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STUDIE REFERIERT
Axiale Spondylarthritis: Wonach soll man fragen?
Zur Diagnostik bei entzündlichen Rückenschmerzen in der Grundversorgung
Entzündliche Erkrankungen des Achsenskeletts werden oft erst mit langer Verzögerung diagnostiziert. Deutsche Orthopäden haben untersucht, welche klinischen Parameter es in der Praxis am ehesten erlauben, Patienten mit axialer Spondylarthritis zu erkennen.
ANNALS OF RHEUMATIC DISEASES
ferenzierter SpA gesprochen; fehlen Strukturveränderungen an Iliosakralgelenken oder Wirbelsäule, handelt es sich um eine nichtradiografische axiale SpA (nrSpA). Nicht alle Patienten mit SpA schreiten zum Bild der AS fort. Leitsymptom für die Diagnose ist der entzündliche Rückenschmerz, der allerdings nicht einheitlich definiert wird. Die vorliegende Studie wollte verschiedene für entzündlichen Rückenschmerz bei SpA diagnostische klinische Kriterien prüfen.
Unter dem Begriff Spondylarthritis (SpA) wird eine heterogene Gruppe rheumatischer Erkrankungen zusammengefasst, die durch entzündlichen Rückenschmerz klinisch charakterisiert sind. Dazu gehören Patienten mit Wirbelsäulensymptomen (axiale SpA) oder mit Befall peripherer Gelenke (periphere SpA), mit ankylosierender Spondylitis (AS) als Prototyp einer axialen SpA sowie SpA bei Psoriasis, entzündlichen Darmerkrankungen (M. Crohn, Colitis ulcerosa) oder mit enteralen oder urogenitalen Infektionen als Trigger (reaktive Arthritiden). Lassen sich keine solchen Begleitumstände eruieren, wird oft von undif-
Merksätze
❖ Diese 5 anamnestischen Hinweise sind für die Diagnose von axialen Spondylarthritiden am besten geeignet: – Alter bei Beginn ≤ 35 Jahre – Besserung durch Bewegung – Besserung durch nichtsteroidale Antirheumatika – Aufwachen wegen Rückenschmerzen in der zweiten Nachthälfte – alternierende Gesässschmerzen
❖ Ein einzelner Hinweis allein ist nicht prädiktiv, aber das Vorhandensein von ≥ 3 positiven Antworten bietet gute Sensitivität und Spezifität.
Methodik 143 Orthopäden in privater Praxis und 36 Rheumatologen nahmen an der Studie teil. Die Orthopäden erhoben die klinischen Symptome und Befunde bei 1074 konsekutiven Patienten aus der Grundversorgung zwischen 16 und 45 Jahren mit chronischen Rückenschmerzen (> 2 Monate, < 10 Jahre). Bei klinischem SpA-Verdacht erfolgten durch ein unabhängiges Institut eine Stratifizierung und Randomisierung sowie die Überweisung an die Rheumatologen. Der klinische Verdacht gründete auf 4 Erkennungskriterien: ❖ Morgensteifigkeit > 30 Minuten ❖ Besserung des Schmerzes durch Be-
wegung, aber nicht durch Ruhe ❖ Aufwachen wegen Rückenschmer-
zen in der zweiten Nachthälfte ❖ Besserung innert 48 Stunden mit Ein-
nahme von nichtsteroidalen Antirheumatika (NSAR)
Sekundäre Kriterien waren alternierende Gesässschmerzen, positive Familienanamnese für SpA und nicht spinale Krankheitszeichen wie Arthritis, Enthesitis, Psoriasis, entzündliche Darmerkrankung in der persönlichen Anamnese oder positiver HLA-B27-Status.
