen die aktuell zur Behandlung
akuter Myokardinfarkt, Schlaganfall, Herzinsuffizienz, der Hyperglykämie zugelassenen und in den Leitlinien be-
kolorektales Karzinom, Mammakarzinom, hypertensive rücksichtigten Therapieprinzipien genau betrachtet werden.
Herzerkrankung.
Dies begründet auch die Einstufung von Diabetikern als kar- Insulin
diovaskuläre Hochrisikopatienten. Allerdings sind viele Pa- Chronologisch betrachtet ist Insulin das älteste Medikament
tienten auch von nicht vaskulären Erkrankungen betroffen. in der modernen antihyperglykämischen Therapie des Dia-
Eine kürzlich publizierte Studie hat den Beitrag von Krebs, betes mellitus. Die Markteinführung erfolgte in den Zwanzi-
Infektionserkrankungen, degenerativen Erkrankungen und gerjahren, in den ersten Jahrzehnten wurden überwiegend
anderen äusseren Einflüssen zum prämaturen Tod von Patien- Personen mit Typ-1-Diabetes behandelt. Zuletzt sind die Ent-
ten mit Typ-2-Diabetes auf etwa 40 Prozent quantifiziert (5). wicklungen im Bereich des Insulins von Modifikationen der
Therapieziele wie Gewichtskontrolle, niedriges Hypoglyk- Pharmakokinetik geprägt (lang wirksame bzw. kurz wirk-
ämierisiko und stabile Einstellung des Glukosestoffwechsels same Analoginsuline), die in erster Linie eine Verbesserung
sind also nicht nur für kardiovaskuläre Endpunkte relevant. der Lebensqualität der Patienten ermöglichen.
Im einseitigen Therapiealgorithmus (Abbildung 2) liefern die In den Leitlinien wird Insulin für alle Stadien eines Typ-2-
Leitlinien bezüglich dieser differenzialtherapeutischen Über- Diabetes ausser für die First-Line-Therapie empfohlen (Ab-
legungen keine konkrete Hilfe. Zentraler Kontrollparameter bildung 2). Pathophysiologisch gibt es einige Gründe, warum
ist das HbA1c, ohne dass die angegebenen Grenzwerte Insulin durchaus als ein frühes Therapieprinzip, zum Beispiel
(6,5 bzw. 7,5%) durch Endpunktstudien belegt wären. als Second-Line-Medikament, sinnvoll sein könnte: Reduk-
Dies begründet sich in erster Linie durch die lückenhafte tion von Betazellstress, Verbesserung der Endothelfunktion,
Datenlage. Therapeutische Entscheidungen müssen daher Stammzellrekrutierung. Auf der anderen Seite stehen bei den
innerhalb der offenen Formulierung der Leitlinien (für die unerwünschten Wirkungen an prominenter Stelle Gewichts-
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Diagnose Typ-2-Diabetes
Schulung, Ernährungstherapie, Bewegungstherapie, Metformin
Bei KI/UV für Metformin und HbA1c > 6,5 % nach 3 bis 6 Monaten unter nicht pharmakologischer Therapie: α-Glucosidase-Inhibitoren, Glitazone, Repaglinid, SH (alphabetische Listung)
HbA1c < 7,5% HbA1c ≥ 6,5% nach 3–6 Monaten HbA1c ≥ 7,5% OAD-Kombinationstherapie bzw. OAD/Exenatid-Kombinationstherapie ❖ Metformin/Acarbose ❖ Metformin/DPP-4-Inhibitor ❖ Metformin/Exenatid ❖ Metformin/Glitazon ❖ Metformin/SH ❖ Metformin/SHA (alphabetische Listung) HbA1c ≥ 6,5% nach 3–6 Monaten HbA1c ≥ 6,5% nach 3–6 Monaten OAD-Insulin-Kombinationstherapie ❖ OAD (insbes. Metformin) + Basalinsulin ❖ andere Option: OADF (insbes. Metformin) + prandiale Insulintherapie Intensivierung der Insulintherapie ❖ ICT ❖ CT, falls ICT nicht möglich/nicht indiziert ❖ Jeweils Kombination mit Metformin, falls keine KI/UV ❖ Weitere Option: Kombination mit Pioglitazon, falls keine KI/UV ❖ Weitere Option: CSU, falls Therapieziel mit ICT nicht erreicht wird Abbildung 2: Flussdiagramm zur antihyperglykämischen Therapie des Typ-2-Diabetes aus den evidenzbasierten Leitlinien der Deutschen Diabetes-Gesellschaft (Update 2008). zunahme und Hypoglykämien. Eine einfache, präzise und allgemein gültige Regelung, die auch