Resultate Von ursprünglich 1074 Patienten standen 950 für die Analyse zur Verfügung. 670 wurden zum Rheumatologen überwiesen, 334 leisteten dem Folge,
und von 322 lagen die vollständigen Datensets vor. Charakteristika der an Rheumatologen überwiesenen Patienten waren: mittleres Alter 36 ± 7,9 Jahre, 49,4 Prozent Männer, Alter bei Symptombeginn 32,2 ± 7,4 Jahre und mittlere Symptomdauer 44,2 ± 38,1 Monate. Von den 322 Patienten erhielten 35,1 Prozent die Diagnose einer axialen SpA (n = 113). Von diesen 113 hatten 66 eine nrSpA und 55 eine undifferenzierte SpA. Daneben wurden wenige Fälle mit Psoriasis-assoziierter SpA (n = 3), reaktiver SpA (n = 3) und SpA bei entzündlicher Darmerkrankung (n=3) gefunden. Bei 47 Patienten (14,6%) lautete die Diagnose definitive AS. In der multiplen Regressionsanalyse erwiesen sich folgende 5 Kriterien als für die Diagnose einer axialen SpA am relevantesten: ❖ Alter bei Symptombeginn ≤ 35 Jahre ❖ Besserung des Schmerzes durch
Bewegung ❖ Aufwachen wegen Rückenschmer-
zen in der zweiten Nachthälfte ❖ Besserung durch NSAR ❖ alternierende Gesässschmerzen
Für die Diagnose einer AS waren folgende 4 Parameter immer relevant, während dies für die nrSpA nicht der Fall war: ❖ Besserung des Schmerzes durch
Bewegung, aber nicht durch Ruhe ❖ Aufwachen wegen Rückenschmer-
zen in der zweiten Nachthälfte ❖ Besserung durch NSAR innert
48 Stunden ❖ alternierende Gesässschmerzen
Für die Gruppe mit nicht radiografischer SpA waren hingegen diese Parameter relevant: ❖ Alter bei Symptombeginn ≤ 35 Jahre ❖ Enthesitis-Anamnese ❖ Psoriasis-Anamnese
Im Gegensatz zu diesen positiven Hinweisen erwiesen sich in der Analyse folgende Kriterien nicht als diagnostisch relevant: männliches Geschlecht, Dauer der chronischen Rückenschmerzen > 30 Monate, positive Familienanamnese für SpA, Uveitis-Anamnese, Anamnese von entzündlichen Darmerkrankungen sowie Morgensteifigkeit > 30 Minuten. Diskussion
38 ARS MEDICI 1 ■ 2012
STUDIE REFERIERT
KOMMENTAR
Dr. med. Luzi Dubs, Winterthur
Die Berechnung des Informationsgewinns durch die Testfragen
Aus der Perspektive der Nutzenforschung bietet diese Studie einige interessante Aspekte. Es handelt sich um eine diagnostische Studie, welche den Stellenwert verschiedener anamnestischer Testfragen in der Frühdiagnostik einer entzündlichen Wirbelsäulenerkrankung hinsichtlich ihres Informationsgewinns untersucht. Speziell geht es um die frühzeitige Erfassung einer ankylosierenden Spondylitis (AS).
Zunächst gilt es in Erinnerung zu rufen, wie eine Krankheit überhaupt definiert wird. Sie wird durch denjenigen Test beschrieben, welcher der Wahrheit des gesuchten Krankseins am nächsten kommt. Oftmals sind ganze Testserien notwendig, um über genügend Sicherheit zu verfügen, die Krankheit zu erfassen. Dieses Sammeln von Indizien («Sherlock-HolmesMethode») mit positiven und negativen Testresultaten sollte am Schluss zu einer nahezu hundertprozentigen Wahrscheinlichkeit führen, dass die gesuchte Krankheit wirklich vorliegt. Gelegentlich gelingt es erst dem Pathologen, die Krankheit sicher nachzuweisen. Bei der Diagnose einer axialen SpA und einer AS wird im Artikel darauf hingewiesen, dass letztlich die Routine des Rheumatologen ausschlaggebend ist, das Krankheitsbild zu erfassen. Umso wertvoller ist diese Studie, welche den Stellenwert der einzelnen Tests anhand einer sorgfältig selektionierten Population mit chronischen Rückenschmerzen untersucht, auch wenn einige Zahlenangaben in ihrer Grössenordnung diskutabel sind.
Die wichtigsten Angaben über die Krankheitswahrscheinlichkeiten einerseits und über die Testeigenschaften (Sensitivität, Spezifität, positive und negative Likelihood-Ratio) anderseits sind erfreulicherweise vorhanden, sodass der Informationsgewinn durch die Tests (nachträglich) berechnet werden kann. Leider haben sich die Autoren nicht getraut, die wichtigsten Angaben über die Krankheitswahrscheinlichkeiten zu errechnen oder gar anzugeben. Gemäss dem Bayesschen Theorem wurden die grossen Vorteile der Multiplikation von den verschiedenen Likelihood-Ratios (LR) nicht zur Auswertung genutzt, was hiermit nachgeholt werden soll. Für solche, welche die Methodik in Kursen bereits einmal gelernt haben, sei diese Arbeit als gutes Übungsbeispiel empfohlen.