noch durch Daten aus prospektiven Studien objektivierbar ist, wann und wie eine Insulintherapie indiziert ist, gibt es nicht. Die scheinbar pauschalen Leitlinienempfehlungen, die Indikation für eine Insulintherapie an den HbA1c-Wert zu knüpfen, sind in der Praxis unzureichend und müssen durch den klinischen Kontext jedes Patienten (z.B. BMI, Bauchumfang, Alter, Ernährungsgewohnheiten, Familienanamnese, Diabetesdauer, Beruf) ergänzt werden. Durch die unterschiedlichen Präparate und Spritzschemata ergibt sich eine Vielzahl von individuellen Therapiemöglichkeiten. Gerade in frühen Diabetesstadien scheint eine Insu- lintherapie (z.B. mit einem lang wirksamen Insulin) ein niedrigeres Risiko für Hypoglykämien und Gewichtszunahme zu beinhalten als in späteren Diabetesstadien. Bei einigen Patienten mit deutlicher Entgleisung des Glukosestoffwechsels bei Erstmanifestation eines Typ-2-Diabetes kann es sinnvoll sein, passager für einige Wochen eine Insulintherapie durchzuführen. Häufig gelingt es, im Anschluss an diese initiale Phase mit intensivierter Insulintherapie auf eine alleinige Behandlung mit oralen Antidiabetika umzustellen. Metformin Metformin, ein Biguanidderivat, wird seit den Fünfzigerjahren eingesetzt und ist eines der sichersten Medikamente 34 ARS MEDICI 1 ■ 2012 FORTBILDUNG Kasten: Im Text erwähnte Wirkstoffgruppen Applikation per os: Alpha-Glukosidase-Inhibitoren Acarbose (Glucobay®) Biguanide Metformin (Glucophage®, Glucovance® und Generika) Glitazone (Thiazolidindione) Pioglitazon (Actos®) Dipeptidyl-Peptidase-4-(DPP-4-)Hemmer Saxagliptin (Onglyza®) Sitagliptin (Januvia®, Xelevia®) Vildagliptin (Galvus®) Sulfonylharnstoffe Glibenclamid (Daonil® und Generika) Glibornurid (Glutril®) Gliclazid (Diamicron®) Glimepirid (Amaryl® und Generika) Sulfonylharnstoffanaloga (Glinide) Nateglinid (Starlix®) Repaglinid (Novonorm®) Applikation subkutan: Inkretinmimetika (GLP-1-Agonisten) Exenatid (Byetta®) Liraglutid (Victoza®) in der Therapie des Typ-2-Diabetes. Die früher gefürchtete Nebenwirkung einer Laktatazidose tritt in der Praxis praktisch nicht auf, dies haben wiederholte Metaanalysen gezeigt (1). Die Einführung einer retardierten Metforminformulierung könnte sinnvoll sein, um bei einigen Patienten unerwünschte gastrointestinale Wirkungen zu reduzieren und die Therapieadhärenz zu steigern. Da Metformin nicht zu Gewichtszunahme und Hypoglykämien führt sowie für die Monotherapie günstige Wirkungen auf kardiovaskuläre Endpunkte gezeigt wurden, ist es zu Recht das bevorzugte Medikament für die First-Line-Therapie. Mittlerweile wird es nicht nur bei Personen mit Adipositas, sondern auch bei normalgewichtigen Patienten eingesetzt. Eine Abstimmung der Therapie im Hinblick auf die individuelle Situation des Patienten ist, bei Beachtung der Kontraindikationen, im Vergleich zu anderen Antidiabetika einfacher, da bei guter Verträglichkeit die Mehrzahl der Patienten mit Metformin behandelt werden sollte. Sulfonylharnstoffe Sulfonylharnstoffe werden ebenfalls seit den Fünfzigerjahren für die Therapie des Typ-2-Diabetes benutzt. Die insulinotrope Wirkung der Sulfonylharnstoffe ist bei niedrigen Blutzuckerwerten erhalten, sodass Hypoglykämien, neben einer Gewichtszunahme, eine häufige Nebenwirkung sind und die Anwendung einschränken. Insgesamt führen Sulfonylharnstoffe leider zu einer Beschleunigung der Krankheitsprogres- sion, sodass im Vergleich mit anderen Antidiabetika schneller eine Therapieeskalation notwendig ist. Zudem induzieren Sulfonylharnstoffe möglicherweise kardiovaskuläre Ereignisse. Daher und aufgrund des ungünstigen Nebenwirkungsprofils wird der Einsatz von Sulfonylharnstoffen in Zukunft weiter abnehmen. Die Leitlinien sehen Sulfonylharnstoffe primär in der Second-Line-Therapie des Typ-2-Diabetes vor oder in der First-Line-Therapie, wenn Unverträglichkeiten gegen Metformin bestehen (Abbildung 2). Vor dem Hintergrund der zahlreichen unerwünschten Wirkungen ist bei Sulfonylharnstoffen eine sorgfältige Berücksichtigung der individuellen Therapiesituation wichtig. Die Leitlinien weisen im begleitenden Text durchaus detailliert auf diese Tatsachen hin. Da aber bei der praktischen Anwendung der Leitlinien bevorzugt der einseitige graphische Therapiealgorithmus benutzt wird (Abbildung 2), ist die notwendige Individualisierung der Therapie bei den Sulfonylharnstoffen häufig unzureichend. Bei Patienten mit Niereninsuffizienz können die Glinide als Sulfonylharnstoffanaloga mitunter eine nützliche Alternative sein. Alpha-Glukosidase-Inhibitoren Das Therapieprinzip der Alpha-Glukosidasehemmung wurde 1990 in die Therapie des Typ-2-Diabetes eingeführt. Das in Deutschland am häufigsten benutzte Molekül ist Acarbose. Wegen häufig auftretender Nebenwirkungen am Gastrointestinaltrakt (Flatulenz, Diarrhöen) spielt das Therapieprinzip in Deutschland mittlerweile aber nur noch eine untergeordnete Rolle. Wenn jedoch keine Nebenwirkungen auftreten, kann dieses Wirkprinzip die günstigen Wirkungen von Metformin hinsichtlich Körpergewicht und Hypoglykämierisiko in der Second-Line-Therapie fortsetzen. Praktisch kann dies zum Beispiel bei der Behandlung von Berufskraftfahrern von Bedeutung sein. In einer klinischen Studie im prädiabetischen Stadium wurden günstige Effekte auf die Inzidenz der arteriellen Hypertonie und auf kardiovaskuläre Endpunkte beschrieben (2). Es ist jedoch darauf zu achten, dass die Acarbose formell nur für die Monotherapie zugelassen ist und die Patienten bei Beginn einer Kombinationsbehandlung entsprechend aufgeklärt werden. Wechselwirkungen mit anderen Pharmaka können auftreten (z.B. Bioverfügbarkeit von Digoxin). Thiazolidindione Glitazone wirken grundsätzlich sehr gut, allerdings treten eine Reihe von potenziell gefährlichen Nebenwirkungen auf (z.B. Herzinsuffizienz, Gewichtszunahme, Knochenbrüche), die zuletzt zu einer erheblichen Einschränkung der therapeutischen Anwendung geführt haben. Rosiglitazon ist vor wenigen Monaten vom Markt genommen worden, da mehrere Metaanalysen Hinweise für ein erhöhtes kardiovaskuläres Risiko zeigten. Pioglitazon hat im Unterschied dazu eine eher günstige kardiovaskuläre Wirkung, möglicherweise durch eine Verbesserung des Lipidprofils. In bestimmten Situationen kann der Einsatz von Pioglitazon medizinisch sinnvoll sein, zum Beispiel wenn beruflich bedingt keine Hypoglykämien auftreten dürfen oder bei Patienten mit systemischer Glukokortikoidtherapie und instabilem Glukosestoffwechsel bei hohem Insulinbedarf. 36 ARS MEDICI 1 ■ 2012 FORTBILDUNG GLP-1-basierte Therapie Seit einigen Jahren sind Substanzen, deren Wirkung auf dem Prinzip der GLP-1-Rezeptor-Aktivierung und DPP4-Hemmung beruht, zur Behandlung des Typ-2-Diabetes zugelassen (Abbildung 2). Die Behandlung beruht auf einer Wirkungsverstärkung des Darmhormons Glucagon-like Peptide-1 (GLP-1), entweder durch eine direkte agonistische Wirkung am GLP-1-Rezeptor (= Inkretinmimetika, subkutane Anwendung) oder durch Inhibition des GLP-1-degradierenden Enzyms Dipeptidyl-Peptidase-4 (DPP-4, oral bioverfügbar) (3). Eine Besonderheit der GLP-1-Wirkung sind die Glukoseabhängigkeit und das niedrige Hypoglykämierisiko, das heisst, bei niedrigen Blutzuckerwerten (< 65 mg/dl) ist die insulinotrope Wirkung fast komplett aufgehoben. Die Gruppe der