Aus den vollständigen Daten von 332 Patienten wurde letztlich bei 113 eine axiale SpA diagno-
stiziert (Krankheitswahrscheinlichkeit 35%), bei 47 eine AS (14,6%). Die positive Likelihood-Ratio
gibt Auskunft über die Richtig-Positiv-Rate, geteilt durch die Falsch-Positiv-Rate. Werte von 10
oder mehr stellen einen guten Test dar, das heisst, die Richtig-Positiv-Rate ist 10-mal grösser
als die Falsch-Positiv-Rate. Die fünf genannten Tests für die Diagnose einer axialen SpA haben
je für sich allein eine LR von 1,3 bis 2,15, in ihrer Multiplikation kommen sie auf einen Wert von
9,73. Dies führt mit Hilfe des Fagan-Nomogramms bestenfalls zu einem Informationsgewinn,
dass die Krankheit wirklich vorliegt, von ursprünglich 35 Prozent auf 85 Prozent, wenn alle fünf
Tests positiv sind. Es bleibt also noch eine diagnostische Restunsicherheit von 15 Prozent. Falls
der HLAB27-Test mit einer LR von 3,9 mit einbezogen wird, erreicht man immerhin etwa 96
Prozent Wahrscheinlichkeit, dass die Krankheit vorliegt. Bei der AS sieht es etwas weniger im-
posant aus, da die Krankheitswahrscheinlichkeit vor den Tests mit 14,6 Prozent tiefer liegt.
Durch Multiplikation der vier wichtigsten Tests mit einer LR von 10,14 erreicht man etwa 62 Pro-
zent, mit dem positiven HLAB27 etwa 87 Prozent Krankheitswahrscheinlichkeit. Eine sichere
Frühdiagnose ist demzufolge bei weitem nicht sicher. Dennoch kann man mit den von den Au-
toren angegebenen klinischen Fragen für den Grundversorger bereits ein recht gutes Scree-
ning anbieten, welches ihm erlaubt, diejenigen Fälle zu erkennen, welche eine Überweisung
an den Rheumatologen rechtfertigen.
❖
«Die Ergebnisse dieser Studie zeigen,
dass einzelne spezifische Fragen bezüg-
lich SpA in der Allgemeinpraxis für die
Diagnose von Patienten mit axialer
SpA keinen Wert haben und spezifische
Kombinationen viel hilfreicher sind»,
kommentieren die Autoren. Wichtig
seien auch die Unterschiede in der dia-
gnostischen Performance der Fragen
zum entzündlichen Rückenschmerz
zwischen Patienten mit etablierter an-
kylosierender Spondylitis und mit nicht
radiografischer SpA.
Die Resultate stimmen mit früheren
Studien überein, die ebenfalls für ein-
zelne Fragen eine geringe diagnostische
Ausbeute gezeigt hatten, während die
Kombination spezifischer Fragen in der
Anamnese eine höhere Treffsicherheit
hatte.
Ausserdem betonen die Autoren, dass
diese Erkenntnisse bei einer präspezifi-
zierten Population von relativ jungen
Patienten gewonnen wurden und nicht
in der Allgemeinbevölkerung. Dies lag
aber in der Stossrichtung der Unter-
suchung, die diagnostische Werkzeuge
zur frühen Diagnose der axialen SpA
bereitstellen wollte.
Als eher überraschend heben die Auto-
ren hervor, dass das «klassische» Zei-
chen für entzündlichen Schmerz, die
Morgensteifigkeit, hier nicht zu den
führenden Kriterien gehörte. Demge-
genüber hat das Vorliegen von alternie-
renden Gesässschmerzen bei eher ge-
ringer Sensitivität eine hohe Spezifität.
Auch hier ist aber die Kombination mit
weiteren positiven Zeichen ausschlag-
gebend.
Das gute Ansprechen auf NSAR ist
heute als Diagnosekriterium bei axialer
SpA zunehmend etabliert. Allerdings
hatten auch in dieser Patientenkohorte
nicht alle zuvor schon NSAR angewen-
det, man muss diese Frage also sorgfäl-
tig stellen.
❖
Halid Bas
Braun A. et al.: Identifying patients with axial spondyloarthritis in primary care: how useful are items indicative of inflammatory back pain? Ann Rheum Dis 2011; 70: 1782–1787. doi: 10.1136/ard.2011.161167.
Interessenkonflikte: keine
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