GLP-1-Rezeptor-Agonisten bewirkt zudem bei der Mehrheit der behandelten Patienten eine Gewichtsabnahme durch Verlangsamung der Magenentleerung und der Steigerung des Sättigungsgefühls. Dadurch erklärt sich wahrscheinlich auch eine etwas stärkere therapeutische Wirkung im Vergleich zu den DPP-4-Inhibitoren. Für die praktische Anwendung steht im Vordergrund, dass in der Second-Line-Therapie die Vorteile Gewichtskontrolle und niedriges Hypoglykämierisiko über das Metformin hinaus erhalten bleiben können. Diese beiden Eigenschaften ermöglichen eine wesentlich detailliertere Gestaltung einer personalisierten Diabetestherapie, da häufig bereits in relativ frühen Diabetesstadien Kombinationstherapien erforderlich sind und die Sulfonylharnstoffe als einzige echte Alternative der Second-Line-Therapie (α-Glukosidase-Hemmstoffe und Glitazone nur sehr limitiert einsetzbar; s.o.) Gewichtszunahme, das Auftreten von Hypoglykämien und die Krankheitsprogression fördern. Das heisst, Patienten mit Adipositas und/oder beruflicher Notwendigkeit zur Vermeidung von Hypoglykämien sind typische Beispiele für Indikationen der GLP-1-basierten Therapieformen. Grosse kardiovaskuläre Endpunktstudien sind sowohl für die DPP-4-Inhibitoren als auch für die GLP-1-Aktivatoren initiiert, Ergebnisse werden aber erst in einigen Jahren vorliegen. Von dem Ergebnis dieser Endpunktstudien und der langfristigen Sicherheit der Medikamente wird es letztlich abhängen, welchen Stellenwert die GLP-1-basierte Therapie des Typ-2-Diabetes einnehmen wird. Was das Nebenwirkungsprofil angeht, so haben DPP-4-Hemmer in Studien eine sehr gute Verträglichkeit gezeigt. Inkretinmimetika sind häufig mit gastrointestinalen Nebenwirkungen assoziiert, leichte bis moderate Übelkeit tritt bei bis zu 30 bis 40 Prozent der behandelten Patienten auf. Meist sind die Symptome nur von kurzer Dauer und klingen nach wenigen Wochen ab, bei etwa 2 bis 5 Prozent der Patienten kann die Therapie aber wegen anhaltender gastrointestinaler Symptome (Völlegefühl, Übelkeit, Vomitus) nicht fortgesetzt werden. Schlussfolgerungen Evidenzbasierte Leitlinien und die personalisierte Medizin sind zwei zentrale Prinzipien bei der Behandlung des Typ-2- Diabetes. Da Leitlinien als standardisierte Therapieempfeh- lungen die individuelle Situation der einzelnen Patienten nur unzureichend berücksichtigen können, ist die Personalisie- rung evidenzbasierter Medizin ein wichtiger Inhalt prak- tischer Diabetologie im Alltag. Die Evidenz rechtfertigt dabei in frühen Krankheitsstadien eine normnahe Einstellung des Glukosestoffwechsels, gerade bei Patienten ohne kardio- vaskuläre Vorerkrankungen. In späteren Krankheitsstadien steigen die Anforderungen an die personalisierte Medizin: Neben dem kardiovaskulären Risikoprofil müssen zum Beispiel Körpergewicht, Beruf, Hypoglykämierisiko, Fett- verteilungsmuster, Alter, Ernährungsgewohnheiten und Familienanamnese noch stärker berücksichtigt werden. Da eine Diabetestherapie meist über mehrere Jahrzehnte erfor- derlich ist, muss die langfristige Sicherheit aller Therapie- prinzipien gewährleistet sein. ❖ Prof. Dr. med. Robert Ritzel Klinik für Endokrinologie, Diabetologie und Suchtmedizin – Nuklearmedizin Klinikum Schwabing Städtisches Klinikum München D-80804 München Interessenkonflikte: Der Autor hat als Referent Honorare von folgenden Firmen erhalten: Astra Zeneca, Lilly, MSD, Novartis, Novo Nordisk, SanofiAventis. Literatur unter www.allgemeinarzt-online.de/downloads Diese Arbeit erschien zuerst in «Der Allgemeinarzt» 16/2011. Die Übernahme erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Verlag und Autor. ARS MEDICI 1 ■ 2012 37